Die NVA war gegen das Volk nicht einsetzbar
Interview mit dem Chef der Nationalen Volksarmee, Admiral Theodor Hoffmann
Die Nationale Volksarmee befindet sich im Umbruch. Neben den vielen Fragen nach ihrer Perspektive wird nach wie vor die Rolle der Armee im Herbst 1989 diskutiert. BZ sprach mit dem Chef der NVA, Admiral Theodor Hoffmann (55).
BZ: Es gibt widersprüchliche Aussagen über den Einsatz der Armee im Oktober und November des vergangenen Jahres. Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar?
T. Hoffmann: Kurz nach meiner Berufung als Verteidigungsminister im November 1989 bildeten wir einen Ausschuss zur Untersuchung von Fällen des Amtsmissbrauchs, der Korruption und der persönlichen Bereicherung in der NVA und den Grenztruppen der DDR. Dieser beschäftigte sich auch mit dem Einsatz der NVA im Herbst des vergangenen Jahres. Neben der Aufarbeitung der Dokumente wurden zahlreiche Armeeangehörige befragt. Um aber die Haltung der Armee im Herbst 1989 und zur Revolution insgesamt zu verstehen, möchte ich die Situation in den Monaten zuvor charakterisieren.
Bereits im Juni kam aus den Reihen der Militärs massiv die Forderung, die Partei und Regierung müsse Haltung zu den Ereignissen beziehen. Ausgangspunkt waren die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern und zunehmende Demonstrationen. Zugleich war uns klar, in der Armee sind Veränderungen notwendig. Sie müsse sich mehr dem Volk öffnen.
Ich war damals der festen Überzeugung, und mit mir viele Offiziere und Soldaten, dass die entstandene Situation nicht allein mit der Propaganda des westlichen Gegners zu erklären sei. Vielmehr seien es die inneren Umstände in der DDR.
BZ: Sind Sie mit Ihrer Meinung öffentlich aufgetreten?
T. Hoffmann: Diese Probleme haben in den Gesprächen unter uns immer eine Rolle gespielt, auch wenn das nicht in dem Maße an die Öffentlichkeit gelangt ist. Es gab zudem viel Unzufriedenheit auch unter den Kommandeuren. Ich habe mich gefragt, warum wir beispielsweise nicht mit den neuen Bürgerbewegungen ins Gespräch kommen. Wir waren ja durch die Führung aufgefordert, uns in der Armee mit deren Programmen auseinanderzusetzen. Aber wir kannten diese Programme nicht.
BZ: Die Verfassung der DDR, Artikel 7 und 23 schreiben fest, dass die NVA ausschließlich das Volk und den Staat nach außen zu schützen hat. Steht das nicht im Widerspruch zum Einsatz der Armee im Oktober und November?
T. Hoffmann: Der Untersuchungsausschuss hat eindeutig festgestellt, dass der Einsatz der NVA zur gewaltsamen Auflösung von Demonstrationszügen nicht vorgesehen war und es außer in Dresden keine aktiven Handlungen von Armeeangehörigen gegenüber Demonstranten gab. Die Hundertschaften waren lediglich zur Unterstützung der Volkspolizei und der Ordnungs- und Sicherheitskräfte zum Schutz von Objekten vorgesehen. Anderslautende Weisungen sind mir nicht bekannt. Wurden auch vom Untersuchungsausschuss nicht ermittelt.
BZ: Der ehemalige Verteidigungsminister Heinz Keßler hat kürzlich die Behauptung von Minister Eppelmann zurückgewiesen, er hätte eine blutige Niederschlagung der Revolution angewiesen. Wie stehen Sie dazu?
T. Hoffmann: Ich möchte ganz deutlich unterstreichen, aus meiner Sicht war die Nationale Volksarmee gegen das eigene Volk nicht einsetzbar. Bei den Einweisungen des damaligen Ministers Keßler, an denen ich als Chef der Volksmarine teilgenommen habe, ist auch er immer davon ausgegangen, dass die NVA nicht gegen Demonstranten eingesetzt und jeglicher Einsatz von Schusswaffen ausgeschlossen wird. Sie sollte lediglich die Polizei unterstützen und nur in der zweiten Reihe.
BZ: Was bestärkt Sie in Ihrer Einschätzung, dass die Armee nicht hätte gegen das Volk eingesetzt werden können?
