Auskünfte und Ansichten von WALTER JANKA zum Umgang mit Gewesenem und dem, was kommt – Ein ND-Interview nebst Fußnoten

Meine Akte? Ich will sie öffentlich machen

Notiert von HOLGER BECKER

Genosse Janka jüngst sorgte die Meldung für Aufsehen, dass Sie Diestel zugesagt haben, in der Kommission zur Auflösung der Staatssicherheit mitzuarbeiten. Mich Interessieren die Motive für diesen Schritt.

Ich bin nicht erst seit letztem Herbst, sondern war schon in den 50er Jahren, besonders nach dem XX. Parteitag der KPdSU, der Meinung: Das mit der Stasi kann so nicht weitergehen. Das war dann ja auch einer der Hauptgründe, weshalb man mich 1956 anklagte. Darüber kann man in einem Buch nachlesen, das jetzt im Rowohlt- und im Staatsverlag der DDR gleichzeitig unter dem Titel "Walter Janka und andere. Aus den Prozessakten" erscheint. Dort ist auch die sogenannte Selbstanklage zu finden, die Wolfgang Harich (1) nach seiner Verurteilung zu Papier brachte - zu einem Zeitpunkt also, da er überhaupt nicht mehr verpflichtet gewesen wäre, noch einmal etwas zum eigenen Prozess zu äußern. Ich will mich jetzt nicht in Einzelheiten darüber verlieren, warum die Selbstanklage, die natürlich im Grunde falsch war, so lautete, wie er sie formulierte. Tatsache ist, dass Harich nach seiner Verurteilung - sicher auf Zureden der Staatssicherheit - noch in Hohenschönhausen Papier und Schreibzeug nahm und eine Zeugenaussage gegen Janka schrieb, in der er mich und andere Mitarbeiter im Aufbau-Verlag, nicht nur jene, die angeklagt wurden, beschuldigte. Er schrieb Dinge, die ich gelegentlich wirklich laut gesagt hatte. Unter anderem, dass man Mielke, Melsheimer (2) und die Benjamin (3) erschießen müsste für das, was sie zum Schaden unserer Gesellschaft schon damals angerichtet hatten. Das 80 Seiten lange Papier wurde dann als Belastungsmaterial gegen uns benutzt. Und wenn ich mich schon damals so eindeutig und scharf für die Auflösung oder zumindest Reduzierung der Staatssicherheit äußertet standen dahinter handfeste Gründe.

Die da wären?

Ich kannte mich ziemlich genau aus in den Vorgängen, die Ende der 40er (nach meiner Rückkehr aus dem Exil), Anfang der 50er Jahre bei uns in der DDR eine Rolle spielten. Damit meine ich die sogenannte Noel-Field-Affäre (4), die - auf unsere Verhältnisse in der DDR angewandt - genau dasselbe zur Folge gehabt hätte, wie es die ČSSR beim Slansky-Prozess, Ungarn beim Rajk-Prozess oder Bulgarien beim Kostow-Prozess erlebten. Fast alle prominenten Heimkehrer aus westlichem Exil wurden damals als Agenten beschuldigt. Wilhelm Pieck, Ulbricht und Matern tätigten auf dem III. Parteitag der SED 1950 entsprechende "sensationelle Enthüllungen". Beginnen sollte die Sache mit Paul Merker (5), der ja aus dem Politbüro ausgestoßen wurde. Wie in den Prozessen andernorts wollte man über so ein "Einstiegstor" zu den nächsten Beschuldigten kommen. Zum Hauptangeklagten wäre wahrscheinlich Franz Dahlem (6) geworden. Doch es kam dann nicht zum Prozess, weil Stalin starb. Wenn der ein Jahr länger gelebt hätte, in der DDR wäre es zu einem Prozess gekommen, der alles Vorausgegangene weit übertroffen hätte.

Sie waren mit Paul Merker befreundet?

Ja, meine Frau und ich waren mit Paul Merker früher sehr befreundet - durch die Zeiten der Internierung in Frankreich, durch das Exil in Mexiko. Und dann war ich ja das erste Jahr nach meiner Rückkehr sein persönlicher Mitarbeiter im Parteivorstand, bis ich dann auf eigenen Wunsch ausschied. Nicht ahnend, was dann später Merker und uns allen, die wir aus dem Westen zurückgekommen waren, widerfahren sollte.

Jedenfalls wusste ich so, dass sie alle aus der Luft gegriffen waren, diese Behauptungen gegen Dahlem, gegen Merker und auch gegen andere wie Wilhelm Koennen oder Gerhart Eisler oder Lex Ende. Auch die gegen Intellektuelle wie den Regisseur Wolfgang Langhoff und schließlich meine Wenigkeit. Nachdem er im Gefolge des XX. KPdSU-Parteitages aus dem Gefängnis zurückgekommen war, erzählte uns Paul Merker seine Geschichte. Er war ein völlig gebrochener Mann, vollkommen demoralisiert, so ängstlich, wie man es sich nicht vorstellen kann. Wir erfuhren, dass es 30 bis 40 Angeklagte gegeben hätte. Mindestens die Hälfte oder auch mehr wären wohl zum Tode verurteilt und hingerichtet worden.

Weil ich auch Mielkes Vergangenheit genau kannte, ebenso die Vergangenheit eines Staatssicherheitsministers wie Zaisser. hatte ich allerdings schon seit Merkers Verhaftung - einen Tag nach dem Slansky-Prozess - keine jener Entschließungen unterschrieben, die damals von allen Parteiorganisationen angenommen werden mussten - gegen Merker, gegen Dahlem und all die anderen.

Weil ich wusste, dass alles gelogen war, wurde ich in dieser Zeit zu einem, sagen wir mal, scharfen Kritiker der Staatssicherheit. Selbstverständlich war und ist mir klar, dass jeder Staat Sicherheitsorgane benötigt in jener Zelt des heftig geführten kalten Krieges zumal. Aber so, wie es von diesen Leuten gehandhabt wurde, eben nicht. Denn dieser Sicherheitsapparat hat sich dann hauptsächlich gegen uns selbst gerichtet, auch und gerade gegen die Partei, die ehrlichen Genossen. Die Staatssicherheit ist bei uns zum Staat über dem Staat geworden. Das war dann eigentlich der Hauptgrund, warum unsere Entwicklung so lief, dass unser Staat heute wie ein Kartenhaus in sich zusammenbricht.

Hinzu kommt dass ich einen großen Teil der Leute, die im Politbüro saßen, von Stoph angefangen bis Mielke, auch Honecker, und Axen insbesondere, persönlich ganz gut kenne, aus der Exilzelt zum Teil. Ich war erstaunt über Karrieren, die Leute machen konnten, hab das eigentlich nie begriffen. Natürlich kann ich mir heute einen Vers darauf machen. Das hing eben mit der Struktur zusammen, auch mit der Abhängigkeit, die zur Sowjetunion bestand.

Wenn Sie jetzt in der, ich sage mal salopp, "Diestel-Kommission" mitarbeiten - was wird da von Ihnen erwartet? Oder besser: Was wollen Sie selbst unternehmen?

Das Ganze ist noch nicht zu Ende diskutiert. Wir - die sieben Mitglieder der Kommission, darunter Stefan Heym und ich als "die Linken" - sollen dem jetzigen Innenminister beratend zur Seite stehen, um die Reste der Staatssicherheit auf kürzestem Weg aufzulösen. Die zweite Frage heißt: Wie soll mit den Archiven umgegangen werden?

Wie denn?

Ich brachte in die erste Sitzung den Vorschlag ein, das zu tun, was eigentlich alle Staaten, einschließlich der USA, mit sensiblen Archiven machen: sie einzufrieren auf 20 oder 30 Jahre, damit sie im Bedarfsfall zur Verfügung stehen. Was Stefan Heym dazu sagt, weiß ich nicht, weil er nicht anwesend sein konnte. Die anderen jedoch waren der Meinung, die zum vorläufigen Beschluss wurde: Wer eine Rehabilitierung beantragen will, soll auf Anforderung Einsicht in seine Akten nehmen können bis Ende September. Danach sollen diese Dokumente wie alle übrigen samt und sonders vernichtet werden.

So ist das jetzt vorgesehen. Ich weiß nicht, ob wir es dabei belassen können. Besser wäre wohl eine Lösung, die Akten nicht ganz so schnell zu vernichten. Mein Eindruck ist, dass es gute Gründe gibt, dass so plötzlich alles vernichtet werden soll. Wahrscheinlich gibt es Ängste, dass Dinge öffentlich werden könnten, oder auch, was man ja nicht von der Hand weisen kann, dass Missbrauch mit solchem Material getrieben wird. Angeblich sind schon soundsoviele Akten verschwunden, werden entweder verkauft oder auch zu Erpressungszwecken von irgendwelchen Leuten benutzt.

Werden Sie Einsieht In Ihre Akte verlangen?

Ich werde es beantragen. Davon wird u. a. abhängen, ob ich überhaupt weiter in dieser Kommission mitarbeite. Ich will meine Akte einsehen. Und ich kann mit absoluter Sicherheit sagen: Vor ihr brauche ich keine Angst zu haben. Im Gegenteil.

Sie wären also auch bereit, Ihre Staatssicherheitsakte zu veröffentlichen?

Ich will sie öffentlich machen. Das korrespondiert auch mit einem Vorschlag aus der Kommission, der besagt: Ja, alle Akten nach dem September vernichten, aber mindestens ein Dutzend Akten öffentlich machen, und zwar Akten von Leuten quer durch alle Schichten - von Kirchenleuten meinetwegen, von Leuten aus verschiedenen Parteien, von Parteilosen, von Intellektuellen usw. Da hat auch Diestel zugestimmt.

Sinn des Ganzen soll es sein zu zeigen, wie und wozu diese Akten angelegt wurden, welchen Zweck sie erfüllen sollten, welche Folgen sie haben konnten bzw. hatten. Übrigens hätte ich auch nichts dagegen, wenn die Akten aller Volkskammerabgeordneten veröffentlicht würden, sofern Angaben nicht die Privatsphäre berühren, versteht sich.

Zumindest für künftige Historiker dürften diese Akten sehr interessant sein. Doch kommen wir zu anderem. Sie selbst, Genosse Janka, haben viel durchlitten, unter dem Faschismus ebenso wie unter dem, was gemeinhin als Stalinismus bezeichnet wird. Da gibt es unzweifelhaft Parallelen, doch kann man sie zum Gleichheitszeichen verkürzen?

Stalinismus ist nicht dasselbe wie Faschismus. Stalinismus heißt Deformierung und Missbrauch des sozialistischen Gedankengutes. Das hat sich zum Schaden für eine Alternativgesellschaft ausgewirkt - mit den Folgen, die heute bekannt sind.

Der deutsche Faschismus war das Resultat der Weimarer Zeit, in der man den zweiten Weltkrieg bereits vorbereitete. Mit dem Faschismus wollten genau diese Kräfte auf kürzestem Weg zur Weltherrschaft. Neben allen anderen Unterschieden, die zu benennen wären: Der Faschismus propagierte den staatlich sanktionierten Völkermord. Das hat der Stalinismus - ich will ihn damit überhaupt nicht verteidigen - jedenfalls nicht getan. Dass es in der Realität dann zu ähnlichen Folgen kam, ist etwas anderes.

Also es gibt da prinzipielle Unterschiede, man darf beides nicht einfach über einen Kamm scheren.

Die Regierungskoalition hat jüngst in der Volkskammer Bestimmungen, ja man muss sagen, durchgepeitscht, mit denen die größte Oppositionspartei namens PDS unter Kuratel gestellt werden soll. Parallelen zu Ermächtigungsgesetzen, die es ja bereits in den 20er Jahren gab, drängen sich auf. Befürchten Sie, dass sich Geschichte in irgendeiner Art und Weise wiederholen könnte?

Als ich von dem Volkskammerbeschluss erfuhr, habe ich mit meiner Frau darüber diskutiert und gesagt, wenn ich jetzt Zeit hätte, würde ich ins Archiv gehen und mir die Ermächtigungsgesetze von Brüning, Papen, Schleicher und Hitler heraussuchen. Ja, es hat schon einmal so angefangen. Damals ließ man den Antikommunismus sich so entwickeln und eskalieren, bis er dann schließlich dazu führte, dass mit ähnlichen Formulierungen nicht nur die Kommunisten kriminalisiert und enteignet wurden. Auch den Sozialdemokraten und den Gewerkschaften ging es an den Kragen. Das reichte bis zum Christlichen Verein Junger Männer.

