Polnische Ängste
Dem selbstbewussten DDR-Bürger, der voll hinter den jüngsten Maßnahmen seiner Regierung zur Verhinderung spekulativen Warenabkaufs steht, schlägt heute in Polen unversehens eine Welle von Unverständnis, Angst und Wut entgegen. Wildfremde Menschen fragen: "Was macht ihr mit uns in der DDR?" "Warum verkauft man uns nichts mehr bei euch?" "Wollt ihr uns zum Schuldigen für eure Probleme machen?"
Selbst langjährige Freunde unserer Universität in Wroclaw, Torun und Gdansk stellen uns Fragen, die uns unwirklich und lebensfern erschienen. Ein Blick in die polnische Presse dieser Tage ließ mich noch mehr erschrecken. In offiziellen Regierungszeitungen werden massenhaft Beispiele über diskriminierende Behandlung von Polen in der DDR gebracht. Unter der Überschrift (in deutsch!) "POLEN RAUS!" wird unter anderem angeführt, dass in Cottbus Plakate mit solchen Aufschriften aufgetaucht seien, polnische Bürger Grundnahrungsmittel nur noch unter entwürdigenden Bedingungen bekämen und sich bei der Durchsetzung der neuen Regierungsmaßnahmen eine abstoßende Überheblichkeit und Selbstzufriedenheit von DDR-Bürgern gegenüber ihren polnischen Nachbarn zeigen würde. (Zycie Warszawy, 28.11.1989).
Unter der fetten Oberschrift: "DDR - Vandalen zerstören polnische PKW" wird darüber berichtet, dass in Ludwigsfelde 8 PKW polnischer Arbeiter, die in der dortigen Fabrik arbeiten, zerstört wurden. (Gaseta Pomorska, 28.11.1989)
Haarsträubend euch ein Bericht über superscharfe Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze, wo u. a. einer Austauschdelegation der Pfadfinder bei der Rückreise noch Polen ihre Gastgeschenke weggenommen worden seien. Ebendort Angaben darüber, dass Polen in Geschäften von vornherein diskriminiert würden und in Einzelfällen aus Einkaufskörben alles rausgenommen worden sei. (Illustrowany Kurier Polski, 29.11.1989)
Ebensolche Berichte werden durch Rundfunk und Fernsehen in Polen gesendet. Für uns in der DDR sind diese Mittellungen tendenziös und unglaubhaft. Eventuell gestehen wir zu, dass es sich um Überspitzungen einer an sich vernünftigen Maßnahme handelt.
Die polnischen Bürger jedoch sind zutiefst verängstigt und verunsichert, was das Verhältnis zur DDR betrifft. Eine erste schlimme Reaktion ist zum Beispiel die Aussetzung des Kinderferienaustausches mit der Kopernikus-Universität Torun für 1990. Als Hauptgrund dafür ist die aktuelle Situation zwischen Polen und der DDR - viele Eltern wollen ihre Kinder deswegen nicht in die DDR schicken.
Nach meinen persönlichen Eindrücken in Polen bezweifle ich, dass es längerfristig richtig ist, Warenverteilung nicht über die Preise, sondern über administrative Maßnahmen zu regeln die sich objektiv und vorrangig gegen Ausländer richten. Unsere Maßnahmen gegen Spekulanten treffen nämlich auch Ausländer, die keine spekulativen Absichten haben. So ist es in meinen Augen entwürdigend und beschämend, dass ein Ausländer bei jedem Einkauf in der DDR jetzt damit rechnen muss, kontrolliert und eventuell (auch ungerecht) gemaßregelt zu werden. Wollen wir keinen Ausländerhass, müssen wir auch gegen solche Möglichkeiten angehen.
Ullrich S(...)
aus: Die neue Universität Nr. 20, 8. Dezember 1989, 30. Jahrgang, Organ der Parteileitung [der SED] der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock