Die Ost-Sozialdemokraten wollen auch mitreden

MORGEN-Gespräch mit SPD-Vize Wolfgang Thierse/Parteichef muss nicht Kanzlerkandidat sein

MORGEN: Herr Thierse, wo blieb die Kritik der Sozialdemokraten aus dem Osten am deutschlandpolitischen Wahlkampfkonzept Oskar Lafontaines? Hatte man Baumeister der deutschen Einheit und Europas, wie Willy Brandt und Egon Bahr, vergessen?

THIERSE: Das ist ein richtig beobachteter Punkt. Die SPD hat nicht ausreichend vermocht, die Menschen in der ehemaligen DDR daran zu erinnern, dass seit den fünfziger Jahren die SPD die Partei der deutschen Einheit ist. Angefangen hat sie in der Opposition gegen den Westkurs Konrad Adenauers. Willy Brandt setzte mit seiner Politik der kleinen Schritte auf Entspannung und deutsch-deutsche Annäherung. Helmut Schmidt half, den KSZE-Prozess einzuleiten, der Reformen in Osteuropa erst ermöglichte.

Andererseits bin ich mir nicht sicher, ob wir unsere Chancen erhöht hätten, mit dem Versuch uns nationaler als die CDU zu gebärden. Dennoch hätte die SPD, die deutsche Einheit deutlicher begrüßen und gleichzeitig den politischen Streit darauf konzentrieren müssen, wer das bessere Konzept für die deutsche Einigung hat. Außerdem war es eine Entscheidung der bundesdeutschen SPD noch vor der Vereinigung der Parteien, in der personellen Alternative zwischen Helmut Kohl und Oskar Lafontaine, die politischen Unterschiede deutlich zu machen. Andere begleitende Persönlichkeiten passten in dieses Grundkonzept nicht hinein.

MORGEN: War es nun richtig?

THIERSE: Da ich ohnehin ein Gegner einer allzu starken Personalisierung in der Politik bin, ist mein Urteil kritisch. Ich habe mich schon im September über dieses Konzept skeptisch geäußert.

MORGEN: Befürchten Sie nicht, dass die Politiker aus dem Osten, quer durch alle Parteien und Fraktionen beim Gerangel um die Posten, von ihren Kollegen aus dem Westen an die Wand gedrückt werden?

THIERSE: Natürlich besteht die Gefahr. Aber, es hängt doch zuallererst von unseren individuellen Qualitäten, vom Durchsetzungsvermögen und von der Leidenschaft ab, die Interessen der Bürger im östlichen Teil Deutschlands wirklich vertreten zu wollen. Dazu müssen wir untereinander kommunizieren und unsere Interessen klar formulieren. Die sozialdemokratischen Abgeordneten aus den fünf östlichen Bundesländern und Berlin werden deshalb einen eigenen Arbeitskreis in der SPD bilden.

MORGEN: Bedeutet Kommunizieren für Sie eine interfraktionelle Verständigung?

THIERSE: Ich wünsche mir eine sehr enge Zusammenarbeit mit den acht Abgeordneten vom Bündnis 90. Und ich wäre erfreut, wenn es auch in den Fraktionen von CDU und FDP einige Abgeordnete gäbe, die erkennen lassen, woher sie kommen.

MORGEN: In den neuen Bundesländern will die SPD ihre Struktur stärken. Könnte nicht ein Vorsitzender aus dem Osten hierbei die richtige Integrationsfigur sein?

THIERSE: Zunächst ist es eine ziemliche Enttäuschung, dass Oskar Lafontaine keine der beiden ihm angebotenen Funktionen übernommen hat. Natürlich muss sich nach einem solchen Wahlergebnis eine personelle Erneuerung, ein Generationswechsel in der SPD vollziehen. Letztlich richtet sich Ihre Frage auch an meiner Person. Ich weiß ungefähr, was ich kann, und ich weiß sehr genau, was ich nicht kann, wo ich noch lernen muss. Kurz, ich brauche noch Zeit.

Doch eines sollte klar sein, die Sozialdemokraten aus der ehemaligen DDR werden ihren Einfluss bei der Entscheidung über das oberste Parteiamt geltend machen. Denn wir brauchen einen Vorsitzenden, der auch die SPD in Ostdeutschland vertritt und integriert. Wichtig ist ein Repräsentant eines einigen Deutschlands, der das wirkliche Zusammenwachsen der Deutschen aus sozialdemokratischer Sicht überzeugend zu gestalten Willens ist.

MORGEN: Muss der Kanzlerkandidat denn gleichzeitig immer auch der Parteichef sein?

THIERSE: Das muss er überhaupt nicht. Worin sollte denn die Notwendigkeit dieser Verkettung bestehen? Sicher ist es sinnvoll, dem Herausforderer eine starke Stellung in der SPD einzuräumen.

MORGEN: Wäret es nicht eine ziemliche Bürde, einem amtierenden Ministerpräsidenten mit dem Parteivorsitz zu belasten?

THIERSE: Zunächst sollte ein Vorsitzender Ausstrahlung für die eigene Partei und weit darüber hinaus besitzen. Das setzt auch eine Bewährung in exponierter Stellung voraus. Daher sind Ministerpräsidenten immer bevorzugte Kandidaten. Darauf würde ich jedoch den Auswahlkreis nicht beschränken. In der SPD gibt es eine Reihe von Politikern, über die man nachdenken kann, wenn es um die Frage des Vorsitzenden geht.

MORGEN: Können Sie sich eine Frau an der Spitze der SPD vorstellen?

THIERSE: Ich würde das sehr begrüßen. Aber für eine Frau, das ist nun wirklich Gleichberechtigung, gilt dasselbe wie für einen Mann: Die große Mehrheit in der Partei muss hinter ihr stehen.

MORGEN: Würden Sie jemanden favorisieren?

THIERSE: Für mich gibt es drei oder vier Leute, die ich nach meinem politischen Geschmack in die engere Wahl ziehen würde.

MORGEN: Ist darunter eine Kandidatin?

THIERSE: Da ist auch eine Frau dabei.

Interview
Olaf Opitz

Der Morgen, Sa. 08.12.1990

Δ nach oben