Dieter Hildebrandt hat es neulich in seinem "Scheibenwischer" auf den Punkt gebracht: Wer sich nicht einfügt, wird weggebissen. Genau das passiert jetzt.

Die Initialzündung für jene "Lex PDS" ging von der SPD in West und Ost aus. "Typisch Sozialdemokratie", hörte ich schon Stimmen. Kann man verhindern, dass sich wieder Fronten verhärten?

Das darf nicht passieren. Wenn ich nur daran denke, welch schlimmer Fehler es in den 20er und 30er Jahren war, die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten abzuqualifizieren, sie, die wir gleichzeitig aufforderten, mit uns Einheits- und Volksfrontpolitik zu machen. Das wurde zum größten Hindernis für einen Konsens mit den Sozialdemokraten. Dass uns die sozialdemokratischen Führer nicht gefielen, die wir als Bonzen abqualifizierten (was sie auch wirklich waren), ist eine Sache. Aber die andere Sache ist eben, dass die Sozialdemokraten immer sieben bis acht Millionen Wähler hatten - Arbeiter zum größten Teil. Ob im Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Verelendung oder im Widerstand gegen die Nazis, allein konnten die Kommunisten - obwohl sie relativ stark waren - nichts bewirken. Nur zusammen mit der Sozialdemokratie hätte es was gebracht. Aber es ist nicht dazu gekommen. Wie gesagt, der Hitlerismus hat dann nicht nur mit den Kommunisten reinen Tisch gemacht, sondern hat auch die Sozialdemokraten weggefegt, und schließlich auch die Gewerkschaften.

Hätten Sie Ratschläge für Sozialdemokraten heute?

Die Sozialdemokratie ist eine Partei der deutschen Arbeiterbewegung. Sie hat eine Geschichte, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Auch wenn mit Herrn Thierse jetzt ein Wissenschaftler zum neuen SPD-Chef gewählt wurde, im Prinzip überlässt die Partei die Führung Seelsorgern, die politisch unerfahren sind, die sich wahrscheinlich überhaupt nicht der Aufgabe und der Verantwortung bewusst sind.

Unter den Herrn Pastoren sind aber unzweifelhaft integre Menschen.

Sicher. Ich habe der Kirche ja schon mehrfach große Komplimente gemacht und dann auch Namen, wie den von Friedrich Schorlemmer, genannt, die ich mit Respekt zur Kenntnis nehme. Trotzdem meine ich, dass Seelsorger wohl am besten beraten sind, wenn sie sich um ihre Gemeinden kümmern. Nun kann man sagen: Ja es gibt aber keine anderen Personen, die sich profilieren konnten, weil sie in der Vergangenheit eben nicht die Möglichkeit hatten, sich politisch zu entfalten. Das mag schon richtig sein. Aber: Auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing hatte ich Ibrahim Böhme kennengelernt. Dem hätte ich schon etwas zugetraut. Ob der eventuell auch eine belastende Akte hat, so wie behauptet wird? Ich weiß es nicht, und es ist mir eigentlich auch gleichgültig. Aber Böhme ist in die Pfanne gehauen worden kurz vor der Wahl. Und ganz sicher nicht von der Staatssicherheit, sondern das nehme ich mit größter Gewissheit an - von denen, die daran interessiert waren, zu verhindern, dass die SPD eine stärkere Fraktion stellt. Ich glaube, dass der SPD zehn Prozent Wähler verlorengegangen sind durch diese Umbesetzung.

Heute erleben wir die Folgen eines gescheiterten Versuchs, Sozialismus in diesem Lande, auf deutschem Boden zu gestalten. Viele sprechen davon, dass die Chance 1985 verpasst worden sei. Doch war 1985 nicht ein viel zu spätes Datum?

