Für eine Erneuerung der Akademie auf basisdemokratischem Weg
Interview mit Ralf Köchert, Sprecher der "Initiativgruppe Wissenschaft"
An der Akademie der Wissenschaften der DDR soll ein Rat der Institutsvertreter gewählt werden. Aufgerufen dazu hat die "Initiativgruppe Wissenschaft". Sie ist auch Organisator einer programmatischen Kundgebung, die am 9. Dezember im Berliner Lustgarten stattfinden wird. Der Sprecher der Initiativgruppe, Ralf Köchert vom Zentralinstitut für Elektronenphysik, gewährte ADN das nachfolgende Interview.
Was verbirgt sich hinter "Initiativgruppe Wissenschaft", und was will diese bewegen?
Die Initiativgruppe wurde von Vertretern der Zentralinstitute für Organische Chemie, Elektronenphysik, Physikalische Chemie, Optik und Spektroskopie sowie dem Wissenschaftlichen Informationszentrum gebildet. Sie tritt für eine Erneuerung der Akademie auf basisdemokratischem Weg ein.
Was soll erneuert werden?
Wir vertreten die Position, dass keine politische Organisation, also auch nicht SED und FDGB, in Sach- und Personalfragen der Akademie hineinreden darf. Über die Besetzung der Institutsleitungen sollte durch fachlich kompetente Gremien in geheimer Wahl abgestimmt werden, ebenso darüber, welche Forschungsthemen in welcher Rangfolge und mit welchen personellen und materiellen Mitteln bearbeitet werden. Bisher sprachen in dieser Hinsicht oft inkompetente Leute entscheidend mit. Es muss wieder so werden, dass allein die fachliche Qualifikation den Werdegang eines Wissenschaftlers bestimmt.
Geheime Abstimmung über Themen - birgt das nicht die Gefahr einer Negation gesamtgesellschaftlicher Erfordernisse in sich?
Das sehen wir nicht so. Die Wissenschaft muss viel leistungsorientierter werden. Die 15 Begründer unserer Initiativgruppe, die unterschiedlichen politischen Organisationen angehören, sind durch ihre Forschungen eng mit der Industrie verbunden. Alle sind wir der Meinung, dass die angewandte Forschung, die Kooperation mit der Wirtschaft wesentlich verstärkt werden muss. Geheime Abstimmung könnte dies befördern und autoritär gefassten Fehlentscheidungen einzelner vorbeugen.
Vorausgesetzt allerdings, der Mechanismus funktioniert wirklich so, wie Sie es wollen. Und wo bleibt die Grundlagenforschung als wesentliche, wenn nicht Hauptaufgabe einer Wissenschaftsakademie?
Ich würde hier keinen Gegensatz zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung aufbauen. Das eine muss fließend in das andere übergehen, auch, damit dass von den Werktätigen Erarbeitete nicht verschwendet wird. Es mangelt aber an einer Schwerpunktsetzung auf volkswirtschaftlich relevante Themenbereiche. Seit Jahren wächst die Zahl der Themen. An manchen arbeiten nur fünf Mann. Haben sie ein interessantes Ergebnis, wird es publiziert - und das war's dann häufig auch schon.
Welche moralischen Wertvorstellungen, haben für Sie als Wissenschaftler besonderes Gewicht?
Die Wissenschaftler haben für die Lösung aller globalen Probleme der Menschheit einen entscheidenden Beitrag zu leisten. Das betrifft zunächst ihre spezifische Verantwortung für die Erhaltung des Friedens. In den Vordergrund rückt immer mehr der Komplex Ökonomie/Ökologie. Hier ist dringend die Entwicklung energiesparender Verfahren und Erzeugnisse geboten, hier geht es ebenso um die Reinhaltung der Gewässer und der Luft. Verstärkt werden müssen Forschungen zur Schaffung von Recyclingtechnologien.
Warum einen Rat der Institutsvertreter?
Leider hat die Gewerkschaft als Interessenvertreter versagt. Sie war unfähig, demokratische Forderungen aufzugreifen und durchzusetzen. Ich bin nicht gegen Gewerkschaften, meine sogar, es muss eine einheitliche Gewerkschaft geben. Der Rat der Institutsvertreter soll im Moment eine Sammel-, Initiativ- und demokratische Kontrollfunktion ausüben - gewissermaßen in Vertretung einer freien Gewerkschaft. Vielleicht erübrigt sich seine Tätigkeit eines Tages.
Wie groß ist Ihre Basis unter den Wissenschaftlern?
Wir führen keine Mitgliedsbücher. Die Kundgebung, die wir am 17. Oktober auf dem Platz der Akademie durchführten, zeigte ebenso wie die umfassende publizistische Tätigkeit vieler Wissenschaftler an Institutswandzeitungen, dass wir eine gute Basis haben.
Auf dieser Kundgebung wurde Prof. Scheler als Akademie-Präsident ausgebuht. Ist das nicht Ausdruck fehlender Dialogbereitschaft?
Da brach wohl jahrelanger Frust heraus. Natürlich soll das nicht so sein.
Ihre Initiativgruppe hat einen Forderungskatalog aufgestellt. Welches sind Ihre wichtigsten Forderungen?
Neben den bereits genannten die Aufklärung des Wahlbetrugs vom 7. Mai, die Legalisierung aller Vereinigungen mit demokratischer Zielstellung, Änderung des Wahlgesetzes, Stärkung aller gewählten Volksvertretungen und Transparenz ihrer Arbeit, Untersuchung der Vorgänge um den 7. Oktober, Wirtschaftsreform, Reduzierung des Sicherheitsapparates, Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes, Rechtsreform, Akademiereform, Durchsetzung des Leistungsprinzips.
Ihre Initiativgruppe hat für den 9. Dezember zu einer Kundgebung aufgerufen. Mit welchem Ziel?
Die Kundgebung soll sich von bisherigen durch ihren programmatischen Charakter unterscheiden. Wir wollen nicht einfach Forderungen auflisten, sondern die Reformprozesse konstruktiv befördern. Deshalb stellen wir die Kundgebung unter die Losung "Vorausdenken und Handeln - damit es eine Zukunft gibt."
Das Gespräch führte
Dr. Rolf Bartonek
aus: Neue Zeit, 45. Jahrgang, Ausgabe 287, 06.12.1989, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands