Thierse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Zunächst und vor allem anderen drängt es mich doch, ein persönliches Wort zu sagen. Es bewegt mich sehr, hier zum ersten Mal am Rednerpult des Deutschen Bundestages zu stehen, erinnere ich mich doch genau an die Faszination, an die gewiss unterschiedliche Faszination, mit der ich den Debatten des Bundestages seit über 30 Jahren gelauscht habe, mit der ich Rednern wie - um Namen aus der Frühzeit zu nennen - Carlo Schmid und Thomas Dehler, Jakob Kaiser und Fritz Erler, Ernst Lemmer und Herbert Wehner zugehört habe. Mit der Faszination war Neid verbunden, Neid auf eine erfolgreiche Praxis öffentlicher parlamentarischer Demokratie, die uns im anderen Teil Deutschlands vorenthalten blieb, die politisch lächerlich gemacht und ideologisch als formale, als bloß bürgerliche Demokratie denunziert wurde.

Diese Erinnerung und die Erinnerung daran, dass ich - wie alle anderen - vor einem Jahr ein gemeinsames deutsches Parlament für schlechthin unmöglich gehalten habe, ist für mich Anlass zu staunender Freude.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Dass sich die Sozialdemokraten in der DDR, die sich vor einem Jahr als eine neue Partei gegründet haben, im Herbst 1989 eher zögernd, mit einer gewissen Skepsis, mit Vorsicht der deutschen Frage und dem Problem der staatlichen Vereinigung zugewandt haben, sollte man uns nicht vorwerfen. Diese Haltung wurde ja von den Parteien im Westen ebenso wie von den neuen Gruppierungen und Bürgerbewegungen in der DDR geteilt. Es ging uns damals in der DDR um die Herstellung einer politischen Öffentlichkeit, um die Fähigkeit, überhaupt angstfrei und öffentlich miteinander über politische Fragen zu reden; so das Ziel des Aufrufs vom Neuen Forum. Es ging um "Demokratie jetzt", um die Erringung, die Einforderung der elementaren Menschen- und Bürgerrechte.

Die Verwirklichung dieser Forderung erschien uns nicht identisch mit der Forderung nach deutscher Einheit. Für manche waren das sogar Alternativen. Für alle erschien die Kombination beider Forderungen als unrealistisch, ja als gefährlich. Das eine, die deutsche Einheit, erschien vielen als Preis für das andere, die Freiheit.

Dass wir jetzt Einheit und Freiheit, Einheit und Grundrechte zusammen erhalten und verwirklichen können, ist der wirkliche Anlass unserer Freude.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Das unterscheidet die deutsche Einigung des Jahres 1990 von der Einigung des Jahres 1871, einer Einigung von oben mit ihren schlimmen Folgen bis 1933 und 1945.

Denjenigen, die gestern in Berlin gerufen haben: "Nie wieder Deutschland" und "Deutschland, halt's Maul", möchte ich deshalb sagen: Ich teile die Angst vor nationalstaatlicher Hybris, vor nationaler Selbstvergessenheit und Selbstüberschätzung, vor Chauvinismus und Fremdenfeindlichkeit. Nirgendwo sonst ist der Nationalstaat auf so entsetzliche Weise gescheitert wie in Deutschland. Das darf nicht vergessen werden.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Aber zugleich möchte ich doch sagen: Mit der staatlichen Einheit Deutschlands erhalten wir aus der DDR eine wirkliche Chance, die Chance, nach dem Scheitern des realen Sozialismus, dem Scheitern des SED-und Stasi-Staats neu anzufangen - unter weit besseren Bedingungen als unsere osteuropäischen Nachbarn.

Mein Bekenntnis, unser Bekenntnis zu Deutschland ist deshalb kein Bekenntnis zu einer Vergangenheit, die uns jetzt wieder einholt, ein Bekenntnis zum Gegebenen der Bundesrepublik Deutschland, sondern es ist ein Ja zu einer Aufgabe, zu einer auf für uns neue Weise gestaltbaren Zukunft, ein Ja zu einem Deutschland, wie es werden soll.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der GRÜNEN)

Es hat mir deshalb gefallen, dass in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober vor den Fenstern meiner Wohnung auf dem Kollwitz-Platz - mitten im Prenzlauer Berg - von ein paar tausend vorwiegend jungen Leuten eine "Republik Utopia" ausgerufen wurde. Dies war zwar als zornig-heitere Alternative zur Veranstaltung vor dem Reichstag gedacht, aber es gefällt mir trotzdem, denn dieses Nirgendwo liegt ja mitten in Deutschland, in Berlin-Prenzlauer Berg.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Das ist übrigens ein Vorgang, der mich, der Sie, der uns an Wichtiges erinnert: Machen wir die deutsche Einigung nicht zum Sieg der einen über die anderen!

