Vorschläge an die Volkskammer
Offener Brief der Abgeordnetengruppe und des Beratungsaktivs der Handels-und Gewerbekammer Berlin
8.11.89
Wir, die Mitglieder der Handels-und Gewerbekammer von Berlin, in Vertretung von 3 200 Betrieben mit etwa 10 000 Beschäftigten, wenden uns öffentlich an die Volkskammer mit folgendem Aufruf:
Wir fordern sofort eine neue Handels- und Gewerbepolitik! Die bisherige Politik ist gekennzeichnet durch eine Benachteiligung der Arbeit unserer Beschäftigten - durch schlechtere Bezahlung, die sich diskriminierend auf unsere Arbeit auswirkt; des weiteren durch eine vollkommen ungenügende Bereitstellung von Grund-und Arbeitsmitteln zur erweiterten Reproduktion von Klein- und Mittelbetrieben. Dies hat dazu geführt, dass auch unsere Betriebe nur von der Substanz leben.
Weiterhin ist die gleichberechtigte Bereitstellung von Waren nicht gesichert.
Im Ergebnis dieser Politik haben auch unsere Töchter, unsere Söhne, unsere Bekannten und unsere Freunde dieses Land verlassen und große Lücken hinterlassen, die wir durch härteste Arbeit kaum wieder schließen können.
Wir erwarten deshalb sofort eine konsequente Abkehr von dieser Politik der ungerechtfertigten Unterschiede zwischen den Eigentumsformen.
Zur sofortigen Lösung der angestauten Probleme fordern wir von der Regierung und dem FDGB:
- für unsere Angestellten gemeinsam dafür zu sorgen, dass für gleiche Arbeit auch gleiches Geld gezahlt werden kann;
- eine leistungsstimulierende Einkommensbesteuerung der privaten Handels- und Gewerbebetriebe.
Zur Entwicklung der privaten Handels- und Gewerbetätigkeit im Rahmen der bevorstehenden Wirtschaftsreform fordern wir:
- die Schaffung einer zentralen, unabhängigen Handels- und Gewerbekammer.
Die demokratische Entwicklung in diesem Organ wird durch ein gewähltes Präsidium aus allen Bezirken der DDR gesichert. Der unabhängig gewählte Präsident erhält neue Aufgaben und Vollmachten im Rahmen eines zu erarbeitenden Statuts. Dabei muss gesichert werden, dass die Interessen der Handels- und Gewerbetreibenden gegenüber den zentralen Staatsorganen und dem FDGB vertreten werden.
- Im Rahmen dieser neuen Handels- und Gewerbepolitik ist zu sichern:
- die ungerechtfertigte Monopolstellung der Kombinate und Betriebe auf allen Gebieten zu beseitigen.
In diesem Rahmen fordern wir die Neuzulassung von Gewerbebetrieben, u. a. auf folgenden Gebieten:
1. Wirtschaftsberatung und Steuerrecht durch Zulassung von Steuerberatern,
2. Zulassung von Gebrauchswerbern zur Erhöhung der Verkaufskultur,
3. Zulassung von Autobahnraststätten als Wettbewerbspartner der Mitropa,
4. Zulassung von privaten Reisebüros zur Erschließung des individuellen Tourismus. Wir sehen hier eine große Möglichkeit zur Erschließung von Valutamitteln für Reisen der DDR-Bürger ins Ausland.
5. Zulassung von Klein- und Mittelbetrieben auf dem Gebiet der Konsumgüterproduktion zur Erschließung von Initiativen und Reserven zur bedarfsgerechten Versorgung.
Alle diese Betriebe müssen die Möglichkeit der direkten Kapitalinanspruchnahme und der direkten Zusammenarbeit mit ausländischen Partnern erhalten.
Alle diese Vorschläge und Vorstellungen dienen ausschließlich der Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung. Darüber hinaus stellen wir diesen offenen Brief unseren Berufskollegen in allen Bezirken zur Diskussion.
(Namen werden weggelassen)
Der Morgen, Zentralorgan der LDPD, Sa. 11.11.1989