Zur Lage der Volkswirtschaft der DDR
Viele Stimmen verlangten in den zurückliegenden Wochen eine rückhaltlose Offenlegung der ökonomischen Situation in der DDR.
Diese Forderung trugen vor allem Teilnehmer der Beratungen am Runden Tisch vor. Die Kenntnis der Wirtschaftsdaten ist unerlässlich, um an der Wirtschaftsreform mitzuwirken. Wir wandten uns an die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik und baten um Auskunft. Auf der Grundlage auch von der Öffentlichkeit bisher vorenthaltenen Zahlen vermitteln wir einen Überblick zu Schwerpunktfragen der Wirtschaft. Soviel vorab.
Trotz angestrengter und fleißiger Arbeit verlangsamte sich das Tempo der ökonomischen Entwicklung sichtlich: Planschulden im Betrieb, ein Angebot in den Läden, das zu wünschen übrig lässt, die Infrastruktur genügt bei weitem nicht den Anforderungen. Im Maßstab des gesamten Landes spiegelte sich all das im Nationaleinkommen wider. Wuchs es in den Jahren von 1981 bis 1985 - wie wir erfuhren - im Durchschnitt um 4,5 Prozent, so weisen die Jahre 1986 bis 1989 nur eine jährliche Steigerung von 3,1 Prozent auf. Wo liegen die Ursachen dafür? Welche Prozesse charakterisieren die Wirtschaft der DDR?
Akkumulation und Investitionen
Zu wenig Mittel flossen in produzierenden Bereich
Die Verlangsamung des Wachstums unseres produzierten Nationaleinkommens ist erkennbar am Trend der volkswirtschaftlichen Arbeitsproduktivität: In den Jahren von 1981 bis 1985 nahm sie jährlich um etwa 4,3 Prozent zu. Von 1986 bis 1989 beträgt das Wachstum im Jahresdurchschnitt lediglich 3,4 Prozent. Die Produktivität in der DDR liegt um 40 Prozent niedriger als in der BRD.
Welchen Prozessen ist diese Entwicklung geschuldet? Es handelt sich dabei um eine Vielzahl negativ wirkender Faktoren, die sich zum Teil gegenseitig überlagern. Dazu gehören die langfristigen Konsequenzen einer ungenügenden produktiven Akkumulation und der unzureichende Ertrag von Investitionen. In den letzten 10 Jahren wuchs die materiell-technische Basis der Volkswirtschaft. Dies geschah bei einer großen Differenziertheit zwischen den einzelnen Bereichen und innerhalb der Bereiche. Die Differenziertheit nahm dabei zu. Gegenwärtig verfügt die DDR-Volkswirtschaft über einen Bestand an Grundfonds mit einem Wertvolumen von etwa 1 750 Milliarden Mark. Gegenüber 1980 erhöhte es sich um 535 Milliarden Mark, das sind 44 Prozent. Der Zuwachs an Grundfonds vollzog sich gleichermaßen im produzierenden Bereich (Erhöhung um 391 Milliarden Mark, das entspricht einer Zunahme von 45 Prozent) und im nicht produzierenden Bereich (um 144 Milliarden Mark, das ergibt ein Wachstum um 41 Prozent).
Im gleichen Zeitraum (1981 bis 1989) nahm das produzierte Nationaleinkommen um 41 Prozent zu. Damit gelang es in den 80er Jahren nicht, eine Wende zur vorwiegend intensiv erweiterten Reproduktion der Grundfonds zu vollziehen.
Hinzu kommt, dass eine der Grundproportionen der Wirtschaft, das Verhältnis von Akkumulation und Konsumtion, nicht entsprechend den Erfordernissen gestaltet wurde. Dadurch konnte die notwendige Akkumulationskraft im produzierenden Bereich nicht gesichert werden. Der Anteil der Nettoinvestitionen in diesem Bereich am im Inland verwendeten Nationaleinkommen war in den 70er Jahren und in der ersten Hälfte der 80er Jahre erheblich reduziert worden. Dieser Anteil sank von 16,1 Prozent im Jahre 1970 auf 8,1 Prozent im Jahre 1985. Erst von 1986 bis 1988 wurde dieser Abwärtstrend aufgehalten (1988: rund 10 Prozent).
