Die SPD erläutert ihre Standpunkte zu den Themen Gewerkschaftsarbeit und Betriebsräte

Die Marktgesetze allein bringen keine Sicherheit

"Tribüne" sprach mit Wolfgang Thierse, Vorsitzender der DDR-SPD, und Thomas Schmidt Mitglied des Vorstandes

• Der SPD-Parteivorstand bat die Einigung der Gewerkschaften der DDR und der Gewerkschaften der BRD unter dem Dach des DGB begrüßt. Der Beschluss wurde einstimmig gefasst. Was bewog die SPD-Ost zu dieser Stellungnahme?

Wolfgang Thierse: Es waren zwei Gründe. Zum einen beobachteten wir die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in der DDR in den letzten Wochen und Monaten sehr aufmerksam. Wir konnten die Erkenntnis gewinnen, dass der alte FDGB wirklich zu sterben beginnt. Es ist vielleicht zu früh zu sagen, dass er schon ganz tot ist. Aber wir sehen jetzt konkrete Veränderungen und betrachten den neugebildeten Sprecherrat der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften als ein wichtiges Gremium der Interessenvertretung der Arbeiter und Angestellten in der DDR.

• Woher rührt die bisherige Distanz zu den Gewerkschaften?

Wolfgang Thierse: Solange es den FDGB mit seinen teilweise undemokratischen Strukturen gab, der als Transmissionsriemen der SED fungierte und mit Funktionärsmannschaft die aus den alten Zeiten stammte, solange gab es für uns als SPD keinen Anlass, ein besonders positives oder besonders inniges Verhältnis zu ihm zu pflegen. Erst mit den Veränderungen innerhalb der Gewerkschaften war also auch ein Neuansatz unseres Verhältnisses zu den Gewerkschaften notwendig und möglich.

• In welchem Verhältnis steht die Partei jetzt zu den Interessenvertretungen der Arbeitenden?

Wolfgang Thierse: Es hat uns immer beunruhigt, dass es uns bisher nicht ausreichend gelungen ist, in den Betrieben Fuß zu fassen und Kontakte zu der sich erneuernden Gewerkschaftsbewegung in unserem Lande herzustellen. Diese Gründe waren für den Parteivorstand Anlass. in einer ausdrücklichen Stellungnahme sein Verhältnis zu den Gewerkschaften zu artikulieren. Das ist erstens als ein Signal an die neuen Gewerkschaften zu werten und zweitens als eine Aufforderung an die eigene Partei, hier in den kommenden Monaten und Jahren besonders aktiv zu werden.

• Die SPD beruft sich auf die Tradition der deutschen Gewerkschaftsbewegung und auf die über 125jährige Tradition der deutschen Sozialdemokraten. Wie will die SPD-Ost diese Traditionslinie in der DDR wieder aufnehmen?

Wolfgang Thierse: Dieser Tradition sind wir bisher nicht gerecht geworden. Es geht jetzt darum, in der Partei des Bewusstsein zu wecken, wie notwendig die engen Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Gewerkschaften sind. Auch organisatorisch versuchen wir das in den Griff zu bekommen. Die SPD in der DDR ist dabei eine Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen zu bilden. In einzelnen Landesverbänden ist das bereits geschehen. Auf der Ebene der Gesamtpartei wird das am 22. September erfolgen. Wir müssen auch in den Betrieben wirksam werden und Arbeiter und Angestellte über das bisherige Maß hinaus für unsere Arbeit gewinnen.

Parallel dazu setzen wir Verantwortliche für Gewerkschaftsfragen in allen Leitungen der SPD ein, sowohl in der Volkskammerfraktion als auch in allen Landes- bzw. Bezirksvorständen, die die Arbeit mit den Gewerkschaften koordinieren. Die Kommunikationsschwierigkeiten, die manchmal bis zur Sprachlosigkeit gingen, müssen endlich überwunden werden.

Thomas Schmidt: Wir sehen die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen als eine Schiene, um mit den Arbeitnehmern in Kontakt zu kommen. Wir sehen die Gewerkschaften in der DDR als reformiert an - nach freien und geheimen Wahlen. Die Gewerkschaften selbst waren für uns erst nach dem 9. Mai, dem Tag der Installierung des Sprecherrates, ein Gesprächspartner. Die Beziehungen zu ihm und zu den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften wurden seitdem intensiviert. Unsere Absicht ist, die Gewerkschaften bei den Betriebsratswahlen zu unterstützen. Nur mit erfahrenen und engagierten Gewerkschaften ist es möglich, die Interessen der Arbeitnehmer auch im Betrieb selbst zu realisieren.

