Eine Warnung vor Entkoppelung
Zur notwendigen Verknüpfung von deutscher und europäischer Einigung
Von Heidemarie Wieczorek-Zeul MdB SPD-Präsidiumsmitglied
I.
Eine Welle nationaler Hysterie erfasst augenblicklich manche Politiker in der Bundesrepublik. Emotion ist wichtig in der Politik, aber sie darf nicht vergessen lassen, was zu den Bedingungen vernünftiger deutscher Politikgestaltung gehört. Und das heißt für uns: Den Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen parallel zur Europäischen Einheit und Einbindung zu vollziehen. Eine Erstkoppelung ist falsch und gefährlich. Die Empfindungen unserer Nachbarn in Ost und West sind das eine. Genauso wichtig ist, dass wir nicht vergessen dürfen, was wir alle doch seit mindestens 20 Jahren gelernt haben: Dass der Nationalstaat weder ökonomisch, noch ökologisch, noch kulturell mehr souverän ist. Dass also kein Weg zum Nationalstaat alter Prägung zurückführt. Wer das vergisst, richtet Schaden in der Politik an. Diese Botschaft Oskar Lafontaines auf dem Berliner SPD-Bundesparteitag hat nichts an Aktualität verloren.
II.
Wenn wir also die Begriffe "Europäische Einheit" und europäische Einbindung ernst nehmen, dann muss die deutsche Politik auf zwei Ebenen schnell und entschlossen europäisch handeln:
- Die Einbeziehung der DDR in die Europäische Gemeinschaft muss so schnell und praktisch vorbereitet werden wie jetzt Schritte der praktischen Einheit zwischen den Deutschen unternommen werden.
- Die staatliche Einheit der Deutschen kann in ihrer letzten Stufe erst dann vollendet werden, wenn ein Europäisches Sicherheitssystem die Militärblöcke auf - und ablöst. Deshalb müssen so schnell und praktisch Schritte zur Einberufung einer Konferenz aller KSZE-Teilnehmerstaaten ergriffen werden wie augenblicklich Schritte zur praktischen Einheit Deutschlands erfolgen. Ziel dieser Konferenz muss die schnelle Erarbeitung eines Europäischen Sicherheitssystems und einer Europäischen Schlussakte sein, mit der die Vorrechte der Vier Mächte abgelöst werden. Bei dieser Kursbestimmung geht es mir weniger um Rücksicht auf die europäischen Nachbarn - auch sie ist wichtig es geht mir vor allem um folgen des: Es wäre doch paradox, wenn das Ergebnis der demokratischen Revolution in Ost- und Mitteleuropa, wenn das Ergebnis des Zerfalls des Warschauer Paktes und der Aufgabe der Vormachtstellung der Sowjetunion in Osteuropa auf der westlichen Seite das Fortbestehen der NATO - in alter, veränderter oder neuer Form und des Fortbestehen der Vormacht der USA in der Bundesrepublik und in Westeuropa wäre.
III.
Einbeziehung der DDR in die EG muss aus meiner Sicht heißen: Eine EG-Vertragsänderung schnell vorbereiten bei der das Gebiet der Europäischen Gemeinschaft entsprechend erweitert wird und Verhandlungen vorbereiten, bei denen die schrittweise Integration der DDR in die Europäische Gemeinschaft das Ziel ist. Hier müssen für die Anwendung des EG-Rechtes ähnliche Übergangsfristen und Ausnahmen zugunsten der DDR ausgehandelt werden wie sie zum Beispiel beim spanischen oder portugiesischen EG-Beitritt erfolgten. Die Verhandlungen müssen aber - anders als in den genannten Fällen - schnell zu Ergebnissen führen. Gleichzeitig müssen alle Westeuropäer die praktischen Schritte zur Assoziierung und zu einem möglichen EG-Beitritt der anderen osteuropäischen Länder unterstützen.
IV.
Volle staatliche Einheit der Deutschen erst bei Auflösung der Militärblöcke und bei Verwirklichung eines Europäischen Sicherheitssystems heißt aus meiner Sicht, alle „Zwischenvorschläge“ abzulehnen wie sie zum Beispiel von Außenminister Genscher in die Diskussion gebracht worden sind. Ihnen ist allen eines gemein: Sie entkoppeln die Schritte zur deutschen Einheit und die zur europäischen Einbindung und stellen deshalb eine falsche Orientierung dar. Außerdem bedeuten sie alle eine faktische Stärkung der NATO gegenüber den Osteuropäern.
Meine Orientierung ist: Parallel nur Auflösung des Warschauer Paktes Schritte zur Auflösung der NATO vorzubereiten und damit auch den Abzug der US-Truppen aus der Bundesrepublik und aus Westeuropa einzufordern.
Wer von unseren europäischen Nachbarn die US-Truppen dennoch gerne in Europa behalten will, möge sein Territorium für eine derartige Stationierung zur Verfügung stellen. Akzeptable Zwischenlösungen könnten meines Erachtens höchstens darin bestehen, dass vom Boden beider deutscher Staaten die ausländischen Truppen zurückgezogen werden, die DDR aus dem Warschauer Pakt ausscheidet, die Bundesrepublik nur noch in der politischen Struktur der NATO verbleibt und Bundeswehr und NVA auf ein militärisches Selbstschutzpotential reduziert werden.
V.
Am Ende dieser praktischen Schritte zur Verwirklichung der deutschen und der europäischen Einheit wird dann nach einem Prozess, der gut acht bis zehn Jahre dauern kann, die volle staatliche Einheit in einem föderativ organisierten Europa stehen. Ein Europa, in dem die Nationalstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität, sei es in sicherheitspolitischer, sei es in ökonomischer Hinsicht an eine gesamteuropäische Föderation abgegeben haben. Auch wenn die Deutschen heute beschließen die deutsche Einheit zu verwirklichen, wird der Prozess der Angleichung Jahre dauern. Für das kleine Saarland dauerte er - unter völlig anderen Bedingungen - schon fünf Jahre. Deshalb ist es realistisch, dass europäische Einigung und deutsche Einheit parallel verwirklicht werden. Es macht also keinen Sinn, die beiden Prozesse zu entkoppeln. War es dennoch tut, erreicht lediglich eines: Er trägt dazu bei, Ängste zu schüren, bei Menschen in unserem Land und bei vielen außerhalb.
Sozialdemokratischer Pressedienst, Nr. 31, 45 Jahrgang, 13.02.1990