Gleichzeitig wurde ein Teil der Investitionsmittel für Objekte eingesetzt, die nicht unmittelbar zum Wachstum des Nationaleinkommens beitrugen beziehungsweise sogar zusätzlich Aufwände verursachten. Dazu zählen die Ablösung von Heizöl, Steinkohle und Steinkohlenkoks sowie Investitionen für den Ersatz von bislang aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet importierten Erzeugnissen. All das hatte zur Folge, dass die Investitionen in vielen Bereichen nicht genügten, um die Reproduktion zu gewährleisten.
Grundfondseffektivität, Instandhaltung Maschinen und Anlagen kamen in die Jahre
Obwohl die materiell-technische Basis teilweise erneuert wurde, konnten verschlissene Ausrüstungen nur unzureichend ausgesondert werden. Im Zeitraum 1981 bis 1989 standen zum Beispiel Aussonderungen im Wert von 61 Milliarden Mark Zugänge von 330 Milliarden Mark gegenüber. Das führte zu einer wesentlichen Überalterung der Ausrüstungen in fast allen produzierenden Bereichen. Betrug das Volumen vollständig abgeschriebener Maschinen und Anlagen 1980 rund 58 Milliarden Mark, so erhöhte sich ihr Umfang bis 1989 auf 133 Milliarden Mark und hat sich damit mehr als verdoppelt. 20 Prozent aller Ausrüstungen sind abgeschrieben. 1980 waren es 14 Prozent.
Die Altersstruktur der Ausrüstungen im produzierenden Bereich weist große Unterschiede auf. Die meisten abgeschriebenen Maschinen und Anlagen besitzt die Bauwirtschaft. Sie liegt mit 40 Prozent weit über dem volkswirtschaftlichen Durchschnitt. Besonders betroffen sind die örtlich geleiteten Betriebe. Innerhalb der Industrie gibt es wiederum zwischen den Zweigen erhebliche Unterschiede. Einen hohen Anteil moderner Anlagen besitzt die Elektrotechnik/Elektronik. in diesem Bereich sind 45 Prozent der Ausrüstungen nicht älter als fünf Jahre. Dagegen müssen andere Bereiche vielfach mit Anlagen und Maschinen auskommen, die länger als 20 Jahre und damit weit über der normativen Nutzungsdauer eingesetzt sind. Im Erzbergbau, in der Metallurgie und in der Kalkindustrie gibt es solche bejahrten Ausrüstungen im Wert von 10,1 Milliarden Mark. Das sind 23 Prozent vom Gesamtbestand.
Die Polarisierung zwischen neuen und alten Produktionsausrüstungen nahm seit 1985 weiter zu. Im Allgemeinen Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau - der Bereich mit der stärksten Grundfondsentwicklung - wuchs beispielsweise im Zeitraum von 1986 bis 1989 die Zahl neuer, bis zu fünf Jahre alter Ausrüstungen um 7 900 Anlagen an. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der über 20 Jahre alten Anlagen und Maschinen um 11 100 auf über 66 000, weil nur wenig verschlissene Ausrüstungen ausgesondert wurden.
Diese Altersstruktur führte vielerorts zu einer geringen Leistungsentwicklung und Kapazitätsproportionen, so zu Widersprüchen zwischen der Zulieferindustrie und den Finalproduzenten. Die hohe Anzahl alter Ausrüstungen bindet im Vergleich zu modernen Maschinen und Anlagen wesentlich mehr Arbeitskräfte zu ihrer Bedienung und vor allem zur Instandhaltung. Der Instandhaltungsaufwand vermehrte sich von Jahr zu Jahr. In den produzierenden Bereichen machte er im Zeitraum von 1986 bis 1989 rund 182 Milliarden Mark aus. 1989 erreichte er 49 Milliarden Mark und liegt damit nur um etwa 10 Prozent unter der Summe für die Investitionen.
All das zusammengenommen schlägt sich nieder in einer Verringerung der Effektivität unserer Grundmittel. So sank die Grundfondsquote - produziertes Nationaleinkommen je 1 000 Mark Grundmittelbestand im produzierenden Bereich - von 226 Mark 1985 auf 218 Mark 1989.
Neben der ungünstigen, sich in den letzten Jahren ständig verschlechternden qualitativen Struktur der Grundfonds wirkte sich die unzureichende Effektivität der Investitionen negativ auf die Grundfondsquote aus. In den Jahren 1981 bis 1985 brachten 1 000 Mark Bruttoinvestitionen einen Zuwachs an Nationaleinkommen von 202 Mark. Von 1986 bis 1989 verringerte sich dieser Ertrag auf 150 Mark.
