Kommunikationszentrum Bahnhof
Interview mit Klaus Pritzkuleit vom DDR-Amt für Ausländerfragen zur Situation der Roma
Die Ost-Berliner Bahnhöfe Lichtenberg und Hauptbahnhof [heute Ostbahnhof] sind in den letzten Monaten zunehmend zum Aufenthaltsort ausländischer Reisender geworden. Die Mehrzahl von ihnen sind Roma aus Rumänien und Bulgarien, die sich oft tagelang vor und in den Bahnhofsgebäuden niedergelassen haben - für deutsche Mitbürger nicht nur immer wieder Anlass zu diffamierenden Äußerungen, sondern gelegentlich auch zu provozierenden Gewalttätigkeiten, vor allem durch jugendliche Skinheads. Klaus Pritzkuleit, Abteilungsleiter im Ost-Berliner Amt für Ausländerfragen beim DDR-Ministerrat, antwortet im folgenden epd-Interview auf Fragen zur Situation der Roma:
Wie viel Roma aus Bulgarien und Rumänien gibt es derzeit in der DDR?
Wir gehen von etwa 2 500 bis 3 000 aus.
Handelt es sich dabei vor allem um Asylsuchende?
Es sind in der Regel keine Asylsuchenden. Das ist die Ausnahme bei den Roma. Sie suchen hier einen Zwischenaufenthalt. Einige wollen sich etwas Geld verdienen und dann weiterziehen, wie es auch dem Wesen der Roma entspricht. Andere kommen hierher und wollen dann wieder zurück nach Rumänien. Bei den wenigsten kann davon gesprochen werden, dass sie hier bleiben wollen.
Warum müssen sie sich dann tagelang an und in Bahnhöfen aufhalten?
Wir haben den Roma auf den Bahnhöfen sehr oft schon Unterkunftsmöglichkeiten in den Aufnahmeheimen angeboten. Nur ein Teil von ihnen nimmt dieses Angebot wahr.
Der andere Teil bleibt auf dem Bahnhof, weil er es von zu Hause her so kennt. Denn Bahnhöfe sind ja nicht nur für die Ankunft und Abfahrt von Zügen da, sondern auch so etwas wie Kommunikationszentren. Aber es sind oft auch Leute, die gerade angekommen sind und in ein, zwei Tagen wieder zurückfahren wollen.
Hinzu kommt, dass sie natürlich in ihrem Familien- und Sippenverband reisen. Wenn das Familienoberhaupt erklärt, wir bleiben hier, dann bleibt die ganze Sippe. Und das sind oft 20 oder 30 Leute, die dazugehören. Das führt dann zu solchen Situationen, wie wir sie immer wieder erleben.
Aber wieso sind dann Polizeieinsätze gegen Roma erforderlich, wie sie am Ostberliner Hauptbahnhof stattfanden?
Im Prinzip sind Polizeieinsätze völlig überflüssig. Das hat mir auch der Polizeipräsident Bachmann bestätigt. Er hat eingeräumt, dass das, was an Aktionen lief, unangemessen gewesen sei. Sie werden dann vermeintlich nötig, wenn Gruppen wie Skins jetzt verstärkt auf Bahnhöfe ziehen und provozieren. Das ist am letzten Wochenende so gewesen. Und weil sich aus Bulgarien stammende Türken zur Wehr gesetzt haben, ist daraus eine Schlägerei geworden. Dabei hat die Polizei einfach die Opfer gejagt und die anderen ungeschoren gelassen.
Wären dann nicht Polizeieinsatz gegen Skins nötig?
Genau das wäre nötig, um die Ausländer auf den Bahnhöfen auch vor den Provokationen und Übergriffen der Skins und anderer rechtsradikaler Gruppen zu schützen.
Welche Möglichkeiten hat das Amt für Ausländerfragen, zum Schutz der Ausländer beizutragen?
