". . . entweder naiv oder voller Absicht"
Interview mit Rudolf Bahro
Er ist 1977 mit einem Buch aufgetaucht, der "Alternative". Der Text ist weniger bekannt. Mehr die oftmals sensationellen Berichte. Interviews im Fernsehen Ebenso mutig wie im Ton bescheiden. Die Meldungen über die prompt erfolgte Verhaftung und dann über den Prozess. Das Urteil: 8 Jahre. Entlassung im Rahmen der Jahrestags-Amnestie 1979. Übersiedlung in die BRD. Bleiben noch vereinzelte Bilder leidenschaftlicher Rededuelle bei den "Grünen". Dann kam kaum noch etwas rüber. Bis zu den Herbststürmen '89. Rückkehr in die DDR. Gastrede auf dem SED-PDS-Parteitag. Widersprüchliche Reaktionen.
Um mehr zu erfahren über das Leben des Rudolf Bahro, führten wir das folgende Interview.
Die ANDERE: Im Jahre 1952, also gerade erst auf dem Wege achtzehn zu werden, zieht es Sie zur SED. Was wirkte in diese Richtung?
Bahro: Das war mein Lehrer Dietrich Behrendt im Internat in Fürstenberg. So jung wie er war, so begeistert hatte er den Marxismus aufgesogen. Gewonnen hatte er mich, weil er Klartext über Machtverhältnisse sprach. Über den Staat, über Unterdrückung auch bei uns. Es gelang ihm, durch Aufdecken von Widersprüchen zu lehren.
Die ANDERE: Und dies führte dann zum Philosophie-Studium?
Bahro: So direkt nicht. Eigentlich wusste ich nicht so recht, was ich studieren wollte. Aber ich wollte wissen, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Nach einem kurzen Bewerbungsversuch bei der Kulturpolitik zog es mich nach Leipzig in die Ritterstraße. Dort empfing mich eine Dame wie aus einem protestantischen Stift. Auf meine Frage, ob man hier Philosophie studieren könne, antwortete sie einigermaßen verächtlich ob meiner Unwissenheit: Hier ist Leipzig, hier lehrt Bloch! Verschreckt fuhr ich nach Berlin zurück und begann dort das Studium. Eigentlich bin ich froh darüber, denn die Leute, die in die Auseinandersetzungen um Ernst Bloch gerissen wurden, waren schon lange weg, als ich meine "Alternative" schrieb.
Die ANDERE: Machen wir einen Sprung in die 60er Jahre. Von 1965 bis 1967 waren Sie stellvertretender Chefredakteur der damaligen - manches bewegende und deshalb auch später beerdigten - Studentenzeitung "FORUM". Wie kamen Sie zum Journalismus?
Bahro: Schon während der Studentenzeit hatte ich an der Zeitung der Humboldt-Universität mitgearbeitet, dann eine Dorfzeitung im Oderbruch und die Uni-Zeitung in Greifswald gemacht. Zum "FORUM" bin ich vor allem hingegangen, um soviel wie möglich den Geist des Jugendkommuniqués von 1963 - "der Jugend Vertrauen und Verantwortung" - zu befördern. Da blieben Konflikte nicht aus. Als der damalige Chefredakteur Klaus Hilbig in Urlaub war und einige Beiträge für die Zeitung starben, bot sich die Gelegenheit. Volker Brauns Stück "Kipper Paul Bauch" zu drucken. Dies war dann nicht mehr verzeihlich. Hager meinte: "Der muss doch wissen, dass wir den Löwen jetzt nicht wecken wollen. Entweder ist der naiv oder er macht es absichtlich!"
Die ANDERE: Anschließend folgte der Marsch in die Industrie. Wie sehen Sie heute diesen Erfahrungs-Schritt?
Bahro: Ich hätte nie die "Alternative" schreiben können, wenn ich nicht erfahren hätte, wie es in den Betrieben wirklich zugeht, wenn ich nicht gewusst hätte, wie die Arbeiter hier tatsächlich "regieren". Dort wurde mir überaus deutlich; dass sie im Staat soviel zu sagen haben wie Soldaten in einer Armee.