Außenhandel, internationale Arbeitsteilung Import wuchs schneller als der Export
Zu den Faktoren, die die Dynamik unseres Nationaleinkommens ungünstig beeinflussten, zählen auch sich verschlechternde Wettbewerbspositionen auf den Außenmärkten sowie eingeschränkte Möglichkeiten, die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zu nutzen. Einerseits waren der DDR durch Embargobestimmungen bei vielen Hochtechnologien im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet die Hände gebunden. Andererseits fehlten entsprechende Erzeugnisse im sozialistischen Ausland.
Das produzierte Nationaleinkommen stand nicht in den geplanten Volumen und Proportionen zur Verfügung, die für die Lösung der außenwirtschaftlichen Aufgaben und für die Verwendung im Inland nötig gewesen wären. Gegenüber den Zielen des Planes wuchs aus diesen Gründen der Import schneller als der Export. Im Zusammenhang mit der unzureichenden Effektivität im Handel und dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet führte das in den zurückliegenden vier Jahren zu einer weiteren Belastung der Zahlungsbilanz der DDR.
Im Zeitraum 1986 bis 1989 verschlechterte sich die Handelsbilanz. 1989 ist voraussichtlich ein Importüberschuss zu verzeichnen. Im Zeitraum des vorhergehenden Fünfjahrplanes erzielte die DDR-Wirtschaft noch einen Exportüberschuss zu effektiven Valuta-Preisen in Höhe von 26 Milliarden Valuta-Mark. Die gegenwärtig negative Außenhandelsbilanz wird besonders durch den Handel mit dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet verursacht, der seit 1985 eine sinkende Tendenz aufweist.
Die Hauptursache für das unzureichende NSW-Exportvolumen und die zu geringe Außenhandelseffektivität besteht darin, dass es nicht gelang, genügend Exporterzeugnisse bereitzustellen. Des Weiteren besaßen die Erzeugnisse nicht das erforderliche wissenschaftlich-technische Niveau, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies trifft vor allem auf die metallverarbeitende Industrie zu. Während unverändert zwei Drittel aller Exporte in das sozialistische Wirtschaftsgebiet auf Erzeugnisse der metallverarbeitenden Industrie entfallen, waren die Erzeugnisse dieses Bereiches am Export in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet im Jahre 1988 nur mit 23,3 Prozent beteiligt. Der Fünfjahrplan sah eine Steigerung auf rund 30 Prozent im Jahr 1990 vor. Damit sollte der Anteil des Jahres 1980 annähernd wieder erreicht werden. Zum Vergleich: In der BRD beträgt der Anteil der metallverarbeitenden Industrie am Gesamtexport fast 50 Prozent. Der starke Preisverfall für Erdöl und Erdölprodukte im Jahre 1986 hinterließ gleichfalls Spuren in den Ergebnissen unseres Außenhandels.
Die eingeschränkte Mitwirkung an der internationalen Arbeitsteilung in Wissenschaft und Produktion spiegelt sich unter anderem in folgenden Relationen wider: Der Außenhandelsumsatz wuchs in den Jahren 1986 bis 1988 langsamer als die volkswirtschaftliche Gesamtleistung. Die DDR blieb damit hinter der Entwicklung des Welthandels zurück, der in den letzten Jahren eine konjunkturelle Belebung erfuhr. Von 1985 bis 1988 stieg der Umsatz im Welthandel gemessen in effektiven Preisen auf Dollarbasis auf 150 Prozent. Die DDR erreichte nur eine Steigerung auf 120 Prozent. Der Außenhandelsumsatz je Einwohner liegt in der DDR merklich niedriger als in der Mehrzahl der europäischen kapitalistischen Länder.
Bei einigen Entscheidungen hatte die DDR kaum eine andere Wahl, als auf die eigene Kraft zu setzen. Sie entschied sich beispielsweise für den aufwendigen Weg der eigenen Entwicklung und Produktion eines sehr umfangreichen, jedoch unzureichend strukturierten Sortiments mikroelektronischer Bauelemente. So deckt unser Land gegenwärtig etwa 70 Prozent des Bedarfs an mikroelektronischen Bauelementen aus der eigenen, sehr kostenaufwendigen Produktion. Nur 30 Prozent stammen aus dem Import. Im Vergleich dazu kommen in der BRD 80 Prozent aus Importen.
