"Die SED versucht in alter Manier, die Runden Tische zu beherrschen"
Gespräch mit dem Rostocker SPD-Vorsitzenden Ingo Richter über die Zählebigkeit der SED-Macht und die Forderungen der DDR-SPD
Dr. Ingo Richter, Kinderarzt und Vorsitzender der Rostocker SPD, war in der vergangenen Woche von der SPD-Fraktion in Bremen zu deren 90. Geburtstag eingeladen.
taz: Herr Richter. Die DDR befindet sich auf halber Strecke zwischen Revolution und Neuwahlen. Wie würden Sie die momentane Situation im Land, in Rostock beschreiben?
Ingo Richter: Den Menschen in unserer Stadt geht das, was wir nach der Mauer geglaubt haben erreicht zu haben, jetzt viel zu langsam. Die Ruhe der Weihnachtstage hat gezeigt, dass die SED überhaupt nichts dazugelernt hat. Das zeigte sich auch im Auftreten von Gysi in seiner aalglatten Advokatenart, und ich kann wirklich nur hoffen, dass die Menschen soviel Menschenkenntnis besitzen, einem solchen Mann nicht über den Weg zu trauen. Die Diskussion um den Staatssicherheitsdienst und den von der Regierung Modrow fast heimlich herausgegebenen Gesetzen zum Überbrückungsgeld für die entlassenen Staatssicherheitsbeamten zeigt, wie korrupt dieses ganze System ist, wie es uns fast unmöglich ist, irgendwo eine Lücke zu brechen. Alles muss man dieser Regierung und ihren Vertretern schrittweise aus der Nase ziehen. Es ist manchmal zum Verzweifeln. Und in dieser Verzweiflung befinden sich Menschen, die dann plötzlich nicht mehr an sich halten können und das Stasigebäude stürmen.
Auf der anderen Seite wissen wir, dass viele der rechtsradikalen Aktionen, die es in der DDR gegeben hat, ganz offensichtlich und in vielen Fällen beweisbar durch Mitglieder des Stasi hervorgerufen wurden und möglicherweise von der SED gesteuert. All diese Dinge dienen nur dazu, die alte Macht der SED mit unserer Hilfe und unseren anständigen Gesichtern wieder herzustellen.
Stichwort Runder Tisch: Rostocks Bürgermeister Henning Schleiff hat in Bremen die Zusammenarbeit am Runden Tisch als fruchtbar, streitbar, kontrovers, aber gut bezeichnet. Welches dieser Adjektive würden Sie denn hervorheben?
Kontrovers, an erster Stelle und streitbar. Dann manchmal fruchtbar und im Einzelgespräch auch gelegentlich konstruktiv. Ich denke schon, dass die SED in örtlichen Bereichen begriffen hat, dass es ohne die Bürger nicht mehr geht. Aber nun kommt die Schere, in der auch wir uns als Oppositionelle befinden. Ein klein wenig sind wir an allen Runden Tischen auch das Feigenblatt einer SED-Machtstruktur. Wir haben uns schon gelegentlich überlegt, dass, wenn diese unseligen Parolen von den Vertretern der SED wieder aufgetischt werden, wir den Runden Tisch auch mal platzen lassen müssen. Aber mir ist in Erinnerung geblieben, wie Herbert Wehner einmal den CDU-Abgeordneten, die den Bundestag verließen, nach geschrien hat: "Durch die Tür müsst ihr auch wieder reinkommen."
Haben denn die Oppositionsgruppen Möglichkeiten, über den Runden Tisch Einfluss zu nehmen?
Die SED versucht in alter Manier, die Runden Tische zu beherrschen. Dort am Tisch sitzen 30 Leute. Zwei von der SED, zwei von der SPD, die Vertreter der Kirchen als Schlichter, dann die alten Parteien zur SED hin, und zu uns hin die Oppositionsgruppen, also Neues Forum und Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt. Und dann sitzen da selbstverständlich der FDGB, der Deutsche Frauen Bund, der Kulturbund und die FDJ. Dann fragt ein Sozialdemokrat ganz frech: 'Finger hoch, wer in der SED ist.' Und dann kommt plötzlich raus, dass von 30 Leuten wieder 20 in der SED sind.
Stichwort Sozialdemokraten. Mit dem Namenswechsel, SDP zu SPD, haben Sie auch deutlich gemacht, dass Sie sich in der Tradition der bundesdeutschen Sozialdemokraten fühlen. Ist es nicht auch eine Gefahr, dass man zu schnell in diesen Traditionen aufgeht und gar nicht in der Lage ist, nach 40 Jahren des Verbots eine eigenständige Geschichte zu entwickeln?
Da muss ich ein bisschen ausholen. Die sozialdemokratische Partei in der DDR, SDP, wurde von mutigen Leuten, überwiegend Pastoren, am 7. Oktober noch in der Illegalität gegründet. Das Statut war damals so angelegt, auch mit so Worthülsen wie Sozialismus, Zweistaatlichkeit, mit so Dingen, die im Grunde genommen schon damals den meisten nicht passten. Aber: In der Hoffnung, unter dem damaligen Regime Legalität zu erreichen.