Die ANDERE: Zur "Alternative". Wie sehr haben die Folgen Ihr Leben verändert?
Bahro: Jedenfalls nicht überraschend. Ich war immer absoluter Idealist: Ich musste.
Die ANDERE: Die Ironie der Geschichte wollte es, dass der heutige SED-PDS-Vorsitzende Gysi, damals Ihr Verteidiger war. Wenn Sie daran zurückdenken, was fällt Ihnen dann zu Gysi ein?
Bahro: Sie können ja auch annehmen: "Es gibt keine Zufälle." Was unter den damaligen Umständen möglich war, hat er gemacht. Er hat sich schon damals so verhalten, dass ich ihm heute abnehmen kann, dass er den Rechtsstaat wirklich will. Leider wird ihn der Apparat fressen. Das finde ich schade. Schon seine letzte Rede auf der Vorstandstagung markiert atmosphärisch einen Rückfall gegenüber der Parteitagsrede.
Die ANDERE: Die Logik der Umstände . . .
Bahro: . . . gilt nicht. Der Mensch kann sich jeden Tag neu entscheiden und tut es faktisch - auch wenn er nur am nächsten Morgen trotz der Bauchschmerzen wieder hingeht.
Die ANDERE: Wollten oder mussten Sie 1979 nach der Amnestie die DDR verlassen?
Bahro: Ich wollte dann. Ich hatte keine Lust, die Rolle, die hier auf mich wartete, zu übernehmen. Ständig Stasi vor der Tür und als Begleiter - das wäre die Meldung gewesen, nicht, was ich geistig wollte.
Die ANDERE: Es folgte der Eintritt bei den "Grünen". Wo lagen die Hoffnungen und wo die Enttäuschungen?
Bahro: Die Hoffnungen waren größer als die Enttäuschungen. Grundsätzlich war die Erfahrung, mit den "Grünen" gegangen zu sein, ebenso wichtig wie meine Erfahrungen in der Industrie für die "Alternative". Ich hätte mein neues Buch, die "Logik der Rettung", sonst nicht schreiben können. Ich habe stets aus einer "alles" meinenden politischen Praxis heraus gedacht. Den "Grünen" hatte ich Dinge zugetraut, die sie nicht durchhalten konnten. Sie sind bei jeder inhaltlichen Frage bereit, Grundpositionen fallenzulassen.
Die ANDERE: Seit dem 11. Dezember sind Sie wieder DDR-Bürger. Welche Chancen sehen Sie für das Bemühen um eine alternative DDR?
Bahro: Wie es im einzelnen weitergeht, weiß niemand. Immer noch kann von der DDR ein Impuls ausgehen, der ganz Deutschland mitverwandelt. Das wirkliche Problem ist ein Bewusstseinsproblem. Was ich antreffe, ist ein Zustand tiefer geistiger Orientierungslosigkeit. Die einzige Systemerrungenschaft ist die Möglichkeit, gesellschaftlich, politisch über den wirtschaftlichen Prozess zu bestimmen. Statt sie jetzt, wo der Despotismus daraus entwichen ist, mit Inhalt zu füllen, sehen nun selbst die Verantwortlichen von gestern die Erlösung darin, sich dem Selbstlauf der Kapitaldynamik anzuvertrauen. Bei dieser Strategie werden wir zwangsläufig die Rolle übernehmen müssen, die uns die westliche Industriemaschine zudenkt: die eines Entwicklungslandes. Die regierende Stimmungspolitik ist tatsächlich nichts anderes als der bisherige Opportunismus - nur gewendet.
(Das Interview führte Dieter Krause)
Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 1, Januar 1990
Rudolf Bahro schreibt in seinem Brief vom 16.12.1989 an Gregor Gysi, das Buch "Die Alternative" sei im Keller der Bibliothek der Biologen der Humboldt-Universität Berlin 70 Mal kopiert worden. Rudolf Bahro hatte mehrere Unterstützer, als Lektor, beim kopieren, beim verteilen, beim herausschmuggeln aus der DDR, beim unterbringen beim bund Verlag des DGB.