Es ist kein Sieg etwa Adenauerscher Politik - wie jetzt immer mal behauptet wird -, sondern Ergebnis vielfältiger Faktoren und Prozesse, zu denen im übrigen nicht zuletzt die Entspannungspolitik der Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher gehört.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der GRÜNEN)

Wir in der ehemaligen DDR verdanken dieser Politik sehr viel: menschliche Erleichterungen, Begegnungen und vor allem Hoffnung. Ich erinnere mich sehr genau an die leidenschaftliche Hoffnung, die der Besuch Willy Brandts 1970 in Erfurt bei uns ausgelöst hat.

(Beifall bei der SPD)

Hoffnung, dass die deutsch-deutsche Geschichte und die ost-westeuropäische Geschichte nicht stillstehen und wir nicht mit ihr versteinern müssen.

Die Bundesdeutschen sollen sich also nicht einbilden, einen Sieg errungen zu haben. Wir, die ehemaligen DDR-Deutschen, haben eine Niederlage erlitten. Im Scheitern des realsozialistischen Systems gibt es bittere lebensgeschichtliche Brüche genug. Zugleich aber erhalten wir in der Niederlage die Chance neuen Anfangs. Machen wir die deutsche Einigung nicht zu einer Folge neuer Ausgrenzungen: der Alternativen, der Autonomen, der Radikalen oder der Ausländer, der Flüchtlinge oder der mehr oder minder belasteten oder durch Misserfolge gezeichneten Ostdeutschen!

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Renger: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Elmer?

- Bitte schön.

Dr. Elmer (SPD): Lieber Wolfgang Thierse, sollten wir in diesem Zusammenhang nicht auch den Bundeskanzler, der leider nicht mehr zuhört, darauf hinweisen, dass die SED-Herrschaft nicht nur die Menschen bei uns in ihrer freiheitlichen Entwicklung behindert und verbogen hat, sondern dass auch umgekehrt der Hass gegen eine solche Herrschaft die Züge verzerrt und, konkret, der jahrzehntelange Antikommunismus auch westdeutsche Bürger in der Weise geschädigt hat, dass sie für eine unbefangene Wahrnehmung osteuropäischer Wirklichkeit ein wenig blind wurden?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

Thierse (SPD): Ich denke: Ja. Ich habe immer gefunden, dass es einen intelligenten Antikommunismus gibt, aber auch einen dummen Antikommunismus

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

und dass heute noch beides gilt. Wir müssen lernen, sehr differenziert über die Geschichte der DDR und die Menschen in ihr zu reden. Der Blick auf Ost-Berlin - ich sage das nach einem Gespräch mit einem Kollegen - ist nicht nur der Blick auf eine Stadt, die aus Leuten des Stasi und aus Funktionären bestand. Dort lebten sehr viele Menschen, ziemlich anständige Menschen.

(Beifall bei der SPD)

Vizepräsidentin Renger: Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?

Thierse (SPD): Ja.

Dr. Lammert (CDU/CSU): Herr Kollege Thierse, mich würde interessieren, ob Sie den neuentdeckten Antikommunismus der PDS zur intelligenten oder zur dummen Variante des Antikommunismus zählen.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Thierse (SPD) : Sie bringen mich in die fatale Situation, mich selbst zitieren zu müssen. Ich halte daran fest, dass die PDS die Partei der fröhlichen Unschuld und der entschlossenen Gedächtnislosigkeit ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

Die deutsche Einigung - das will ich sagen - muss auch eine Versöhnung zwischen den selbstbewussten, erfolgreichen Wessis und den erfolglosen, gedemütigten Ossis anstreben. Ich weiß, es ist nicht nur Arroganz, wenn von uns in der ehemaligen DDR verlangt wird, durch eigene Arbeit, eigene Leistung den Aufschwung, den besseren Wohlstand zu organisieren und nicht immer nur als Fordernde, als Bittsteller aufzutreten. Wir brauchen aber Zeit und Unterstützung zum Erlernen von Selbständigkeit und Selbstverantwortung, zur Überwindung der Lähmung durch totale Vormundschaft. Guten Willen, Entschlusskraft zu fordern, den Geist Ludwig Erhards zu beschwören reicht da nicht aus. Es ist die Aufforderung, sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Wie soll etwa ein Arbeiter in einem maroden Großbetrieb initiativ werden und sich selber helfen? Alle können ja nicht Imbissstände aufmachen, nur damit die Bundesregierung hübsche Gründungsstatistiken vorweisen kann.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Die staatliche Einheit ist erreicht, und wir Sozialdemokraten freuen uns aus ganzem Herzen darüber. Die staatliche Einheit beendet eine Teilung, die noch bis vor einem Jahr nur durch Stacheldraht und Mauern aufrechterhalten werden konnte. Die Menschen in der DDR haben diese Mauern zum Einsturz gebracht.

(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

Es waren ihr Mut, ihre Besonnenheit und ihre Phantasie, die das Regime von SED und Blockparteien beendet haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte daher zuallererst meinen Landsleuten für das danken, was sie gewagt und bewegt haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der GRÜNEN und der PDS)

Sie und nicht etwa die Politiker sind die Väter und Mütter der Befreiung unseres Landes. Das sage ich ausdrücklich als Laienspieler in einem Hause voller alterfahrender Profi-Politiker.