Punkt zwei. Wir Nordlichter, wir Rostocker im Norden, haben uns als erste in der DDR in SPD umbenannt, weil ich es, als die Legalisierung gar nicht mehr zu diskutieren war, für unsinnig hielt, in der SDP zu verweilen. Das auch unter dem Aspekt, dass vor dem Parteitag der SED die Gefahr bestand, dass diese einen Schritt macht, der gar nicht so unlogisch gewesen wäre, nämlich sich in eine altstalinistische KPD und in eine reformwillige Sozialdemokratie mit SED-Touch zu spalten. Dies wäre eine kluge historische Entscheidung gewesen. Möglicherweise hätten sich dann viele sozialdemokratisch denkende neue Mitglieder unserer Partei auch diesem Bund irgendwie angeschlossen.
Noch einmal nachgefragt: Ist es nicht etwas gefährlich für die SPD der DDR, sich so früh in die Tradition der bundesdeutschen SPD zu stellen, wo doch die Fragestellungen, die in der DDR auf der Tagesordnung stehen, sich sehr von dem unterscheiden, was an Fragestellungen in der Bundesrepublik ansteht. Viele Probleme in der DDR werden sich ja nicht durch eine Übernahme des BRD-SPD-Programmes lösen lassen. Das wird eher hinderlich sein.
Wir sind selbstbewusst genug, unseren Freunden in der Bundesrepublik klarzumachen, dass wir ganz andere Probleme haben, beispielsweise mit den Worten Sozialismus, Planwirtschaft und Genosse. Damit können wir unseren Menschen nicht kommen. Die Gefahr, dass wir geschluckt werden, sehen wir überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. Wir finden echte Solidarität und Freundschaft. Wir haben unsere eigenen Probleme in der DDR und die machen wir auch immer wieder klar. Das muss ich allerdings sagen: Da tun sich die bundesrepublikanischen, etwas ruhigeren Sozialdemokraten manchmal etwas schwer, zu erkennen, dass es uns unter den Nägeln brennt und das wir keine Zeit haben zu warten. Da muss ich auch etwas scharf sagen: Wir erwarten von unseren sozialdemokratischen Freunden, dass wenn wir eine Hilfe erbitten, dass diese Hilfe sofort kommt. Das ist aber jetzt auch langsam rübergekommen.
Aber wird Ihnen bei dem Gedanken an schnelle, massive Hilfe nicht auch ein bisschen Angst. Wenn der Bürgermeister Ende Januar nach Rostock kommt, dort wahrscheinlich im Einvernehmen mit der SPD und den anderen Oppositionsgruppen verhandelt, was mit den fünf Millionen Mark aus dem Bremer Landeshaushalt zu geschehen hat, dann ist das ja nur ein Teil. Jetzt ist in Rostock ein deutsch-bremische Volksfest, dann kommt Werder Bremen nach Rostock, da wird drumherum auch ein großes Fest organisiert. Ist all dieses nicht möglicherweise auch für die SED eine Chance, sich neu zu präsentieren und letztendlich mindestens genauso viel Honig zu saugen, wie die Oppositionsparteien?
Ohne diese kapitalistische Hilfe bricht unser System von einem auf den anderen Tag zusammen. Mit dieser Hilfe des früheren 'Klassenfeindes' möchte sich allzu gern die SED wieder neu restaurieren. Aber das funktioniert bei unseren Menschen nicht. Die Menschen in der DDR sind durch ein 40jähriges SED-Regime, ein stalinistisches, indoktrinäres Regime nicht nur materiell in den Abgrund getrieben worden, sondern den Menschen wurde die Seele zerstört. Unsere Menschen sind einfach kaputt, sie haben keinen Halt mehr. Ich bin auch überzeugt, dass diese Restauration nicht klappt.
Ist tatsächlich ein Dialog beispielsweise zwischen der Bremer SPD und Ihnen in Gang gekommen, oder sind die alten Kanäle doch noch die bestimmenden? Von Bürokratie zu Bürokratie verhandelt es sich leichter als von Bürokratie in eine Rostocker Altstadtstube ohne Telefon.
Ich glaube schon, dass meine sehr emotional vorgetragenen Anliegen bei der SPD in Bremen und beim Bremer Bürgermeister dazu beigetragen haben, endlich zu erkennen, dass wir darauf zählen, dass die Bremer SPD begreift, dass die Schiene SPD-SED zwar auf Regierungsebene gewissermaßen gefahren werden muss, aber gleichzeitig immer und auch vorrangig mit Sozialdemokraten und anderen Oppositionellen geredet werden muss. Sonst sagt die Bevölkerung in der DDR: "Herr Gott noch mal. Die drüben stützen geradezu das SED-Regime. Die halten die Hand nur auf, kriegen Traktoren und Kredite und medizinische Sofortprogramme." Und in der Zeitung steht: "Der SED-Funktionär sowieso schüttelt dem SPD-Funktionär sowieso die Hand."
Gespräch: Holger Bruns-Kösters
TAZ-Bremen lokal, 20.01.1990