Der Jüdische Kulturverein: Erinnern = Leben
Gespräch mit Frau Dr. Irene Runge und Herrn Andreas Poetke, Mitglieder des Sprecherrates des Jüdischen Kulturvereins
taz: Frau Dr. Runge, Herr Poetke wann und warum entstand die Idee einen Jüdischen Kulturverein zu gründen?
Frau Dr. Runge: In der DDR gibt es nicht nur Juden, die einer Religionsgemeinschaft angehören, sondern auch nichtreligiöse Juden und Angehörige jüdischer Familien. Viele haben das Bedürfnis sich stärker mit der jüdischen Geschichte und ihrer eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen, wollen sich aber nicht religiös binden. Manche können es nicht, weil sie nach jüdischem Verständnis keine Juden sind. Vor fünf Jahren entstand deshalb die Gruppe "Wir für uns" – unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Wir hatten damals noch nicht den Gedanken, einen Verein zu gründen.
Herr Poetke: Dann kam der 11. November 1989, der Tag des nationalen Taumels und der Tag an dem wir ein Symposium zum Thema "Zwei deutsche Staaten und die Juden" veranstalteten. Im Anschluss daran setzten sich einige Leute zusammen und stellten fest, dass es nun an der Zeit sei, sich eine eigene Institution zu schaffen. Im Februar dieses Jahres konstituierte sich der Jüdische Kulturverein.
taz: Warum ein Jüdischer Kulturverein und kein Freundeskreis jüdischer Kultur – verbindet sich damit nicht der Anspruch auf Religiosität?
Frau Dr. Runge: Wir haben einen Jüdischen Kulturverein gegründet, weil wir Juden sind. Ein Anspruch auf Religiosität verbindet sich damit nicht. Wir sind ein Verein, der jüdischen Menschen die Möglichkeit bietet sich zu treffen und jüdische Identität zu entwickeln. Wir definieren das Judentum so: Juden als Volk und als Religion. Das Volk lebt in Israel, aber nicht alle die dort leben sind religiös. Wer, wenn nicht die Juden, ist in der Lage die Geschichte und die Tradition des Judentums zu pflegen und weiterzugeben? Sonst wird es Folklore. Im übrigen beschäftigen sich die Kirche und der Kulturbund auch mit jüdischer Geschichte.
Herr Poetke: Es geht uns auch darum, dass Menschen jüdischer Herkunft ihren Mangel an Wissen über ihre Vergangenheit erkennen. Der Verein soll helfen, die Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen, als Basis für die Zukunft. Wir denken auch vorwärts, nicht nur zurück.
Frau Dr. Runge: Für Juden, die mit der jüdischen Kultur bisher wenig in Berührung gekommen sind, ist es ein großes Erlebnis, an einer jüdischen Feier teilzunehmen. Zum Pessachfest kamen viele, die noch nie an einem jüdischen Feiertag traditionell gegessen, gesungen und die Geschichte des Auszuges der Juden aus Ägypten erzählt bekommen haben. So entsteht ein Wir-Gefühl. Stückweise wird belebt, was tot schien. So mancher Sechzigjährige entdeckt seine Kindheit wieder. Wir wollen ein Ort sein, wo sich Juden aller Generationen wohlfühlen. Diese Menschen haben oft keine Familie mehr, weil die Angehörigen von den Nazis ermordet worden sind. Mit dem Verein bekommen sie eine jüdische "Familie", man könnte sagen, es findet eine Art gegenseitiger Adoption statt.
taz: Wie viele Mitglieder hat der Jüdische Kulturverein?
Herr Poetke: Es gibt ungefähr 400-500 Interessenten, den Beitritt haben bisher 200 Personen erklärt. Wer sich ernsthaft mit der jüdischen Kultur beschäftigt, jedoch kein Jude ist, kann Freund unseres Kulturvereins werden.
Frau Dr. Runge: Wir müssen noch sehr viel lernen und freuen uns deshalb, Kontakt zu einem orthodoxen Rabbiner aus Israel zu haben. Tsevi Weinman aus Jerusalem war schon dreimal bei uns. Er will sicher, dass wir fromm werden, wir wollen erfahren worum es überhaupt geht.
taz: Wie beurteilt der Vorstand der Jüdischen Gemeinde die Gründung des Kulturvereins?
