Die Mathematik der deutschen Vereinigung: Zwei und vier gibt eins

Michail Gorbatschow fordert Mitspracherecht der "Völkergemeinschaft", militärisches Gleichgewicht und Sicherheit der Grenzen

Vor einer Woche erschien in der Mittwochsausgabe (21. Februar) der Moskauer Zeitung "Prawda" ein Interview mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zur "deutschen Frage". In dem Gespräch der Zeitung ging Gorbatschow auch auf die Problematik der deutschen Einheit ein. Wir dokumentieren das "Prawda"-Interview in einer Übersetzung, die uns die Nachrichtenagentur Nowosti zur Verfügung stellte.

"Prawda": Unsere Redaktion erhält Zuschriften, in denen um Erläuterungen zur Frage einer Vereinigung Deutschlands gebeten wird. Bekanntlich gibt es dazu im Westen eine Vielzahl verschiedener Stellungnahmen, darunter auch zu den Ergebnissen Ihres Treffens mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Was könnten Sie dazu sagen?

Michail Gorbatschow: Das ist in der Tat eine sehr wichtige Frage, eine der Hauptfragen in der gegenwärtigen internationalen Politik. Ich würde sie in zwei Aspekte gliedern.

Der erste ist das Recht der Deutschen auf Einheit. Wir haben dieses Recht nie in Abrede gestellt. Ich möchte daran erinnern, dass sich die Sowjetunion selbst unmittelbar nach dem Krieg, der unserem Volk sowohl berechtigten Siegesstolz gegeben als auch unermessliches Leid gebracht und natürlichen Hass auf die Schuldigen an dem Krieg eingeflößt hatte, gegen eine Teilung Deutschlands wandte. Wir sind nicht die Urheber dieser Idee und auch nicht dafür verantwortlich, wie sich die Dinge unter den Bedingungen des kalten Krieges entwickelten.

Mehr noch: Selbst dann, als zwei deutsche Staaten entstanden waren, hielt die Sowjetregierung gemeinsam mit der DDR weiterhin am Prinzip der Einheit Deutschlands fest. 1950 unterstützte die UdSSR den Vorschlag der DDR zur Wiederherstellung einer gesamtdeutschen Staatlichkeit. Am 10. März 1952 unterbreitete die Sowjetregierung einen Plan zur Vereinigung Deutschlands zu einem einheitlichen demokratischen und neutralen Staat. Der Westen lehnte diesen Vorschlag ab. 1954 schlugen wir auf einer Außenministerkonferenz in Berlin die Schaffung eines einigen entmilitarisierten Deutschland vor. Auch das wurde abgelehnt. Ein Jahr später, am 15. Januar 1955, unterbreitete die Sowjetregierung den Vorschlag, ein geeintes Deutschland mit einer aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierung zu schaffen, mit der ein Friedensvertrag unterzeichnet werden sollte. Auch auf diesen Vorschlag wurde nicht eingegangen. 1957/58 wurde der von der DDR unterbreitete und von uns aktiv unterstützte Vorschlag zur Gründung einer deutschen Konföderation nicht einmal diskutiert 1958 kam auf einer Außenministerkonferenz der vier Mächte ein weiterer sowjetischer Vorschlag auf den Tisch, nämlich einen Friedensvertrag mit einem einheitlichen vereinten Deutschland zu schließen, das keiner militärisch-politischen Gruppierung angehören, aber über ein gewisses militärisches Potential verfügen sollte. Mit dem gleichen Erfolg.

Aber auch beim Abschluss des Moskauer Vertrages schloss die UdSSR in Perspektive eine Überwindung der deutschen Spaltung nicht aus. Ein Beweis dafür ist, dass der von Brandt und Scheel in Verbindung mit der Unterzeichnung dieses Vertrages vorgelegte "Brief zur deutschen Einheit" von unserer Regierung akzeptiert wurde.