Nach meiner Auffassung gab es zumindest drei Etappen, in denen durchaus die Möglichkeit bestanden hätte, den Lauf der Dinge so zu korrigieren, dass der Versuch nicht hätte scheitern müssen. Die erste Etappe verbindet sich mit dem Beginn der 50er Jahre, mit jener Zeit, da wir alle aus dem Exil zurückgekehrt waren. Dabei gab es ja Unterschiede zwischen jenen Exilanten, die aus dem Westen kamen, und jenen, die aus dem Osten zurückkehrten. Wir, die Westemigranten, waren aus der kapitalistischen Welt gekommen. Wir haben uns keinen Illusionen hingegeben, wussten, dass es nicht möglich sein wird, unmittelbar den Sprung von der kapitalistisch-faschistischen Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft zu unternehmen. Wir kamen damals mit dem Vorsatz, erst einmal wirklich eine antifaschistisch-demokratische Ordnung aufzubauen als Voraussetzung für einen allmählichen Übergang zu einer neuen sozialistischen Gesellschaftsstruktur.

Anders war es bei den Leuten um Ulbricht und Wilhelm Pieck, die aus der Sowjetunion heimgekehrt waren. Ihr Ausgangspunkt hieß: Solange die Sowjetarmee da ist können wir sofort nach dem Beispiel der Sowjetunion radikal die Verhältnisse ändern. Ich glaube, das war das erste Missverständnis und der große Fehler.

Zu den Fehlern zähle ich auch die überstürzte Vereinigung von KPD und SPD, die zu Recht als Zwangsvereinigung bezeichnet wird.

Warum Zwangsvereinigung? Auch alte Sozialdemokraten sagen, dass der Druck der Basis hin zur Vereinigung vorhanden war.

Ich meine, der Prozess hätte wahrscheinlich fünf bis zehn Jahre in Anspruch nehmen müssen. In dieser Periode, in dieser Phase des Aufbaus hätte sich herausstellen müssen, welche Mittel die geeignetsten sind, um eine breite politische Massenbasis für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu erreichen.

Was uns von den Sozialdemokraten trennt, ist ja gar nicht so viel. Es gibt allerdings einen prinzipiellen Unterschied. Sozialdemokraten sind genau wie wir für soziale Verbesserung, für eine bessere Lebensqualität, für Demokratie und Freiheit. Nur: Sie wollen es mit den Kapitalisten machen. Wir hingegen sind der Meinung, dass man es ohne Kapitalisten kann - muss. Da zieht sich, vereinfacht gesagt der Trennstrich zwischen der Grundhaltung sozialdemokratischer Politik und unserer.

Tatsache ist, dass die Hälfte der Sozialdemokraten wegen der Zwangsvereinigung nach dem Westen abgehauen ist, und das waren nicht immer die Schlechtesten. Von der Hälfte, die blieb, ging wieder die Hälfte nach Bautzen oder nach Brandenburg [*]. Das ging schon in der Nachkriegszeit los, eskalierte dann zunehmend. Und das restliche Viertel von Grotewohl bis Buchwitz hat sich integriert.

Bevor wir es vergessen: Wann begann die zweite Etappe, die Korrekturen ermöglicht hätte . . .

Mit dem XX. Parteitag der KPdSU in der Zeit Chruschtschows, als die Partei eigentlich verpflichtet gewesen wäre, eine klare Überprüfung der Politik, der Strukturen vorzunehmen. Wir haben das ja damals versucht. Und die Intellektuellen in der DDR haben sich ja nicht nur im Aufbau-Verlag artikuliert. An allen Universitäten, in allen Kultureinrichtungen passierte mehr oder weniger dasselbe. Doch wir sind eben als Musterbeispiel, als exemplarische Prügelknaben benutzt worden. Dann folgten ja die Prozesse in Leipzig, in Rostock, in Dresden, dort griff man ein paar Ärzte, ein paar Rechtsanwälte und da ein paar Professoren, um überall die kritische Haltung der Intellektuellen abzutöten, um Ulbrichts angeschlagenes politisches Prestige zu retten, indem man die kritische Auseinandersetzung beendete.

Wir erreichten damals eben leider nicht, was notwendig ist um gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen: nämlich Volksmassen in Bewegung zu setzen. Die Volksmassen waren durch die Ereignisse im Juli 1953 so demoralisiert, desinteressiert.