• Ist nicht augenblicklich eine gewisse Aversion gegenüber der Gewerkschaftsarbeit zu beobachten?

Wolfgang Thierse: Das stimmt. Ich glaube, SPD und Gewerkschaften haben eine identische Schwierigkeit zu überwinden, nämlich eine übergroße Gewerkschaftsmüdigkeit bei den Arbeitern. Alle haben irgendwie die Nase voll. Die wenigsten bringen die Phantasie auf, sich genau vorstellen zu können, was eine Gewerkschaft ausrichten kann, die als Gewerkschaft außerhalb des Betriebes organisiert ist und die nur über Betriebsräte innerhalb der Betriebe aktiv werden kann. Wir waren es ja bisher gewohnt, dass die Gewerkschaft als selbstverständlicher Bestandteil des betrieblichen Lebens angesehen wurde. Da das jetzt anders wird, wissen viele nicht genau, wie das alles funktioniert. Wie soll die Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften innerhalb des Betriebes und der Gewerkschaftsorganisation außerhalb des Betriebes einerseits und der SPD als einer politischen Partei andererseits funktionieren? Vor solchen Fragen stehen wir jetzt.

Thomas Schmidt: Oft verstehen die Gewerkschaften ihre Parteienunabhängigkeit falsch. Es ist zwar richtig, dass sie nicht wieder zum Transmissionsriemen irgendeiner Partei werden sollen, aber sie benötigen eine parlamentarische Kraft, die ihre Interessen im Parlament einbringt und somit ihren Einfluss auf die Gesetzgebung selbst wahrnimmt.

• Wie steht die SPD zum Prinzip der Einheitsgewerkschaft?

Wolfgang Thierse: Die SPD steht positiv zu diesem Prinzip. Wir halten das für eine unersetzbare Bedingungen gerade in dem für uns neuen Verhältnis zur Marktwirtschaft. Nur eine Einheitsgewerkschaft ist ein wirklich starker Partner gegenüber den Unternehmern. Dass diese Einheitsgewerkschaft in Industriegewerkschaften bzw. Gewerkschaften organisiert ist, tut dem überhaupt keinen Abbruch, sondern ist vielmehr genau die Verwirklichung dieses Prinzips.

Thomas Schmidt: Dem Begriff Einheitsgewerkschaft haftet in der DDR ein sehr großer Makel an. Der FDGB praktizierte, was unter Einheitsgewerkschaft im Sozialismus zu verstehen war. Blicken wir aber zum Beispiel in die Bundesrepublik, so sehen wir, was ein wirklich starker Dachverband, eine Einheitsgewerkschaft, der DGB, für die Arbeitnehmer erreichen kann.

Wolfgang Thierse: Der Vergleich zwischen verschiedenen westeuropäischen Ländern und ein Blick in die Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung lässt den erheblichen Vorteil einer Einheitsgewerkschaft erkennen. Wenn man etwa nach Frankreich blickt oder nach Italien, so zeigt sich, wie viel schwächer dort die Gewerkschaftsbewegung ist, weil sie zersplittert ist.

• Wie wird die Zussmmenarbeit Ihrer Partei mit den Industriegewerkschaften bzw. Gewerkschaften aussehen; auch im Hinblick auf den Vereinigungsparteitag von SPD-West und SPD-Ost Ende September diesen Jahres?

Wolfgang Thierse: Ich hoffe sehr - wir sind ja eine junge und durchaus noch unerfahrene Partei -, dass die Erfahrungen der Bundesrepublik für uns von großem Nutzen sein werden, zumal führende Gewerkschaftsfunktionäre in der Bundesrepublik zugleich auch Mitglieder der Sozialdemokratie sind. Ich hoffe weiter, dass sich das Wechselspiel zwischen ökonomischer und politischer Interessenvertretung durch die Gewerkschaften einerseits und durch die SPD andererseits auch auf uns übertragen lässt. Dieses Wechselspiel hat ja in der Bundesrepublik zu großen Erfolgen geführt. Ich bin in dieser Hinsicht optimistisch.

Thomas Schmidt: Wie bereits erwähnt: Die Tradition zwischen Gewerkschaften und SPD ist über 125 Jahre alt. Sie muss bei uns in der DDR neu belebt werden. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben der Beauftragten der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Eine andere ebenso wichtige Frage ist die Einbeziehung der Gewerkschaften bei der Schulung von Betriebsräten. Vielen muss erst einmal begreiflich gemacht werden, dass jetzt Eigeninitiative gefragt ist, dass sie nicht mehr an die Hand genommen und geführt werden, wie das 40 Jahre lang geschehen ist. Jeder ist selbst aufgefordert, seine Interessen einzubringen, sich zu organisieren, eine Gemeinschaft zu bilden. Nur in der Gemeinschaft sind die Arbeitnehmer stark.