Frau Dr. Runge: die Aktivitäten des Vereins werden mit Wohlwollen und Interesse registriert, vor allem seit klar ist, dass wir keine jüdische Religionsgemeinschaft, keine Reformgemeinde werden wollen. Viele Mitglieder des Kulturvereins gehören der jüdischen Gemeinde an. Wir denken, dass sich das verträgt.
taz: Kennen Sie die Ansichten von Herrn Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland?
Frau Dr. Runge: Wenn er mehr von uns weiß, wird er sicher das, was wir machen, schätzen.
taz: Wie wollen Sie außerhalb des Vereins wirksam werden?
Frau Dr. Runge: Wir bemühen uns, kompetente Vertreter in die Schulbuchkommission und die Medienräte zu schicken. Dennoch stehen uns nicht alle Türen offen. Von einigen offiziellen Stellen werden wir nicht akzeptiert Der Grund dafür ist die verbreitete Meinung, dass die Juden nur durch die Jüdische Gemeinde repräsentiert werden. Das ist falsch. Nach Herrn Kirchners Schätzung, die mit unserer übereinstimmt, gibt es in der DDR mehrere tausend Juden. Die Jüdische Gemeinde hat rund 300 Mitglieder. Wir sind der Meinung, dass die Jüdischen Gemeinden, Adass Jisroel und der Jüdische Kulturverein viele gemeinsame Aufgaben haben und nicht gegeneinander arbeiten. Ja, darüber hinaus könnten noch eine Vielzahl von Organisationen entstehen, die sich mit verschiedenen Aspekten jüdischer Kultur beschäftigen.
taz: Welche Projekte hat der Jüdische Kulturverein in Gang gebracht?
Frau Dr. Runge: eines unserer Projekte heißt "Rettung". Wir sammeln historisches Material über Menschen, die Juden das Leben gerettet haben und jene die geredet werden konnten. Dieses Stück privater Widerstand ist zu Unrecht in der DDR vergessen worden. Vielleicht ist auch wichtig, dass gerade wir Juden uns dieser Aufgabe annehmen. Das Projekt ist bei der Humboldt-Universität an der Sektion Geschichte angesiedelt, es soll ein Forschungsthema daraus werden. Bisher erhielten wir über 100 Zuschriften und Dokumente, sind jedoch auch weiterhin für jede Information dankbar.
Herr Poetke Die Lage jüdischer Bürgerin der Sowjetunion ist kompliziert. Daher haben wir am 12. Februar über den Runden Tisch die Regierung aufgefordert, sowjetischen Juden die Einwanderung in die DDR zu ermöglichen. Inzwischen liegt die staatliche Zustimmung vor.
Frau Dr. Runge: Wir waren Mitinitiatoren des Völkerfestes in der Humboldt-Universität und werden uns als Jüdischer Kulturverein auch an dem großen Völkerfest im HdJT beteiligen. Diese Veranstaltung findet am 1. Mai statt. Einer der Höhepunkte der nächsten Zeit ist der Jom Haschoa - Gedenktag des Holocaust. Wir begehen den Gedenktag in der DDR das erste Mal offiziell – am 2. April ab 14.30 Uhr im Haus der Akademie der Künste. Es beteiligt sich das Simon Wiesenthal Centre. Wir erwarten Spitzenpolitiker der SPD, PDS, CDU und des Bündnis 90. Eingeladen sind weiterhin Dr. Kirchner und der neue Bildungsminister. Wir freuen uns auch, dem Publikum den Film "Genocide" zeigen zu können. Es ist der einzige Holocaust-DokumentarfiIm, der einen Oscar erhielt. So die Bürokratie will, können wir 1991 ein Caféhaus in der Oranienburger Straße 34 eröffnen. Das Haus wird für mehrere Millionen Mark rekonstruiert, das Geld stellt uns die Ronald S. Leader Foundation zur Verfügung. Dort sollen später öffentliche Veranstaltungen stattfinden und eine jüdische Buchhandlung eingerichtet werden.
Mara Kaemmel
die tageszeitung, DDR-Ausgabe, Sa. 21.04.1990