Brief der Evangelischen Kirchen in der DDR an Erich Honecker
Liebe Schwestern und Brüder!
Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen hat sich auf ihrer Tagung am 2. September 1989 mit einem Schreiben an den Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik gewandt. Im folgenden geben wir den Wortlauf bekannt:
Beunruhigt und betroffen sieht die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, dass die Zahl derer, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen, nicht abnimmt, dass Bürger auf dem Weg über die ungarisch-österreichische Grenze die DDR verlassen, und dass einzelne Ihre Ausreise mit anderen Aktionen zu erzwingen suchen.
Die Konferenz ist im Blick auf diese Situation ratlos. Auch die von der Konferenz erbetenen Reiseerleichterungen haben in Ihrem bisherigen Umfang nicht dazu geführt, die Zahl der Ausreiseanträge zu vermindern.
Die Konferenz kann keine kurzfristige Lösung für diese Probleme anbieten. Sie sieht eine wesentliche Ursache für Ausreiseanträge darin, dass von den Bürgern erwartete und längst überfällige Veränderungen in der Gesellschaft verweigert werden. Sie hält es für unabdingbar und dringlich, in unserem Land einen Prozess in Gang zu setzen, der die mündige Beteiligung der Bürger an der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Lebens und eine produktive Diskussion der anstehenden Aufgaben in der Öffentlichkeit sichert und Vertrauen zur Arbeit der staatlichen Organe ermöglicht.
Wir bitten deshalb erneut und dringlich darum,
• offene und wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von Unzufriedenheit und Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zu führen und sie nicht sogleich durch stereotype Belehrungen oder sogar Drohungen abzuweisen;
• kritische Einwände der Bürger aufzunehmen und so zu berücksichtigen, dass sie in erkennbaren Veränderungen wirksam werden, die allen zugute kommen;
• auf zutreffende Informationen in allen Bereichen von Politik und Wirtschaft und auf eine realistische Berichterstattung in unseren Medien hinzuarbeiten, die nicht im Widerspruch zu dem stehen, was der Bürger Tag für Tag selbst sieht und erlebt;
• darauf hinzuwirken, dass alle Behörden jeden Bürger als mitverantwortlichen Partner respektieren und ihn nicht als Untergebenen bevormunden;
• für alle Bürger, unabhängig von verwandtschaftlichen Beziehungen, Reisemöglichkeiten in andere Länder zu eröffnen;
• allen ehemaligen DDR-Bürgern, die in ein anderes Land übergesiedelt sind, die Rückkehr offiziell zu ermöglichen.
Die Konferenz ist sich dessen bewusst, dass die Lösung der gegenwärtigen Probleme ein langwieriger Prozess sein wird. In diesem Prozess wird auch die Verhandlungs- und Veränderungsbereitschaft anderer Staaten, insbesondere der Bundesrepublik Deutschland, wichtig. Damit der Abbau der gegenwärtigen Spannungen und des einseitig wirkenden Wirtschaftsgefälles möglich wird, sind Umdenken und neue Konzeptionen erforderlich.
Die Konferenz sieht ihre Aufgabe vordringlich darin, mit den Gemeinden zu bedenken, was es für uns als Kirche bedeutet, dass Menschen bei uns nicht bleiben wollen. Am Leben und Handeln der Christen soll erkennbar sein, dass sie selbst bereit sind, sich zu verändern und in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.
Die Konferenz gibt diesen Brief ihren Gemeindemitgliedern zur Kenntnis, um sie damit zu einem Nachdenken über die angesprochenen Probleme zu ermutigen.
Für das Gespräch in unseren Kirchen und für das Nachdenken jedes einzelnen wiederholt die Konferenz, was sie bereits mehrfach ausgesprochen hat:
Wir bitten, in der Gemeinschaft zu bleiben und die DDR nicht zu verlassen. Unsere Gesellschaft braucht jeden Menschen mit seinen Gaben und Fähigkeiten. Sie verliert Vielfalt, und unser Land wird ärmer, wenn Menschen sich zurückziehen und ausreisen. Jeder der geht, lässt andere einsamer zurück.
Die Kirche sieht ihre Aufgabe darin, zu Verhältnissen in der Gesellschaft beizutragen, unter denen Menschen gerne leben können und Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht mehr stellen wollen.
Dazu wird die Mitarbeit gerade auch derer gebraucht, die unter Defiziten unserer Gesellschaft leiden und Veränderungen anstreben.
Manche der Ausreisewilligen müssen wir fragen, an welchen Maßstäben sie ihre Lebensumstände und Lebenserwartungen messen. Wir warnen vor der Illusion, dass höherer wirtschaftlicher Wohlstand schon Lebenserfüllung bringt.
Angesichts der bereits gerissenen unübersehbaren Lücken im Gesundheitswesen, in der Wirtschaft und in anderen Bereichen müssen wir daran erinnern, dass jeder Mensch nicht nur Verantwortung trägt für die Gestaltung seines eigenen Lebens, sondern Mitverantwortung hat für die Gemeinschaft, in die er hineingestellt wurde.
Es grüßt Sie im Namen der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen Ihr Dr. Leich, Landesbischof.