Die Zukunft zum Wohle der Europäer gestalten
BZ-Gespräch mit Minister Dr. Walter Romberg, Abrüstungsexperte der SPD
Eigentlich ist der 61jährige Mathematiker, jetzt aber Minister ohne Geschäftsbereich, Leiter der DDR-Delegation bei den vertraulichen deutsch-deutschen Gesprächen über eine Währungs- und Wirtschaftsunion und zugleich Abrüstungsexperte der SPD (DDR) - Dr. Walter Romberg. BZ sprach mit ihm über seine politischen Erfahrungen und Einsichten.
BZ: Welche Erlebnisse und Erkenntnisse würden Sie als besonders wichtig für Ihre politische Biographie bezeichnen?
Dr. Romberg: Für mich waren zum Beispiel die Erfahrungen sehr wichtig, die ich 1950 sammelte, als ich zum zweiten Teil meines Studiums nach Berlin an die Humboldt-Universität kam. Ich erlebte die fortschreitende Teilung Berlins und Deutschlands sehr bewusst. Und ich gehörte zu denen, die versuchten, die Teilung nicht einfach als ein Verhängnis anzusehen, sondern als eine Aufgabe für deutsche und europäische Politik. Das klingt sicher heute für viele schon wie von vorgestern. Aber die vergangenen 40 Jahre sind nicht nur für meine Generation ein wesentlicher Teil der Identität.
Geprägt hat mich auch das Jahr 1968. Ich war mit vielen Menschen verbunden in dem Bemühen, hier im Lande eine Erneuerung durchzusetzen. Politische Bildung und Motivation sind sehr stark bestimmt durch meine Arbeit in kirchlichen Institutionen, in der kirchlichen Friedensbewegung. Wichtig sind mir die vielen Begegnungen mit Europäern und Menschen aus der dritten Welt.
BZ: Sie sprachen von der Identität - sie lauft bei uns Gefahr, verdrängt zu werden. Ist nicht gerade sie wichtig für einen Vereinigungsprozess, der eines Tages über den deutschen Rahmen hinausführen könnte?
Dr. Romberg: Die europäische Entwicklung ist ja nicht nur eine Veränderung von politischen, ökonomischen, militärischen Gewichten, sondern eben auch die Dynamik sich verändernder kultureller Identität. Es treten wieder Kräfte aus der europäischen Kultur und Geschichte in den Vordergrund, die durch die Bipolarisierung vergessen schienen. Die eigentliche Frage europäischer Politik ist heute, neue Gleichgewichte zu finden - sicherheitspolitisch, ökonomisch, aber auch - untrennbar damit verbunden - neue Formen des kulturellen Dialogs und der Pluralität.
Vieles wird derzeit zu vordergründig beurteilt, von harten Fakten aus, die unsere sozialen Probleme bestimmen. Jedoch lässt sich die Zukunft nicht zum Wohle der Europäer gestalten, wenn geistige, kulturelle Wurzeln nicht bedacht werden.
Ich denke, wir leben mit immensen Bedrohungen, und das sind in Europa nicht einmal so sehr die militärischen. Es gibt die ökologische Bedrohung, die möglichen Klimaverschiebungen. Es gibt grundsätzliche Fragen im Umgang mit der Wirtschaft. Im Augenblick sehen wir alles in deutsch-deutscher Perspektive oder im europäischen Rahmen und vergessen zu oft die globalen Probleme.
BZ: Die uns vielleicht schnell einholen ...
Dr. Romberg: Ja, sehr schnell. Auch der wirtschaftliche Aufschwung, der Übergang zur Marktwirtschaft, den wir jetzt vollziehen, ist nicht der Weg in eine Ordnung, die die Weltprobleme löst. Es wäre also schlimm, wenn wir unsere ganz konkrete Politik - heute, hier, zwischen den beiden deutschen Staaten nur an unseren Bedürfnissen messen würden. Dann müssten all unsere Bemühungen tragisch enden.
BZ: Diese Dimension geht leider oft verloren. Das Ich und das Heute stehen im Vordergrund, überlagern Vergangenheit, insbesondere unsere deutsche, und Zukunft. Wie kann man solcherart Horizontverengung, die den Menschen ja ärmer macht, überwinden?