Soweit die Tatsachen. Wie Sie sehen, ist diese Frage für uns nicht neu. Wir gehen davon aus - und das sagte ich wiederholt sowohl öffentlich als auch bei Kontakten mit deutschen Politikern -, dass die Geschichte es nun einmal so gefügt hat, dass zwei deutsche Staaten entstanden sind, und dass die Geschichte auch darüber zu befinden hat, in welcher Staatsform letztendlich die deutsche Nation bestehen wird. Und nun setzte sich die Geschichte unerwartet schnell in Bewegung. Im Hinblick darauf bekräftigten wir ein weiteres Mal, dass die Deutschen selbst zu bestimmen haben, wie, zu welchen Fristen und in welchen Formen ihre Vereinigung vor sich gehen soll. Davon war auch bei den Gesprächen mit Hans Modrow und bald darauf mit Helmut Kohl die Rede. Aber das ist nur eine Seite des Problems und auch nicht das einzige, worum es bei diesen Gesprächen ging.

Was meinen Sie?

Vor allem, dass eine Vereinigung Deutschlands nicht die Deutschen allein berührt Bei allem Respekt vor ihrem nationalen Recht ist die Situation doch so, dass man sich nicht vorstellen kann, dass sich die Deutschen untereinander einigen und danach allen anderen vorschlagen, nur noch die von ihnen gefassten Beschlüsse zu billigen. Es gibt grundlegende Dinge, von denen die Völkergemeinschaft Kenntnis haben muss und die keine Zweideutigkeit dulden.

Ferner muss von vornherein klar sein, dass weder der Prozess der Annäherung zwischen der BRD und der DDR selbst noch ein geeintes Deutschland eine Bedrohung oder Beeinträchtigung der nationalen Interessen der Nachbarn und überhaupt irgendeiner anderen Seite mit sich bringen darf. Ausgeschlossen ist natürlich auch jede Infragestellung der Grenzen anderer Staaten.

Neben der Unverletzlichkeit der als Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen Grenzen, was das Wesentlichste ist, gibt es auch andere Dinge als Folgen des Krieges. Niemand hat die Verantwortung der vier Mächte aufgehoben. Und nur sie selbst können sich von dieser Verantwortung suspendieren. Noch gibt es keinen Friedensvertrag mit Deutschland. Nur er kann aber auf völkerrechtlicher Basis endgültig den Status Deutschlands in der Struktur Europas bestimmen.

Lange Zeit wurde die Sicherheit, wie auch immer, durch die Existenz zweier militärpolitischer Bündnisse, der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO, aufrechterhalten. Einstweilen zeichnen sich erst Voraussetzungen für die Herausbildung eines neuen Sicherheitssystems in Europa ab. Daher bleibt auch die Rolle dieser Bündnisse bestehen, obwohl sie sich mit dem Abbau der Konfrontation bewaffneter Kräfte, der Verminderung der militärischen Sicherheitskomponente und der Verstärkung der politischen Aspekte ihrer Tätigkeit wesentlich modifiziert. Folglich muss auch eine Vereinigung Deutschlands unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten vor sich gehen, und zwar der Unzulässigkeit einer Störung des militärstrategischen Gleichgewichts dieser beiden internationalen Organisationen. Hier muss völlige Klarheit bestehen.

Und ein letzter Umstand. Aus dem Gesagten geht hervor, dass der Prozess der Vereinigung Deutschlands mit dem gesamteuropäischen Prozess organisch verbunden ist und mit diesem synchron verlaufen muss, mit seiner Grundlinie - der Herausbildung einer grundsätzlich neuen Struktur der europäischen Sicherheit, die die Blockstruktur ablösen wird.

Bekanntlich haben die Außenminister in Ottawa einen Mechanismus für die Erörterung der deutschen Frage unter Beteiligung der UdSSR, der USA, Großbritanniens, Frankreichs, der BRD und der DDR vereinbart Könnten Sie erläutern, wie man sich die Rolle dieses Mechanismus vorstellt?

In der Tat, es geht um eine bestimmte Form der Erörterung der deutschen Frage unter den sechs genannten Staaten. Übrigens ist die Idee für ein solches Verfahren gleichzeitig und unabhängig in Moskau und in den westlichen Hauptstädten entstanden. Wir besprachen sie mit Hans Modrow und später mit Helmut Kohl. Daher ist es kaum angebracht, irgendwelche "Prioritäten" für sich in Anspruch zu nehmen. Die rechtliche Grundlage aber hängt mit den Ergebnissen des Krieges und mit der Verantwortung der vier Mächte für die künftige Rolle Deutschlands in der Welt zusammen. Zugleich trägt sie auch den gewaltigen Veränderungen, die sich seither in Europa, in der Welt und in den beiden deutschen Staaten selbst vollzogen haben, Rechnung und schließt diese deshalb in die Formel dieses Mechanismus ein, der bedingt als zwei und vier bezeichnet wurde.