• Schwache Gewerkschaften führen in der Marktwirtschaft zum selben Resultat wie abhängige Gewerkschaften in der Kommandowirtschaft. Der Einzug der Marktwirtschaft vollzieht sich auf dem Gebiet der DDR derzeit gleichzeitig mit einem Sozialabbau. Auch die in der Regierung vertretene SPD muss dem machtlos zusehen. Sind nun Gewerkschaften mit ihren Forderungen Retter oder Utopisten?

Wolfgang Thierse: Zunächst ist der Grundsatz unbestritten: Ohne starke Gewerkschaften funktioniert die soziale Marktwirtschaft als soziale nicht. Es ist ganz klar, die Gesetze des Marktes allein sichern noch nicht die Befriedigung sozialer Interessen Marktwirtschaft beinhaltet ja auch immer ein Wechselspiel sozialer Kräfte, das Gegeneinander von Unternehmern und Arbeitern und Angestellten. Sie lebt vom Interessenausgleich zwischen der Entwicklung der Produktivität und der Gewinnzunahme. Oder anders gesagt, es muss ein Interessenausgleich zwischen Produktivität und sozialen Ansprüchen, den Lohnansprüchen der Arbeitnehmer erfolgen. Die Kraft, die das kann, sind die Gewerkschaften. Niemand sonst. Dazu ist eine geschlossene Kraft notwendig, damit nicht nur individuelle Lösungen von Betrieb zu Betrieb verschieden erfolgen, sondern dass das auch unter den Arbeitnehmern relativ einheitlich, das heißt sozial gerecht, funktionieren kann.

Thomas Schmidt: Es muss dabei aber immer bedacht werden, dass wir als Sozialdemokraten unter Marktwirtschaft etwas anderes verstehen als die CDU. Die Gewerkschaften konnten in den vergangenen Wochen und Monaten auf die entstandenen Situationen nur noch reagieren. Sie selber waren keine vorwärtsweisende Kraft. Deshalb, sind auch ihre bundesdeutschen Partner jetzt gefragt, um den Gewerkschaften in der DDR erst einmal Tarifautonomie zu erklären. Es fehlt da einfach an Erfahrungen. Daher organisiert die SPD auch Schulungen für Gewerkschafter und bereits existierende Betriebsräte in der Friedrich Ebert-Stiftung.

• Den Gewerkschaften wird in ihren derzeitigen Tarifkämpfen nicht selten Maßlosigkeit vorgeworfen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Wolfgang Thierse: Wir müssen lernen, einen tragfähigen Kompromiss zwischen den berechtigten Lohnansprüchen der Arbeitnehmer und der gegebenen Produktivität zu finden. Hierbei ist zu beachten, dass die Arbeitnehmer in der DDR konzentriert den Blick auf die Lohnverhältnisse in der Bundesrepublik richten, sie zum Maßstab für ihre Forderungen nehmen. Das führt dazu, hohe und zum Teil unrealistische Lohnforderungen zu stellen. Vielfach lautet der Tenor: Wir wollen, da wir auch so angestrengt wie im anderen Teil Deutschlands arbeiten, dasselbe Gehalt, dieselben Löhne.

Wir müssen miteinander lernen, dass wir sozusagen in einem Prozess des Übergangs sind. Wir können heute nicht etwas fordern, wofür erst in drei, vier oder fünf Jahren die ökonomische Basis vorhanden ist. Wenn wir zu schnell hohe Lohnforderungen stellen, riskieren wir Arbeitsplätze. Das ist ein gravierendes Problem, und da müssen Gewerkschaften, Politiker und Wirtschaftsfachleute vernünftig miteinander umgehen und den jeweils bestmöglichen Kompromiss finden, vielleicht in einer Art "konzertierter Aktion", die es in wirtschaftlich schwieriger Situation in der BRD einmal gegeben hat, und zwar mit erheblichem Erfolg!

• Hohe Lohnforderungen gefährden Arbeitsplätze - ist das nicht ein Argument der Unternehmer? Warnstreiks in der letzten Zeit belegen, dass die Gewerkschafter das andere sehen!