Dr. Romberg: Mir scheint es äußerst wichtig, dass die Begegnung der jüngeren Generationen in Europa viel breiter gestaltet wird. Nur, wenn hier ein gemeinsames europäisches Bewusstsein entsteht, das in jedem Fall die eigene Geschichte und Tradition einschließen muss, werden wir eine tragfähige Basis für stabile neue Strukturen auf unserem Kontinent gewinnen. Das ist Voraussetzung für ein Zusammenleben in Frieden und Sicherheit. Nur dann werden wir die Aufgaben, die uns eigentlich gestellt sind von den anderen Kontinenten, von der dritten Welt, richtig lösen können.
BZ: Ein Gedanke, in dem schon etwas Zukunftsmusik mitklingt, ähnlich wie bei Ihrem Nachdenken über eine "europäische Wohnungsbaugenossenschaft".
Dr. Romberg: Wir sehen im Augenblick, dass sich die ökonomische Kraft mehr und mehr auf der westeuropäischen Seite konzentriert - in der EG, besonders in der Bundesrepublik. Immer deutlicher werden andererseits die wirtschaftlichen Schwächen der osteuropäischen Länder, bis hin zur Sowjetunion. Das hat politische Konsequenzen, spielt bis in die Sicherheitspolitik hinein. Daraus resultieren westliche Vorstellungen über die NATO als Kern einer europäischen Friedensordnung. Dies wurde ich für eine fatale Entwicklung halten.
Wichtig ist, dass andere gesamteuropäische Strukturen Gewicht gewinnen, in denen Ost und West gleichberechtigt partnerschaftlich miteinander umgehen. Das sind etwa die KSZE-Strukturen. Ihre Institutionen müssten jedoch intensiver als bisher entwickelt werden, um sie politisch wirksam zu machen. Ansätze gibt es gerade im Hinblick auf den deutschen Bereich - zum Beispiel die im Anschluss an die Wiener Verhandlungen über die Reduzierung konventioneller Streitkräfte zu schaffende KSZE-Inspektionsbehörde. Dies ist ein Element, das man verbinden kann mit den Aufgaben der alliierten Militärmissionen in Deutschland, um eines Tages die Sicherheitspolitik überregional zu strukturieren.
BZ: Könnte dieses Modell bei den begonnenen 2 + 4-Verhandlungen auf Interesse stoßen, oder ist es doch noch zu früh für solcherart Ideen?
Dr. Romberg: Die Veränderung der konkreten militärischen Strukturen ist im allgemeinen leider ein relativ langsamer Prozess, er hinkt meist hinter der politischen Entwicklung her. Es wird einiges davon abhängen, wie schnell man in der Bundesrepublik, im Rahmen der NATO bereit ist, zu Veränderungen ja zu sagen. Das ist eine Frage der strategischen Konzepte der NATO. Zumindest wird jetzt deutlich, dass man nun auch dort beginnt, über alternative Sicherheitsstrukturen in Europa nachzudenken. Klar ist, dass die bisherigen Konzepte Vorneverteidigung an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten, nukleare Kurzstreckenraketen, die die DDR und Polen erreichen - absurd geworden sind. Es gibt in der NATO Kräfte, die die Notwendigkeit neuer Wege sehen. Aber das alles geht viel zu langsam.
BZ: Neue Wege müssen jedoch relativ schnell gefunden werden, denn die DDR als NATO-Mitglied oder als entmilitarisierte Zone eines einheitlichen Deutschlands ist wohl kaum für die Sowjetunion akzeptabel.
Dr. Romberg: Die Einbindung des gesamten Deutschlands in die NATO - und sei es in abgeschwächter Form, durch einen Sonderstatus für die DDR - sollte keine Lösung sein.
Bei unseren Gesprächen in Moskau haben wir festgestellt, dass es große Sorgen gibt, dieser Sonderstatuts könnte den Übergang zu einer vollen Integration Deutschlands in die NATO vorbereiten. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte, wo eine entmilitarisierte Zone eines Staates doch wieder von Militär besetzt wurde.
BZ: Sie meinen die Besetzung des Rheinlandes durch deutsche Truppen 1936, die Erfahrungen nicht nur der Sowjetunion mit der Vertragsbrüchigkeit Deutschlands?