Die Aufgabe besteht darin, alle äußeren Aspekte einer deutschen Vereinigung allseitig und etappenweise zu erörtern, das Problem zur Aufnahme in den gesamteuropäischen Prozess und zur Erörterung der Grundlagen eins künftigen Friedensvertrages mit Deutschland vorzubereiten. Dabei hängen die Effektivität solcher Konsultationen und deren Ansehen vom Grad des Vertrauens und der Offenheit zwischen allen Teilnehmern ab.

Selbstverständlich können die souveränen Staaten jegliche Kontakte, darunter auch zur deutschen Frage, auf bilateraler und auf jeder anderen Grundlage pflegen. Wir schließen aber ein solches Herangehen aus, bei dem drei oder vier anfangs Abmachungen untereinander erzielen und den anderen Teilnehmern eine bereits abgestimmte Position präsentieren würden. Das ist unannehmbar.

Ist aber in dieser Prozedur nicht etwa ein Element von Diskriminierung der anderen Länder vorhanden, die ebenfalls am Krieg teilgenommen haben?

Die Frage ist berechtigt. Gerade deshalb verbinden wir den "zwei-und-vier"-Mechanismus mit dem gesamteuropäischen Prozess, ohne das historisch bedingte Recht der vier Mächte zu schmälern, und haben zugleich Verständnis für das besondere Interesse anderer Länder, die in dieser Formel nicht berücksichtigt sind. Und folglich auch für ihr legitimes Recht, ihre nationalen Interessen zu verteidigen. Ich meine vor allem Polen - die Unerschütterlichkeit seiner Nachkriegsgrenzen wie auch der Grenzen der anderen Staaten muss garantiert werden. Eine Garantie dafür könnte nur ein völkerrechtlicher Akt sein.

Wie beurteilen Sie bestimmte Besorgnisse sowjetischer Menschen, wie auch anderer europäischer Völker, hinsichtlich der Entstehung eines geeinten deutschen Staates im Zentrum Europas?

Sowohl historisch als auch psychologisch ist diese Besorgnis verständlich. Obgleich nicht in Abrede gestellt werden kann, dass das deutsche Volk aus der Erfahrung der Hitlerherrschaft und des Zweiten Weltkrieges Lehren gezogen hat. In beiden deutschen Staaten sind neue Generationen herangewachsen, die die Rolle Deutschlands in der Welt anders einschätzen, als es beispielsweise im Laufe letzten mehr als hundert Jahre und besonders in der Nazizeit getan wurde.

Wichtig ist natürlich auch, dass nicht nur von der Öffentlichkeit der BRD und der DDR, sondern auch auf offizieller staatlicher Ebene vor der ganzen Welt mehr als einmal erklärt wurde: Von deutschem Boden darf niemals mehr ein Krieg ausgehen. Und im Gespräch mit mir hat Helmut Kohl eine Erläuterung dieser Formel gegeben, die zu noch mehr verpflichtet: Von deutschem Boden darf nur Frieden ausgehen.

All das stimmt. Niemand darf aber das negative Potential ignorieren, das in der Vergangenheit Deutschlands entstanden ist. Es ist erst recht undenkbar, die Erinnerung der Völker an den Krieg, an sein Grauen und die dadurch verursachten Verluste nicht zu berücksichtigen. Deshalb ist es überaus wichtig, dass die Deutschen, indem sie das Problem der Vereinigung lösen, ihre Verantwortung nicht vergessen sowie das, dass es notwendig ist, nicht nur die Interessen, sondern auch die Gefühle der anderen Völker zu respektieren.