Uns ging es damals natürlich nicht darum, den Sozialismus oder gar die DDR abzuschaffen, so wie es jetzt in Gang gekommen ist .Wir wollten die DDR wirklich zu einem Alternativstaat zur bundesdeutschen kapitalistischen Gesellschaft machen. Das war, ich behaupte für mindestens 95 Prozent der Intellektuellen im Jahre 1956, der Hintergrund aller Kritik. Nur das wäre eben ausschließlich durchsetzbar gewesen, wenn man sich von Leuten getrennt hätte, die dem im Wege standen. Und da stand an der Spitze Walter Ulbricht.

Ob wir nicht auch schon rechtzeitig hätten anfangen müssen, ökonomische Korrekturen vorzunehmen, das lasse ich jetzt mal dahingestellt. Zumindest war ich schon damals der Meinung, dass es ein ganz schlimmer Fehler war, den Mittelstand über Nacht kaputtzumachen und ihn durch nichts zu ersetzen. So brachen Dienstleistungen zusammen. Mit der Bildung von Genossenschaften konnte das gar, nicht kompensiert werden. Das Verhältnis zum Mittelstand, glaube ich, wird auch in Zukunft eine wichtige Frage sein.

Und die dritte Etappe?

. . . begann mit Gorbatschow, mit Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion. Das war aber wirklich schon ein sehr später Zeitpunkt. Wir hätten da nur etwas bewirken können, wenn wir uns möglichst sofort von dieser, jetzt sage ich es mal ganz bösartig, von dieser Rentner-Mafia befreit hätten, die völlig unfähig war, ihr Denken und ihr Handeln zu verändern. Dazu zählen die Leute von Stoph und Honecker bis Axen, Mielke, Mittag und Tisch. Die hätten wir einfach ersetzen müssen durch frische, jüngere, durch die Nachfolgegeneration.

Ja, wir hätten es darauf ankommen lassen sollen, die alte Führungsriege notfalls vor die Tür zu setzen. Aber wir haben alle Angst gehabt, dass wir einen unkontrollierbaren Prozess in Gang bringen. Außerdem hätte die Staatssicherheit ja prompt dafür gesorgt, dass eine kritische Artikulation - gerade auch in der Partei - sofort unterdrückt worden wäre.

Nochmals konstatiert: Der Versuch Sozialismus ist hierzulande - vorläufig – gescheitert. Sie sind zeitlebens für dieses Ideal eingetreten. Wie leben Sie jetzt mit dieser Situation? Gibt es Dinge, die Ihnen Hoffnung vermitteln, trotz alledem, sage ich mal?

Ich glaube schon, dass der Versuch ja nicht nur in der DDR gescheitert ist, sondern in allen anderen Ländern, die sich ehemals als sozialistisch verstanden. Auch in der Sowjetunion steht das Problem an, dass eine längere Zeit nötig sein wird, um neue gesellschaftliche Modelle zu entwickeln, die möglicherweise zu einer realen Alternative der kapitalistischen Welt werden. Dieses Zukunftsmodell wird lange Geburtswehen überstehen müssen.

Doch vor einem Auditorium in Mainz - da waren mehrere hundert Journalisten versammelt habe ich kürzlich unter Beifall des Publikums auch gesagt: Der Kapitalismus hat bisher noch nicht bewiesen, dass er die beste und einzig mögliche Gesellschaftsformation ist, um allen Menschen eine sichere Zukunft zu garantieren. Mit dem Hitlerismus haben wir in Deutschland selbst das schlimmste Beispiel erlebt. Oder denken wir an die lange Reihe jener Länder der kapitalistischen Welt für die Portugal oder Chile stehen. Wer redet heute davon?

Viel wird darüber gesprochen, dass wir im Herbst eine Revolution erlebt hätten. Ich würde schon sagen, dass revolutionäre Haltungen und Handlungen eine Rolle spielten. Doch was erleben wir jetzt? Jedenfalls nicht das, was im Oktober/November als Alternative von vielen Leuten gewollt war. Ihnen ging es ja nicht darum, die DDR zu liquidieren. Sie wollten sie verändern. Und das hieß bei den meisten Leuten nicht Abschaffung der sozialistischen Perspektiven, sondern aus dem sogenannten „real existierenden Sozialismus" einen wirklichen Sozialismus zu machen.