Wenn wir von entsprechenden Unternehmungen oder Aktionen erfahren, nehmen wir sofort Kontakt zum Innenministerium auf, wo auch die Polizeieinsätze zusammenlaufen, und wir versuchen, Schutzmaßnahmen zu verabreden. In der Regel fahren wir zudem an die entsprechenden Orte, um mit den Leuten zu sprechen - d. h. mit den Verantwortlichen der Bahnhöfe, mit den Roma selbst und, wenn es sich ergibt, auch mit den provozierenden Gruppen.
Nach Angaben des Ministeriums für Abrüstung und Verteidigung sind in den letzten Wochen von der DDR-Volksarmee 26 Objekte zur Nutzung für hilfsbedürftige ausländische Bürger angeboten worden. Hat davon auch das Amt für Ausländerfragen welche abbekommen?
Ja, durchaus. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Abrüstung und Verteidigung sich als außerordentlich hilfreich in den letzten Monaten erwiesen hat. Von ihm sind eigentlich die ersten konkreten Unterstützungsmaßnahmen gekommen: Durch die zur Verfügung gestellten Ausrüstungsgegenstände oder durch den Einsatz von Soldaten beim Auf- und Abbau der Unterkünfte.
Zur Verfügung gestellt worden sind außerdem mehrere Kasernen im Berliner Raum, in Biesdorf zum Beispiel oder in Schildow. In Hessenwinkel haben wir auch eine Kaserne vom früheren Ministerium für Staatssicherheit übernommen. Zutreffend ist aber auch, dass das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung eine ganze Reihe von Objekten zur humanitären Nutzung angeboten hat, die dann aber in andere Bereiche der DDR übergegangen sind.
Presseberichten zufolge soll jetzt für die Roma ein Zeltdorf in der Nähe des Hauptbahnhofes errichtet werden. Können damit die aufgezeigten Probleme gelöst werden?
Nein. Es löst wahrscheinlich die Probleme nicht, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob wir in dieser Situation wirklich zu einer Beilegung der Konflikte kommen. Auch müsste erst einmal grundsätzlich geklärt werden, was denn eigentlich unter einer Losung zu verstehen ist. Und das hängt ja von sehr vielen Faktoren ab.
Was wir mit dieser Idee vom Zeltdorf erreichen wollen, ist einfach eine Entschärfung der Situation auf den Bahnhöfen. Die Zeltunterkünfte sollten in unmittelbarer Bahnhofsnähe dafür sorgen, dass ihnen der weite Weg, den die Roma bis in Aufnahmeheime wie Hessenwinkel oder Biesdorf zurücklegen müssten, erspart bleibt.
Das Problem ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung kann damit allerdings nur zu einem gewissen Grad beeinflusst werden. Denn eigentlich muss es ans ja im Umgang gerade auch mit den Roma darum gehen, in der Bevölkerung Verständnis für ihre Geschichte, in die ja die Deutschen sehr schuldhaft verstrickt sind, und für ihre Situation heute zu wecken. Dann haben wir auch Verständnis für die uns fremde Lebensweise dieser Menschen.
Sie haben im Mai die ersten Aufnahmeheime für Ausländer eingerichtet. Wie viel haben sie seither aufgenommen?
Rund 11 500.
Und wie viel befinden sich zur Zeit noch in den Heimen?
Insgesamt etwa 600 Personen.
Und wo sind die anderen geblieben?
Der allergrößte Teil davon ist nach West-Berlin, in die Bundesrepublik oder in andere europäische Länder aus- und weitergereist.
Wie viel sowjetische Juden sind inzwischen in der DDR?
Man muss davon ausgehen, dass wir etwa 750 sowjetische Juden im Land haben, die einen Antrag auf ständige Wohnsitznahme gestellt haben. Davon hat Berlin höchstens einen Anteil von 250 bis 300 Menschen.
Neue Zeit, Do. 23. August 1990, Jahrgang 46, Ausgabe 196