Das gilt besonders für unser Land, für das sowjetische Volk. Es hat ein unveräußerliches Recht, damit zu rechnen und darauf hinzuwirken, dass eine Vereinigung der Deutschen weder einen moralischen noch einen politischen, noch einen ökonomischen Schaden für unser Land nach sich ziehen wird, und dass letztendlich das alte „Vorhaben" der Geschichte realisiert wird, die unser Miteinander bestimmt, die unsere Völker durch Beziehungen und tiefes gegenseitiges Interesse verbunden, unsere Geschicke - mitunter in tragischen Kollisionen - zusammengeführt hat und uns unter den Bedingungen der neuen Epoche eine Chance bietet, einander zu vertrauen und eine fruchtbare Zusammenarbeit zu pflegen.

Wie könnte die dieser Tage in Ottawa erzielte Vereinbarung bewertet werden, die zahlenmäßige Truppenstärke der UdSSR und der USA in Mitteleuropa auf ein Niveau von 195 000 Mann zu reduzieren?

Ich bewerte sie als wichtig und positiv. Die Initiative stammt von US-Präsident George Bush. Diese Initiative selbst ist allerdings unter den Bedingungen der Gesundung der internationalen Situation und der Verbesserung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen möglich geworden, die durch das Treffen von Malta ein weiteres Mal eine starke Förderung erfuhr. Der Vorschlag von George Bush steht im Kontext der Wiener Verhandlungen über die Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa. Deshalb haben wir ihn nach einer eingehenden Analyse positiv beantwortet und sogar eine noch radikalere Variante vorgeschlagen: 195 000 Mann nicht für Mittel-, sondern für ganz Europa außerhalb der UdSSR. Wir haben allerdings sofort gesagt, dass auch die Variante des Präsidenten annehmbar ist.

Bekannt sind unsere programmatischen Vorschläge, alle Truppen bis 1995/1998 in die nationalen Grenzen zurückzuführen und bis zum Jahr 2000 auch alle ausländischen Militärstützpunkte zu beseitigen. Über den Abzug unserer Truppen aus Ungarn und de Tschechoslowakei wird bereits mit den Regierungen dieser Länder verhandelt.

Kurzum, die Vereinbarung über die Reduzierung der militärischen Präsenz der USA und der UdSSR in Mitteleuropa steht in vollem Einklang mit der Haupttendenz der internationalen Entwicklung, sie dient dem Frieden.

Um die Vereinbarung zu realisieren, wird die Sowjetunion eine größere Truppenreduzierung vornehmen müssen, als die Vereinigten Staaten. Außerdem belassen die USA in Europa außerhalb seines zentralen Teils weitere rund 30 000 Mann. Wird sich das nicht auf das Kräftegleichgewicht und auf unsere Sicherheit auswirken?

Ich möchte kurz mit einem "Nein" erwidern. Die Frage müsste aber ausführlicher beantwortet werden.

Natürlich berechnen wir auch heute das Verhältnis zwischen unseren Militärpotentialen. Die traditionellen Vorstellungen, die Sicherheit müsse vorwiegend auf dem Wege der Steigerung der militärischen Stärke gewährleistet werden, gehören jedoch immer mehr der Vergangenheit an. Der neue Charakter des zwischenstaatlichen Dialogs und die Stabilität des Verhandlungsprozesses haben die politischen Faktoren auch in dieser Sphäre viel gewichtiger gemacht In die globale und in die europäischen Politik sind derart große Kräfte einbezogen, dass eine reale militärische Bedrohung wesentlich verringert worden ist. Der Entwicklungsprozess eines grundsätzlich neuen Systems der international Sicherheit ist im Gange.

Ich denke, dass die sowjetisch-amerikanische Vereinbarung die Erarbeitung eines Abkommens in Wien spürbar erleichtert, das bis Zum Ende dieses Jahres bei einem gesamteuropäischen Treffen unterzeichnet werden könnte.

Was speziell den militärischen Aspekt dieses Problems anbelangt, der von uns eingehend geprüft wurde, so würde eine Reduzierung der Streitkräfte außerhalb unseres Landes unsere Verteidigungsfähigkeit angesichts der heute entstehenden militärpolitischen Situation nicht abschwächen: Sie wird auf einem angemessenen Niveau aufrechterhalten.

Frankfurter Rundschau, Nr. 20, Mi. 28.02.1990

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