Die bedingungslose Auslieferung an die Bundesrepublik wird eine Menge Folgen haben. Sicher, einige Leute auch hier in der DDR werden materiell davon profitieren. Das kann ich schon jetzt beobachten, in meiner nächsten Umgebung in Kleinmachnow. Aber jeder Dummkopf weiß, dass wir in ein paar Monaten eine Million Arbeitslose haben werden. Und da wird es einen qualitativen Unterschied zur Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik geben. Die hat zur Zeit die ökonomischen Voraussetzungen, um sich den Luxus zu leisten, zwei Millionen Arbeitslose so durchzuschleppen, dass die Gesellschaft daran nicht zugrunde geht. Bei uns wird eine Arbeitslosigkeit einsetzen, bei der Facharbeiter im besten Alter ihre Arbeit verlieren. Und das wird psychologisch und atmosphärisch etwas ganz anderes sein, soweit es die Arbeitslosigkeit betrifft, als drüben.

Vor den möglichen, daraus folgenden sozialen Verwerfungen ist ja schon mehrfach gewarnt worden . . .

Ja, und wir dürfen uns nicht der Spekulation hingeben, dass die damit verbundene Verelendung unbedingt zur Folge haben muss, dass die Betroffenen nach links driften. Der Nazismus, die SA und die SS, rekrutierten ihre Gefolgschaft mindestens zu 80 Prozent aus ehemaligen arbeitslosen Arbeitern. Verelendung führte damals dazu, dass die Arbeitslosen nach jedem Strohhalm griffen. Sicher, wird es Leute geben, die sich besinnen und begreifen, dass die Linken das einzig wirksame Korrektiv sein können, aus der Opposition heraus. Aber die Gefahr ist sehr groß, dass wieder mal ein starker Rechtsruck erfolgt.

Ihre Arbeit in der Kommission, um darauf noch einmal zurückzukommen, ist ja auch ein Stück Beitrag zur Aufarbeitung von Vergangenheit. Im Augenblick scheint so etwas jedoch nicht besonders gefragt. Lieber lässt man Verdrängungsmechanismen freien Lauf, weil das politisch bequemer ist.

Ich glaube, dass der Durchschnittsbürger gar nicht so sehr darauf aus ist, sich immer wieder mit der Vergangenheit zu befassen. Das tun aber diejenigen, die sich politisch profilieren, artikulieren und populär machen wollen. Und da sie kein Gesellschaftskonzept haben, das eine Vorwärtsentwicklung erkennen lässt, prügeln sie nicht nur auf die ehemalige Staatssicherheit ein, sondern auf die PDS, stereotyp in bestimmten Medien als "Nachfolgeorganisation der SED" benannt. Man spekuliert darauf, dass das bald eingeführte Westgeld einen Konsens schaffen wird. Wirkliche, individuelle Beschäftigung mit Vergangenem stört da eher.

Zum Abschluss: Wenn Sie Wünsche frei hätten, wie diese Welt Im Jahr 2000 aussehen sollte, welche würden Sie - Realismus unterstellt - nennen?

Erst einmal würde ich mich da an Gorbatschow halten, der da sagt, wir müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so einrichten, dass sie menschlich sind. Zweitens, dass wir mit allen Mitteln, wenn nötig mit schmerzlichen Konzessionen, den Frieden erhalten können. Denn gewaltsame Auseinandersetzungen können nur noch Katastrophen zur Folge haben.

(1) Der Philosoph und Literaturwissenschaftler Wolfgang Harich, geboren 1923, wurde am 9. März 1957 vom Obersten Gerichtshof der DDR in einem politischen Schauprozess zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er mehr als acht Jahre in Berlin und Bautzen verbüßte. Das damalige Urteil gegen Harich wurde am 1. April 1990 kassiert. Wolfgang Harich erstattete im Januar Strafanzeige gegen Walter Janka wegen dessen Aussagen in einer Sendung des DDR-Fernsehens am 24. Januar 1990;

(2) Ernst Melsheimer (1897-1960) trat als geifernder Ankläger 1956 im Prozess gegen Walter Janka und andere auf. Melsheimer, 1956 Generalstaatsanwalt der DDR, hatte in der Zeit des Faschismus unbehelligt als Jurist arbeiten können;