Thomas Schmidt: Unseren Gewerkschaften muss klar werden, dass sie sich nur einen kurzfristigen Bonus verschaffen, wenn sie für ihre Mitglieder jetzt die schnelle Mark erstreiten wollen. Vielmehr muss die Orientierung langfristig sein. Es geht hierbei um die Wiedererlangung des Vertrauens, das ja viele Gewerkschaften bei ihren Mitgliedern an der Basis nicht mehr haben. Vertrauen kann man unseres Erachtens gewinnen mit weitgehenden Umschulungsmaßnahmen, mit Weiterbildungsprogrammen, um so sichere Arbeitsplätze zu schaffen.

• Um mitreden zu können, brauchen die Arbeitnehmer starke Betriebsräte. Welche Position hat die SPD dazu?

Wolfgang Thierse: Betriebsratswahlen müssen wirklich nach den Regeln der Demokratie, auch der Gewerkschaftsdemokratie, vonstatten gehen Das heißt, es müssen geheime Wahlen sein und die Betriebsratsmitglieder müssen auch Mitglieder des Betriebes sein. Das sind zwei wichtige Bedingungen, die sich ja durchaus von den bisherigen-gewerkschaftlichen Wahlen in der DDR unterscheiden. Wir hoffen sehr, dass dadurch auch eine personelle Veränderung erreicht wird und dass nicht wieder alte Funktionärsstrukturen zum Leben erweckt werden.

Thomas Schmidt: Nur gute Gewerkschafter können auch gute Betriebsräte sein, können die Interessen der Arbeitnehmer kompetent vertreten. Zur Zeit herrscht in puncto Arbeitsrecht die blanke Anarchie. Das liegt zum einen daran, dass das vor kurzem verabschiedete Betriebsverfassungsgesetz und die anderen, die Arbeitnehmer unmittelbar betreffenden Gesetze noch nicht an der Basis bekannt sind. Das liegt aber auch daran, dass in einer Art Doppelstrategie von ehemaligen SED- oder jetzt PDS-Mitgliedern versucht wird, Angstpsychosen zu erzeugen, die Arbeitnehmer absichtlich im ungewissen zu lassen.

• Können Sie dazu Beispiele nennen?

Thomas Schmidt: Wir haben mehrere Fälle, wo Kollegen, die jetzt Wahlvorstände gründen oder sich als Kandidaten zur Verfügung stellen, die ersten sind, die auf die Straße fliegen. Und das oft nur, weil sie Mitglieder der SPD sind. Das ist Tatsache. Bei den dafür Verantwortlichen ging die Umwandlung vom Planwirtschaftler zum Managertyp sehr, sehr schnell.

Wolfgang Thierse: Wir verwahren uns ganz entschieden gegen solche frühkapitalistischen Methoden von Leuten, die lange genug selber SED-Funktionäre waren oder von der SED als Wirtschaftsfunktionäre eingesetzt wurden. Sie gebärden sich jetzt schlimmer als Kapitalisten in der Bundesrepublik sich das je erlauben dürften.

• Wie kann man den Ängsten der Arbeitnehmer begegnen?

Wolfgang Thierse: Es ist eine alte Erfahrung, dass Angst zunächst lähmend wirkt. Das beobachten wir gegenwärtig weitgehend in der DDR. Aber es gibt ja auch die Möglichkeit, dass Angst umgesetzt werden kann in Aktivität. Wer gezwungen ist, mit dem Rücken an der Wand zu stehen und keine Wahl mehr hat - so denke ich jedenfalls - der fängt an, sich zu wehren. Das darf natürlich nicht nur individuell geschehen, als Trotzreaktion, sondern es sollte organisiert sein. Notwendig ist daher eine in ihren Strukturen vorhandene Gewerkschaftsbewegung. Deswegen sind wir entschieden dafür, dass die Einigung unter dem Dachs des DGB erfolgt.

Thomas Schmidt: Der Bonus, den bundesdeutsche Gewerkschaften bei uns haben, ist sehr groß. Für jedermann ist ersichtlich, dass in 40 Jahren Bundesrepublik vor allem durch den Kampf der Gewerkschaften viel erreicht wurde. Es muss auch dem DDR-Arbeitnehmer deutlich werden, dass er nur durch Zusammenschluss Einfluss auf die Gesetzgebung, auf die soziale Gestaltung der. Marktwirtschaft selbst haben kann. Das muss der Arbeitnehmer begreifen, bevor er arbeitslos ist. Nur eine starke, freie Gewerkschaft kann ihn vor Arbeitslosigkeit bewahren.

Das Gespräch führte Reiner Fischer

Tribüne, Nr. 133, 13. Juli 1990

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