Offener Brief zum Aufruf "Für unser Land"

Sehr geehrter Herr Heym!

Die Sorge um die Zukunft der Menschen hier, die uns bewegt, ist durch den Aufruf "Für unser Land" leider sehr verstärkt worden. Aus Ihren bisherigen Äußerungen in der Öffentlichkeit hatten wir den Eindruck gewonnen, dass Sie sich einen klaren Blick für die Ursachen der heutigen Misere bewahrt haben.

Für uns sind dies in Kurzform:

- nahtloser Übergang von der braunen zur roten (stalinistischen) Diktatur

- kontinuierliche Festigung der stalinistischen Strukturen bis zur "Wende", gekennzeichnet durch den

• absoluten Machtanspruch der SED, dadurch bedingt

• totale Abschaffung des Leistungsprinzips auf allen Leitungsebenen, statt dessen

• absolutes Hörigkeitsprinzip gegenüber der SED-Zentrale.

Aus diesen Grundübeln sind alle anderen Fehler und Mängel ableitbar.

Ihren bisherigen Äußerungen war zu entnehmen, dass Sie die Dinge genau so oder ähnlich sehen. Um so mehr sind wir erschüttert über Ihre Mitwirkung n dem sehr fragwürdigen Aufruf Für unser Land" und Ihrem Eintreten für weitere Versuche, hierin der DDR eigenständig zu besseren Lösungen' zu kommen.

Wo ist da der klare Blick für die Erfordernisse der Zukunft?

Die teils über 70jährigen bisherigen Versuche sind überall restlos gescheitert. Sie haben uns

- eine ruinierte Wirtschaft

- eine schwerstgeschädigte Umwelt

- eine verfallene Altbausubstanz

- ein verfehltes Wohnungsbauprogramm

- eine verschlissene Infrastruktur

- ein desolates Gesundheitswesen

- ein falsch ausgerichtetes Schulwesen

- ein manipuliertes Justizwesen

usw., usw. beschert.

Herr Heym, bitte nennen Sie uns eine Errungenschaft, um derentwillen sich die Aufrechterhaltung der Zweistaatlichkeit Deutschlands lohnen würde.

Wir haben von den jahrzehntelangen Versuchen, die unzähligen Menschen das Leben gekostet, andere psychisch geschädigt oder um ihre besten Jahre betrogen haben, endgültig genug! Wir lehnen es ab, weiterhin als Atem- und Blutspender für sinnlose Belebungsversuche an der Totgeburt "Sozialismus" missbraucht zu werden.

Herr Heym, dies ist unser einmaliges Leben und wir haben ein Recht darauf, dass alles, aber auch alles getan wird, um in der jetzigen Lage uns allen kurzfristig ein menschenwürdiges Leben in Verantwortung gegenüber der Natur, unseren Nachbarvölkern und allen Menschen dieser Erde zu ermöglichen! Den Weg dazu in einer eigenständigen Entwicklung dieses Staates zu suchen und dabei an Sozialismus als Zielvorstellung festzuhalten ist entweder sträfliche Verblendung oder auf Machterhalt bedachte Demagogie.

Der Begriff Sozialismus hat sich als untauglich für eine menschenwürdige Gesellschaftsform erwiesen. Erstens weil er bislang nur als Deckmantel für Verbrechen an den damit "beglückten" Völkern missbraucht wurde, angefangen bei National- sozialismus über Stalinismus, Maoismus bis zum Ceauşescu-Terror in Rumänien. Zweitens, weil er keine akzeptable Alternative zu bereits hoch-entwickelten dem6kratischen Gesellschaftsformen und Wirtschaftsstrukturen bietet.

Es ist doch unverantwortlich und widerspricht jedem wissenschaftlichen Prinzip, jetzt, wo wir uns für einen Weg entscheiden können und müssen, nicht zügig den naheliegenden und sicheren Weg der Übernahme und Anpassung erprobter und bewährter Lösungen wirtschaftlich hochentwickelter Demokratien einzuschlagen, sondern mit einem vom Westen geborgten Buschmesser einen Pfad durch den Dschungel unserer Misswirtschaft, Fehler und Mängel schlagen zu wollen, von dem niemand weiß, wohin er führt und ob dahinter nicht wieder ein Abgrund lauert, den zu erreichen alle Mühe umsonst war.

Jedem einigermaßen real Denkenden muss doch klar sein, dass unsere Wirtschaft nur durch Hilfe von außen wieder funktionsfähig gemacht werden kann. Dass diese Hilfe nur aus dem Westen kommen kann ist ebenso klar.

Es erscheint schizophren, von einem System Hilfe in Anspruch zu nehmen, damit de facto dessen zumindest wirtschaftliche Überlegenheit zuzugeben, um ein besseres System als das des Helfenden errichten zu wollen.

Wir halten es auch für unmoralisch, Unterstützung von einem System zu erwarten und anzunehmen, welches man lautstark ablehnt.

Fragwürdige Aufrufe dieser Art halten keinen Menschen im Land und bringen nur weitere Irritierung.

Was wir jetzt brauchen, ist die klare Formulierung unserer Ziele:

- Demokratie

- Abrüstung

- Wirtschaftsumbau nach erprobten Vorbildern mit westlicher Hilfe

- Rettung unserer natürlichen und gebauten Umwelt

- perspektivisch Wiedererlangung der staatlichen Einheit unseres Volkes in den bestehenden äußeren Grenzen bei Wahrung territorialer Besonderheiten.

Vor einer weiteren Entvölkerung kann uns nur die erklärte Absicht bewahren, konsequent auf einen Wegfall der innerdeutschen Währungs-, Zoll- und Wirtschaftsbarrieren hinzuwirken und dies durch Taten glaubhaft zu machen. Jeder andere Versuch führt nach unserer Auffassung zu einer Wiedervereinigung allein auf westdeutschem Gebiet. Das aber kann in keines Deutschen Interesse liegen! Dies zu sagen, halten wir für unabdingbar für unser Land.

62 Unterschriften liegen als Anlagen bei.

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