(3) Hilde Benjamin (1902-1989) wurde nach dem 17. Juni 1953 Justizminister der DDR und blieb es bis zu ihrer Ersetzung durch Kurt Wünsche 1967. Hilde Benjamin war seit 1927 Mitglied der KPD. Ihr Mann Georg Benjamin war 1942 nach acht Jahren Haft von den Nazis umgebracht worden;

(4) Noel H. Field (1904-1972), in London geborener Amerikaner, arbeitete in den 20er und 30er Jahren im diplomatischen Dienst in den USA, später beim Völkerbund. Ab 1940 leitete er zusammen mit seiner Frau Herta die europäische Zentrale des Unitarien Service Committe (USC), einer christlich motivierten, privaten wohltätigen Organisation. In dieser Funktion setzte er sich für die Rettung von Verfolgten des Nazi-Regimes ein. So bekam er auch Kontakt zu zahlreichen Kommunisten aus verschiedenen europäischen Ländern. Nach Ende des zweiten Weltkrieges blieb er in Europa. Bei einer Reise nach Prag verschwand er am 12. Mai 1949 spurlos aus seinem Hotel. Seine Frau ereilte am 25. Mai 1949 dasselbe Schicksal. Der sowjetische Geheimdienst MWD benutzte Field in den folgenden Jahren als Schlüsselfigur in den großen Schauprozessen gegen den ungarischen Spitzenpolitiker Laszlo Rajk und den Generalsekretär der KPTsch Rudolf Slansky, die der bedingungslosen Disziplinierung der Kommunistischen Parteien in den betreffenden Ländern dienten. Field wurde beschuldigt, ein Agent des amerikanischen Geheimdienstes zu sein. Über sein Wirken finden sich in der Internationalen Literatur die widersprüchlichsten Theorien. Unsere Angaben folgen dem Buch von Georg Herrmann Hodos „Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54", das vor wenigen Wochen im LinksDruck Verlag Berlin erschien;

(5) Paul Merker (1894-1969) trat 1918 der USPD bei und war seit der Vereinigung mit der KPD 1920 deren Mitglied. Zur Zeit des Faschismus war er u. a. im KPD-Auslandssekretariat in Paris tätig. Später floh er weiter nach Mexiko. 1946 auf dem Vereinigungsparteitag wurde er in das Zentralsekretariat des Parteivorstandes der SED gewählt, gehörte später dem Politbüro an. 1950 wegen "Verbindung mit dem Agenten der amerikanischen Spionage, Noel H. Field, und umfangreicher Hilfe für den Klassenfeind" aus der Partei ausgeschlossen. Er leitete dann eine HO-Gaststätte in Luckenwalde. 1952 im Gefolge des Prager Slansky-Prozesses verhaftet, verbrachte er vier Jahre hinter Zuchthausmauern. Nach seiner Entlassung 1956 wurde er nur halbherzig rehabilitiert;

(6) Franz Dahlem (1892-1981) trat 1913 der SPD bei, war ab 1917 Mitglied der USPD und ab 1920 der KPD, die er von 1928 bis 1933 im Reichstag vertrat. Ab 1934 im Auslandssekretariat der KPD in Paris tätig, ging er 1937 nach Spanien, wo er an der politischen Leitung der Internationalen Brigaden mitwirkte. 1939 in Frankreich verhaftet, wurde er 1942 an die Gestapo ausgeliefert. 1953 wurde er aus dem Politbüro und Zentralkomitee der SED ausgeschlossen, offiziell u. a. "wegen politischer Blindheit gegenüber der Tätigkeit imperialistischer Agenten". Nach öffentlicher Rehabilitierung wurde er 1957 in das ZK der SED kooptiert, gelangte jedoch nicht wieder in das Politbüro. Er arbeitete im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, war ab 1967 stellvertretender Minister. 1977/78 erschienen seine Memoirenbände "Am Vorabend des zweiten. Weltkrieges. Erinnerungen".

Neues Deutschland, Fr. 22.06.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 143

[* Mit Bautzen und Brandenburg sind Gefägnisse gemeint.]

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