Immunschwäche

Warum viele Frauen in der DDR konservativ gewählt haben

Ohne Zweifel müssen am Sonntag auch sehr viele Frauen in der DDR konservativ gewählt haben. Waren die Befürchtungen der Unabhängigen Frauen vor Sozialabbau und Frauenarbeitslosigkeit, vor der Streichung von Kindergärten und Horts, vor der Wiedereinführung des Paragraphen 218 bei einem einig Großvaterland übertrieben? Oder hatten wir zu grobe Hoffnungen in das Protestpotential der Frauen gesetzt? Haben wir uns in unseren selbstbewussten und ökonomisch unabhängigen Frauen getäuscht?

Dieser unerwartete Ausgang der Wahl gibt Zeugnis über das geschwundene Selbstvertrauen der DDR-Bürgerinnen in die eigene Kraft. Seit der Öffnung der Grenzen haben wir aktiv unsere eigene Selbstentwertung mit betrieben. Der enorme soziale Druck, der aufgrund der sich verschlechternden Lebensverhältnisse, des ewigen Mangels an allein und des fortschreitenden Verfalls der Städte und der Umwelt ständig wuchs, wurde durch den aufgedrängten permanenten Vergleich mit der Bundesrepublik noch verstärkt. Die Brüder und Schwestern von drüben, die durch unsere Städte lustwandelten - die Taschen voller Mark, als sei es wertloses Spielgeld - trugen das Ihre dazu bei. Gegen die allmählich eindringenden, völlig überteuerten Symbole der westlichen Wohlstandsgesellschaft waren Frauen eben sowenig immun wie Männer. So ist auch der daraus folgende logische Wunsch nach einem schnellen Anschluss augenscheinlich keine reine Männersache.

Dennoch denke ich, dass die Frauen unsere Ängste durchaus teilen. Aber weder der Unabhängige Frauenverband noch die anderen Bürgerbewegungen und auch nicht die SPD haben ihnen diese Ängste nehmen können. Offenbar sehen sie gerade in den konservativen Politikern, den Männern von der CDU, die Garanten für eine gesicherte Zukunft, und nicht in emanzipierten Politikerinnen.

Nach der jahrzehntelangen Abwertung weiblicher Leistungsfähigkeit ist das nicht so verwunderlich. Hier schlägt die konservative Sozialpolitik der letzten Jahre voll gegen uns durch. Frauen haben gelernt, danke zu sagen. wenn sich die Partei mal wieder ein sozialpolitisches Geschenk für "unsre Muttis" einfallen ließ. Sie waren aufgehoben und geborgen in der vormundschaftlichen Obhut von Vater Staat. Da werden sie sich auch jetzt, in einer Situation der völligen Verunsicherung, wieder vertrauensvoll den starken neuen Männern zuwenden.

Trotzdem setzen wir auf diese vielfach missbrauchten Frauen unsere Hoffnung. Darauf. dass sie sich ihre Rechte und Freiheiten wie ihre ökonomische Unabhängigkeit und die Selbstbestimmung über ihren Körper nicht widerspruchslos nehmen lassen. Und vielleicht auch darauf, dass sie eines Tages mit uns gemeinsam Widerstände gegen die männliche Übermacht entwickeln werden.

Ina Merkel

Die Autorin ist Mitbegründerin des Unabhängigen Frauenverbandes in der DDR

die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Mi. 21.03.1990

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