(Zustimmung bei der SPD)

Diese Erfahrung bedeutet aber auch: Die Gestaltung des künftigen Deutschland kann nicht allein oder zuerst Sache der Politiker sein, sie muss Sache aller Bürger werden.

(Zuruf von der SPD: Richtig!)

Ein demokratisches Deutschland muss von unten, von den Bürgern gestaltet werden. Bisher waren zu sehr und fast allein die Regierungen und ein wenig auch die Parlamente am deutschen Einigungsprozess beteiligt.

(Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

Die beiden deutschen Staaten sind nicht zusammengewachsen, nein, vielmehr geht der eine, der gescheiterte Staat in dem anderen, dem erfolgreichen auf. Dies ist eine Tatsache. Man kann das begrüßen oder bedauern; es ist ein Faktum. Wir haben versucht, diesen Prozess mitzugestalten; es ist nur zum Teil gelungen.

Die staatliche Einheit bildet den Rahmen der zukünftigen politischen Gestaltung, sie ist aber kein Ersatz für Kindergärten, Wohnungen und Arbeitsplätze.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS)

Wenn ein System gescheitert ist, und zwar wie das realsozialistische System mit Notwendigkeit gescheitert ist, könnte das bedeuten, dass auch alle seine Elemente erledigt und zu streichen sind. Geht es also um einen wirklich vollständigen Neuanfang, und muss mit allem gebrochen werden, was sich in gut 40 Jahren an Lebenswirklichkeit herausgebildet hat? Ich glaube, nicht. Es gibt gerade - und mir scheint dies vielleicht das einzige zu sein, was wir aus der DDR hinüberbringen - eine Erfahrung von sozialer Sicherheit, die mit sehr vielen Kleinigkeiten verbunden ist.

Ich habe nicht mehr die Zeit, eine Reihe davon aufzuzählen, aber ich denke, dass wir erstens darum kämpfen müssen, den DDR-Bürgern die Erfahrung von Arbeitslosigkeit - auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind - wenigstens in der Weise zu ersparen, dass sie diese Erfahrung nur kurz machen müssen.

Zweitens geht es darum, dass eine Erfahrung nicht verlorengeht, die für die DDR typisch war: dass Männer und Frauen die Möglichkeiten hatten zu arbeiten.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS)

Es geht darum, dass die Frauen nicht aus ökonomischen Gründen gezwungen werden, ihr Recht auf Arbeit nicht mehr ausüben zu können. Darum müssen wir kämpfen.

Es geht drittens darum, dass die Rentner - die, was oft genug gesagt wurde, die wirklich Geschädigten dieser 60 Jahre der deutschen Geschichte sind - nicht die Opfer auch der Einigung werden.

(Zuruf von der SPD: Norbert, hör zu!)

Zwar wird der Sockelbetrag erhöht, aber der Sozialzuschlag wird abgeschmolzen. Dies ist eine Täuschung, die wir nicht zulassen können. Die wirkliche Rente muss erhöht werden!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der PDS)

Auch der vierte Punkt betrifft etwas, womit wir zum Glück keine Erfahrung haben. Ich meine die Angst davor, dass wir unsere Wohnungen verlieren, weil wir die Mieten nicht mehr zahlen können. Auch darum müssen wir kämpfen: Wir müssen der Bevölkerung in diesem Teil Deutschlands zusichern können, dass sich die Mieten in den nächsten Jahren nur um 10 oder 15 oder 20 %, aber auf keinen Fall stärker erhöhen können.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS - Zurufe von der CDU/CSU)

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich denke, diese vier Stichworte haben gezeigt, dass wir erst am Anfang des deutschen Einigungsprozesses stehen, dass wichtige Probleme auf eine Lösung warten, damit neben die staatliche Einigung die Angleichung der Lebensverhältnisse tritt. Hier gibt es keinen Selbstlauf zum Besseren, wie uns einige Gesundbeter weismachen wollen, die bereits mit der Einführung der D-Mark in der DDR Wohlstand und Fortschritt ein- ziehen sahen. Wir erleben zur Zeit schmerzlich, dass es bis dahin noch ein langer Weg ist. Hier sind viel Arbeit und eine vernünftige soziale Politik anstelle von nationalem Pathos nötig.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS)

Die deutsche Hochzeit ist gefeiert. Jetzt geht es darum, den ehelichen Lebensunterhalt zu verdienen, die Wohnung menschlich einzurichten und die Kinder zu versorgen. Erst im prosaischen Alltag einer Ehe bewährt sich die Liebe der Eheleute wirklich.

(Beifall bei der SPD)

Drücken wir dem Paar, also uns, die Daumen!

(Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der GRÜNEN und der PDS)

Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, Stenographischer Bericht, 228. Sitzung, Berlin, Donnerstag, den 4. Oktober 1990, 18055 C bis 18058 A

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