Hinweise auf Stasi-Tätigkeit sind ernsthaftes Problem
NEUE ZEIT sprach mit Werner Fischer
Der Bevollmächtigte der DDR-Regierung zur Auflösung des ehemaligen Amtes für nationale Sicherheit, Werner Fischer, geht davon aus, dass mehrere Abgeordnete der neugewählten DDR-Volkskammer jahrelang "informelle [inoffizielle] Mitarbeiter" des früheren Staatssicherheitsdienstes der DDR waren und heute zum Teil für den Bundesnachrichtendienst (BND) arbeiten. Dem Kölner "EXPRESS" (gestrige Ausgabe) sagte Fischer, die Hinweise auf die frühere Tätigkeit der heutigen Volkskammerabgeordneten für den Staatssicherheitsdienst seien "so ernst zu nehmen, dass man sie nicht ignorieren kann." Bei den Hinweisen handele es sich um „Briefe von Mitarbeitern der ehemaligen Stasi". Zu den Hinweisgebern gehöre "auch ein Mann, der uns im Fall Schnur informiert hat. Alles, was darin zu Schnur stand, hat sich als richtig erwiesen." Fälle wie der von Schnur sind nach Fischers Ansicht "nicht nur in der Allianz für Deutschland, sondern auch in der SPD, in der PDS, möglicherweise auch im "Bündnis 90" möglich."
Noch in dieser Woche soll nach Informationen des "EXPRESS" Konsistorialpräsident Manfred Stolpe nach Bonn reisen und Bundespräsident Richard von Weizsäcker über die Vorwürfe unterrichten.
Zu diesen Vorgängen befragte die NEUE ZEIT Werner Fischer.
Herr Fischer, der Gang der Dinge erinnert an Zeiten, in denen man über die West-Medien gehen musste, um in der DDR öffentlichkeitswirksam zu werden. Warum erste Informationen über den EXPRESS?
Das ist der reine Zufall, weil gestern Kollegen vom EXPRESS vor meiner Tür standen, die Informationen, die ich hatte, ganz frisch waren und ich in jedem Fall an Öffentlichkeit interessiert bin. Im übrigen haben die DDR-Medien bisher kaum Interesse an unserer Arbeit gezeigt.
Warum gehen Sie. erst nach der Wahl mit ihren Informationen an die Öffentlichkeit? Nun besteht doch die Gefahr, dass eine Regierung in Misskredit gebracht wird, bevor sie überhaupt ihre Amtsgeschäfte übernommen hat?
Wir haben die überwiegend mündlichen Informationen, die wir vor den Wahlen bekommen haben, erst einmal ignoriert, weil wir sie für ein wahltaktisches Manöver hielten und nicht unnötig Unruhe unter die Bevölkerung bringen wollten. Ich gebe natürlich zu, dass es ein Problem ist, mit solchen Informationen genau zum richtigen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch nun will die Bevölkerung natürlich wissen, wer wer ist, und wir stehen unter Handlungsdruck. Wir müssen Klarheit haben, bevor sich die neuen Volkskammerabgeordneten auf ihre Immunität berufen können. Schließlich brauchen wir eine Volksvertretung, die frei von Verdächtigungen ist.
Das Ergebnis unserer Nachprüfungen soll öffentlich kontrollierbar sein; nichts soll verschwiegen werden, wie es in der Vergangenheit so oft der Fall war. Die Folge könnte nur politische Instabilität sein.
Wie zuverlässig sind die Informationen, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter nun für den BND tätig sind? Solche Fakten werden ja im allgemeinen nicht auf dem Marktplatz gehandelt.
Was heißt zuverlässig?! Wir verfügen über eine Fülle von Informationen, die sich gegenseitig ergänzen.
Alles in allem lassen sie Dimensionen ahnen, die uns von der Ernsthaftigkeit des Problems überzeugt haben.
Wie soll es nun weitergehen?
Wie ich schon sagte, wir müssen schnell handeln. Ich denke, dass wir ein unabhängiges Organ bitten, sich der Überprüfung der Vorwürfe anzunehmen. Dieses Gremium sollte aus Vertretern der Kirche bestehen.
Ist die Reise von Konsistorialpräsident Stolpe nach Bonn ein Ergebnis dieser Überlegungen?
Ja, denn ich habe mich gestern in dieser Angelegenheit an Bischof Forck gewandt.
Die Fragen stellte Carola Schütze
Auch der amtierende Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Rainer Eppelmann, hat Informationen, dass neugewählte Abgeordnete der Volkskammer für den ehemaligen Staatssicherheitsdienst gearbeitet haben. Der "Bild"-Zeitung sagte Eppelmann, 40 der 56 Abgeordneten des Wahlbezirks Erfurt stünden in den Stasi-Akten. Vier von ihnen hätten tatsächlich als Spitzel gearbeitet. Eppelmann sprach sich dafür aus, die Akten aller 400 neuen Volkskammerabgeordneten offenzulegen. Dazu müsse der noch amtierende Ministerrat unter Hans Modrow grünes Licht geben. Erste Gespräche darüber habe es bereits gegeben.
Die Offenlegung der Akten aller 400 neugewählten Volkskammerabgeordneten liege nach Aussage des stellvertretenden Regierungssprechers, Ralf Bachmann, allein in der Entscheidung der neuen Volkskammer.
Neue Zeit, Do. 22.03.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 69