Dr. Romberg: Durchaus. Für die Sowjetunion kommt nur eine Losung in Frage, von der sie erwarten kann, dass sie auf Dauer Sicherheit gibt und stabil ist. Die Alternative ist eine übernationale mitteleuropäische, sozusagen überwölbende Struktur, die die verschiedenen Militär-Kontingente auf deutschem Boden integriert und auf Dauer nicht in Bündnissen verankert sein kann.
BZ: Das setzte voraus, dass auch die BRD aus Bündnisverpflichtungen entlassen wird. Ist das vorstellbar?
Dr. Romberg: Das würde tatsächlich bedeuten, dass die Streitkräfte auf dem Boden der Bundesrepublik, natürlich nicht heute, aber auf längere Sicht, nicht mehr in die NATO integriert sein könnten. Das Beispiel der deutsch-französischen Brigade, also die Vernetzung von nationalen Truppenkontingenten, zeigt einen möglichen Weg, der weiterfuhrt. Ich weiß, dass auch in Polen über eine lokale Vernetzung von deutschen und polnischen Streitkräften nachgedacht wird. So könnten schrittweise europäische Streitkräftestrukturen geschaffen werden.
BZ: Bismarck sagte einst, Politik ist die Kunst des Möglichen. Will man diese Kunst beherrschen, setzt das voraus, das Mögliche zu erkennen und es dann auch umzusetzen. Haben wir das schon genügend gelernt?
Dr. Romberg: Haben wir sicher nicht. Aber wer hat das schon. Es ist ja nicht nur eine Frage des diplomatischen Geschickes, der politischen Kenntnisse. Diese Voraussetzungen sind sehr wichtig. Da ist viel nachzuholen. Lernen allein reicht jedoch nicht aus. Defizite, an vielen Stellen gibt es nicht nur in unserem Land. Ich meine die fehlende Sensibilität für die kulturellen Wurzeln, für das Leben eines anderen Landes, eines anderen Volkes.
BZ: Sensibilität ist genau das, was ich im Umgang bundesdeutscher Politiker mit der DDR vermisse.
Dr. Romberg: Bei offiziellen Begegnungen bemerkte ich, wie schwer es beiden Seiten fällt, sich in das andere Wertesystem, die anderen Gegebenheiten hineinzufinden. Auf unserer Seite ist auf jeden Fall die Bereitschaft, sich in den anderen hineinzuversetzen relativ groß. Auf Seiten der Bundesrepublik ist diese Bereitschaft weniger ausgeprägt. Weil man dort im allgemeinen davon ausgeht, dass wir uns auf sie zu entwickeln. Ein Grund mag die Tatsache sein, dass nicht wir die Reicheren sind, nicht wir die effizientere Wirtschaft haben. Das wird deutlich in den vertraulich geführten deutsch-deutschen Verhandlungen.
Trotz dieser Sachzwänge halte ich es für wichtig, dass sich beide verändern, um eine neue deutsche Republik zu gewinnen.
BZ: Es scheint immer wieder leichter zu sein, militärisch, politisch, ökonomisch, sogar geistig aufzurüsten, als entstandene Barrieren zu beseitigen.
Dr. Romberg: Sicher, man kann sehr schnell Barrieren aufbauen oder Mauern. Und Gräben aufreißen. Selbst wenn man sie dann wieder abgebaut hat oder zugeschüttet, merkt man, dass sie weiter wirken.
BZ: Diese Situation durchleben wir gerade jetzt ...
Dr. Romberg: So ist es. Und man sollte nicht so tun, als hätte es Mauern und Gräben nicht gegeben. Im Gegenteil, man muss sehr intensiv nachdenken, warum sie entstanden sind, was sie bedeutet haben. Vergangenheit ist ja nie eine sinnlose Vergangenheit.
Es gehört zur Kultur, dass man sich erinnert, die Erfahrungen, die man gesammelt hat, immer neu bedenkt, lebendig macht und einbringt. Wenn wir dies vergessen, verlieren wir unsere Identität. Wir müssen uns verändern, das ist unausweichlich. Aber wir müssen uns einbringen mit unserer eigenen Geschichte. Wir wären sonst für die anderen Deutschen und für die Europäer ein schlechtes Mitglied der europäischen Familie.
Das Gespräch führte
Bettina Urbanski
aus: Berliner Zeitung, Jahrgang 46, Ausgabe 64, 16.03.1990. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.