Arbeitsvermögen, Berufsnachwuchs, Lebensniveau Uneffektive Struktur der Beschäftigten entstanden
Ende der 80er Jahre ergaben sich allein schon durch die demographische Entwicklung unseres Landes ungünstige Bedingungen für die Reproduktion des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens. Bis 1988 stieg die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter nur noch geringfügig an. Mit der massenhaften Auswanderung 1989 verringerte sich die Arbeitskräftezahl einschneidend. Die Auswanderung hält noch an. Gleichzeitig verringerte sich die Zahl der aus der Berufsausbildung kommenden Jungfacharbeiter. Im Zuge der Verwaltungsreform und anderer Veränderungen in staatlichen Einrichtungen, Parteien und Massenorganisationen offenbart sich eine uneffektive Beschäftigungsstruktur. Frei werdende Arbeitskräfte verfügen über andere Qualifikationen, als sie für die gegenwärtig rund 250 000 freien Arbeitsplätze benötigt werden.
Die Sozialpolitik forderte einen großen Anteil am volkswirtschaftlichen Gesamtergebnis, ohne dass sie im genügenden Maß zu Leistungen stimulierte. Die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung lagen in den Jahren von 1986 bis 1989 über den geplanten Zielen. Der Einzelhandelsumsatz lag im gleichen Zeitraum unter den Planzielen. Die Ergebnisse in der Volkswirtschaft blieben hinter den Einkommen zurück. Das Angebot an Waren und Leistungen entsprach und entspricht in Struktur, Qualität und Quantität nicht der zahlungsfähigen Nachfrage. Durch die Disproportion zwischen Kauffonds und Warenfonds entstand ein erheblicher Kaufkraftüberhang. Die Bevölkerung verfügte in diesem Zeitraum (1986 bis 1989) über Nettogeldeinnahmen von 636 Milliarden Mark. Davon verwendete sie 561 Milliarden Mark für den Kauf von Waren und die Bezahlung von Leistungen, 32 Milliarden Mark für weitere Ausgaben wie Versicherungsbeiträge, Steuern, Beiträge. Als Ersparnisse verblieben 42 Milliarden Mark. Die Sparguthaben und Bargeldbestände erhöhten sich gegenüber 1985 um 28 Prozent auf 177 Milliarden Mark 1989.
Das geplante Volumen für die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung wurde um 6,1 Milliarden Mark in den Jahren 1986 bis 1989 überschritten. Dies kam wesentlich durch einkommenspolitische Maßnahmen zustande. In den Jahren 1986 bis 1989 wurden dafür mehr Mittel eingesetzt als im Zeitraum 1981 bis 1985. Dabei erhöhten sich die Geldeinnahmen aus gesellschaftlichen Fonds schneller als die Geldeinnahmen aus der Berufstätigkeit.
Bei den Geldeinnahmen aus Berufstätigkeit hat sich das Arbeitseinkommen der Arbeiter und Angestellten und das der LPG-Mitglieder seit 1980 am schnellsten entwickelt. Bei den anderen Berufstätigengruppen wirkten sich insbesondere die seit 1986 festgelegten Maßnahmen zur Förderung des individuellen Handwerks aus. Insgesamt haben sich aber die Einkommensunterschiede seit 1980 nur unwesentlich geändert. Das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen der Arbeiter und Angestellten erhöhte sich seit 1980 um 30,6 Prozent und betrug im Jahr 1988 1 946 Mark monatlich. Das Pro-Kopf-Nettoeinkommen belief sich auf 696 Mark im Monat (1988).
Durch gestiegene Produktion von Konsumgütern erhöhte sich zwar die Warenbereitstellung von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Industriewaren für die Bevölkerung, blieb aber sowohl in Sortimentsbreite als auch in Qualität hinter den Erwartungen der Käufer zurück. Der Einzelhandelsumsatz kletterte im Zeitraum von 1981 bis 1989 zu effektiven Preisen um 31,1 Prozent.
Die Struktur der Geldausgaben der Bevölkerung für Warenkäufe und Leistungen hat sich in der DDR im Unterschied zur internationalen Entwicklung seit 1980 nicht wesentlich verändert. In den Haushalten einer Reihe europäischer kapitalistischer Länder wuchs der Teil der Ausgaben für Leistungen in den vergangenen 10 bis 20 Jahren durchschnittlich um 1 bis 4 Prozent pro Jahr. In der DDR stagnieren Leistungsarten, bei denen ein großer Bedarf der Bevölkerung besteht - beispielsweise Tourismus und Freizeitgestaltung.
Neues Deutschland vom 11.01.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.