T. Hoffmann: Die Stimmung in der Armee selbst. Die meisten sahen in den neuen Bürgerbewegungen nicht die Feinde unseres Landes. Auch glaubte die Masse der Soldaten und Offiziere nicht der Einschätzung der damaligen, Parteiführung, es werde eine Konterrevolution vorbereitet. Selbst die Führung der NVA hatte allmählich das Vertrauen in die Parteispitze verloren. Da war diese Sprachlosigkeit der Führung und die falsche Informationspolitik. Ich wurde damals gefragt, ob ich die Marine gegen das Volk einsetzen würde. Und ich habe eindeutig diese Frage verneint, ebenso wie ich die Frage verneint habe, ob wir einen Militärputsch machen würden.
BZ: Während der Generalprobe am Abend des 4. Oktober wurde aber durch Keßler die Weisung erteilt, im Militärbezirk III, Leipzig, erhöhte Gefechtsbereitschaft auszulösen. Im Raum Dresden wurde dieser Befehl im Zusammenhang mit den Zugdurchfahrten von Prag in die BRD durchgeführt. Laut Untersuchungsausschuss wurde mit der Auflösung der erhöhten Gefechtsbereitschaft die Weisung zur Ausgabe von 30 Schuss Munition für MPi und 12 Schuss für Pistolen gegeben.
T. Hoffmann: Das stimmt. Aber in der Erkenntnis der Gefahren, die durch das Mitführen von Waffen bestanden, wurde auf Ersuchen der in Dresden eingesetzten Generale und Offiziere am 6. Oktober durch Keßler selbst der Verbleib der Waffen in den Objekten befohlen. Ich nahm an der Generalprobe der Parade am 4. Oktober teil. Aber selbst in der Armee und in der Armeeführung gab es keinen Informationsaustausch über die Situation in Dresden und wie die Lage sich weiter entwickelte.
BZ: Hat die damalige Partei- und Staatsführung nach Ihrer Ansicht die Lage so kritisch eingeschätzt, dass sie eine "chinesische Losung" erwog?
T. Hoffmann: Ich glaube, die damalige Führung befürchtete vor allem, dass es zu massenhaften Grenzdurchbrüchen kommen würde. Ich erinnere mich auch deshalb daran, weil es ungewöhnlich war, dass ich eine besondere Weisung für die Sicherung der Seegrenze erhielt. Das war vorher nie der Fall gewesen.
BZ: Gab es Absprachen mit dem Oberkommando der Warschauer Vertragsstaaten und der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte über ein militärisches Eingreifen?
T. Hoffmann: Das kann ich nicht bestätigen. Und ich halte es auch nicht für wahrscheinlich. Wir haben dazu auch in den Untersuchungen keine Hinweise erhalten. Die Behauptungen, die Sowjetarmee hätte einen Einsatz der Volksarmee verhindert, haben keinerlei sachlichen Hintergrund. Alle Entscheidungen lagen im hiesigen Verantwortungsbereich. Um Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, es gab und gibt in Friedenszeiten im Warschauer Vertrag im Unterschied zur NATO ohnehin keine ständigen Unterstellungen von Truppen oder integrierte Stäbe.
BZ: Sie haben vor einiger Zeit gesagt, dass Sie aus der Geschichte keine Beispiele kennen, wo wahrend einer Revolution die Armee keine Schwierigkeiten gehabt hätte. Worin sehen Sie die Schwierigkeiten der NVA mit dieser Revolution?
T. Hoffmann: Mit Beginn dar Umwälzungen erwarteten auch die Soldaten Reformen in der Armee selbst. Die blieben anfangs aus, weil das Bekenntnis der damaligen Armeeführung zur Wende fehlte. Und das führte zu einer komplizierten Situation zwischen Armee und Volk. Zwei Tage nach meiner Berufung zum Verteidigungsminister haben wir auf einer Kommandeurstagung am 20. November dieses Bekenntnis abgegeben, und wir haben von diesem Zeitpunkt an begonnen, Reformen in der Armee durchzuführen. Wir sind aber faktisch den Ereignissen hinterhergelaufen.
Aus der heutigen Sicht zur Rolle der Nationalen Volksarmee im Herbst kann ich mit gutem Gewissen sagen: Der überwiegende Teil der Soldaten und Offiziere war von der Notwendigkeit der Wende überzeugt. Und in dieser Überzeugung wurde jeder Einsatz der Demonstrativhandlungen gegen die Massenaktionen der friedlichen Protestbewegung unterlassen.
Das Gespräch führte Peter Hörn
Noch dem Interview, kurz vor Redaktionsschluss, erreichte uns die Meldung, dass bis zum 30. September dieses Jahres 1 795 Generale und Offiziere im Alter von 55 bis 60 Jahren entlassen werden. Die Rückfrage im Ministerium ergab, dass diese Offiziere in den Vorruhestand versetzt werden. Wird der Chef der NVA auch dazugehören?
Berliner Zeitung, Mo. 20.08.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 193