Suche nach Neubeginn

Das Interview mit Wolfgang Thierse, stellvertretender SPÖ-Vorsitzender zur Führungskrise in der Partei

Herr Thierse, Oskar Lafontaine weigert sich, in Bonn Verantwortung zu übernehmen. Ist dies bloß Taktik, um vom Vorstand weitere Zugeständnisse zu erzwingen?

Ich denke nicht, dass es sich hierbei um Taktik handelt. Man kann doch hoffentlich menschliches Verständnis dafür aufbringen, dass jemand, der ein dramatisches Jahr hinter sich hat, der dem Tod entronnen ist, der eine Niederlage erlitten hat, einer Pause bedarf.

Hans-Jochen Vogel hat auf schnelle personelle Entscheidungen gedrungen, viele Namen werden derzeit diskutiert. Wird sich die Partei dennoch weiter um Oskar Lafontaine bemühen?

Die Entscheidung von Lafontaine ist klar und wohl endgültig.

Was will die Partei tun, um die Führungskrise zu überwinden?

Wir werden jetzt in Ruhe und eilig zugleich sowohl nach einem personellen Neuanfang suchen und gleichzeitig Überlegungen zu strukturellen Veränderungen in der Partei anstellen.

Ist mit dem geschlagenen Kandidaten in der SPD auch seine Politik des "Neuen Weges" gescheitert?

Das Programm "Fortschritt '90" - ein Programm, das die ökonomische Modernisierung mit sozialer Verantwortung und ökologischer Vernunft verbindet - gilt noch wie vor. Ich bin sicher, dass unsere darin angesprochenen Themen von zunehmender Aktualität sein werden. Insofern ist Lafontaine mit seiner Politik in der SPD nicht gescheitert, im Gegenteil, die Diskussionen nach dem Wahltag haben dieses programmatisch-politische Fragment nicht angetastet.

Nun war zu beobachten, dass vor allem die Sozialdemokraten der Ex-DDR, deren Vorsitzender sie waren, eine national-euphorische Stimmung in die Partei mitbrachten. Wird es deshalb, wovor Ihr Parteifreund Peter Glotz warnte, ein programmatisches "Einschwenken auf den nationalen und liberalen Schwung einer zweiten Gründerzeit" geben?

Die Stimmung war eine sympathische. Ich gehörte immer zu denen, die sich über die Einheit freuten - und ich habe immer gehofft, dass ein anderes, einiges Deutschland noch eine geschichtliche Chance hat. Doch jetzt gilt es, sich ganz konzentriert der Aufgabe zu stellen: Wie soll dieses Deutschland aussehen? Und es soll ja gerade kein nationalistischer, überheblicher, chauvinistischer Staat sein, der größer und stärker als alle anderen ist, sondern wir brauchen ein europäisches Deutschland.

Was ist zu tun, um dieses Ziel zu erreichen?

Ich denke, es ist nötig, dass wir, so schnell es irgend geht, eine wirklich zivile Gesellschaft werden. Das heißt, wir sollten miteinander die ganz unterschiedlichen Formen von Hierarchisierung, ich spreche mal bewusst aus Sicht der alten DDR, abbauen. Wir haben. es noch zu lernen, alltäglich miteinander demokratisch umzugehen, tolerant zu sein. Das ist immer eine Verpflichtung von Mehrheiten gegenüber Minderheiten. Wir müssen lernen mit Konflikten umzugehen, die früher immer unter die Decke gekehrt wurden, ohne militant zu werden, ohne auszugrenzen.

Momentan sieht es eher so aus als ob gerade diese Lernfähigkeit fehlt. Ob auf dem Fußballplatz oder in der Hausbesetzerszene - die unbewältigten sozialen und ökonomischen Probleme brechen sich immer häufiger in Militanz und Gewalt ihre Bahn. Die Politik reagiert darauf nicht immer angemessen.

Es fällt uns aus verschiedenen Gründen schwer, diese Konflikte friedlich auszutragen. 1. weil wir darin keine Übung haben. 2. weil wir diese Konflikte in ihrer Schärfe als etwas unerhört Neuartiges haben und auf eine Bevölkerung treffen, die sozial, ökonomisch und genauso psychologisch höchst verunsichert ist. Das führt häufig zu Überreaktionen der Angst. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang jene billige und schäbige Parteilichkeit der vergangenen 40 Jahre nicht mehr leisten. Jene Parteilichkeit, die immer von vornherein schon wusste, wo gut und böse ist, was falsch ist, wer gewaltsam und wer gewaltfrei war. Und vor allem, das ist mir wichtig, müssen wir das wichtigste Gut des Herbstes '89 verteidigen, unsere entschlossene Friedfertigkeit.

Ist die parlamentarische Demokratie mit ihrer festgefügten Parteienstruktur allein in der Lage, die notwendigen sozialen Aufgaben zu lösen und eine gleichberechtigte Kommunikation aller Gesellschaftsmitglieder durchzusetzen?

Wir sollten die Chancen und Möglichkeiten der politischen Demokratie nicht geringschätzen. Parlamentarische Demokratie hei8t schließlich Macht auf Zeit, heißt feste Regeln, denen sich alle unterwerfen müssen. Dies birgt natürlich immer den Hang zum Formalen, dass also Minderheiten sich nicht auf gleiche Weise artikulieren können. Wir sollten deshalb langfristig darüber nachdenken, wie eine Zusammenarbeit einerseits von Parteien und andererseits vor Bürgerinitiativen, von Bürgerbewegungen stärker auf konkrete Ziele, auf unmittelbare Interessen der Menschen reagieren kann und wie man die Bürger selbst unmittelbarer in die demokratische Gestaltung einbezieht.

Ein erster Prüfstein wäre zweifellos die Diskussion einer neuen Verfassung . . .

. . . die wir jetzt auf der Basis des Grundgesetzes in Gang bringen wollen. Selbstverständlich gehört in diese Verfassungsdiskussion auch der Entwurf des Runden Tisches.

Interview: Dietmar Huber

Junge Welt, Nr. 286, Freitag 7. Dezember 1990

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