"Tribüne"-Interview mit Wolfgang Thierse, Stellvertretender SPD-Vorsitzender

Viele Glauben vor Angst an Wunder

• Noch genau zwei Wochen bis zum 2. Dezember. Glauben Sie noch ernsthaft in einen Wahlsieg der Sozialdemokraten?

Also, das ist eine eigentümliche Frage an einen Politiker, der von sich noch nie behauptet hat, ein Prophet zu sein. Ich kann nur alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auffordern, darüber mitzuentscheiden, ob die SPD regieren soll.

• Aber man hat doch den Eindruck, dass selbst viele der Genossen schon resignieren. Wenn zum Beispiel gesagt wird, Kohl lügt und wird nach der Wahl die Steuern erhöhen, heißt dies ja wohl, dass man wieder mit der gleichen Regierung rechnet.

Man muss ja auch immer mit dem Schlimmsten rechnen. Die CDU ist jetzt in der Regierung und hat da einen objektiven Rollenvorteil. Sie ist die Handelnde in der Politik. Das kann die SPD nicht vollkommen ausgleichen.

Und die Regierung erklärt, es bedarf keiner Steuererhöhungen für die deutsche Einheit. Dabei wissen wir doch alle, dass diese Einheit viel kostet. Die SPD ist nicht dafür, weil sie etwa die Einheit den Deutschen und zumal den Deutschen in der ehemaligen DDR nicht gönnt. Im Gegenteil. Wir sagen, dass sie etwas kosten muss, um sozial vertretbar und ökologisch vernünftig gestaltet zu werden, deshalb sind wir für eine steuerliche Ergänzungsabgabe von den Besserverdienenden.

Ich denke allerdings, dass die deutsche Einheit wirklich nicht nur eine Frage der D-Mark sein darf, sondern ein menschlicher Verständigungsprozess sein muss.

• Das ist sicher eine gute Absicht. Aber noch im Frühjahr und vor dem 18. März auch in der ehemaligen DDR lag die SPD bei allen Umfragen deutlich vorn. Fehlte es dann nicht doch an einem Konzept für die Einheit, vor allem an einer Alternative zur Bonner Politik?

Ich stelle etwas besorgt fest, dass es viele Leute bei uns gibt, die so verunsichert sind und so viele Ängste haben, dass sie fast - entgegen den eigenen Erfahrungen - an Wunder glauben wollen. Und dieses Bedürfnis nach einem Wunder befriedigt offensichtlich die CDU besser.

Unser politisches Programm ist einfach anspruchsvoller, ist erklärungsbedürftiger. Unsere Botschaft lässt sich nicht auf ein paar Wunderversprechungen reduzieren. Insofern haben wir eine et was mühseligere Arbeit zu tun.

• Aber es bleibt doch die Tatsache, dass es offenbar beim Wähler nicht ankommt, wenn sich Lafontaine nun auf seine teilweise eingetretenen Vorhersagen beruft. Möglicherweise gab es eben keinen anderen Weg?

Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde doch nicht von der CDU alleine verhandelt. In der DDR war es eine große Koalition, und auch in der Bundesrepublik war die SPD beteiligt. Am Ende jedoch erscheinen immer der Kanzler, die Regierung, als hätten sie es alleine gemacht. Es geht doch gar nicht um die Alternative, dass die einen die Einheit wollen und die anderen nicht. Die Sozialdemokraten wollen die Einheit mit der gleichen Leidenschaft, aber sie wollen sie mit möglichst geringen Opfern, zum Beispiel bei der Arbeitslosigkeit oder der Gestaltung der Umwelt.

• Wenn es um Probleme geht, bleibt dem Bundeskanzler selbstverständlich immer der Rückgriff auf 40 Jahre sozialistischer Misswirtschaft. Wofür kann unter solchen Bedingungen eine Regierung jetzt überhaupt wirklich zur Verantwortung gezogen werden?

Mit Sicherheit kann man sie dafür zur Verantwortung ziehen, dass manches viel schneller gegangen ist, als es ökonomisch vernünftig war. Natürlich müssen alle Parteien auf die Stimmung der Bevölkerung eingehen. Aber Politik ist nicht die unmittelbare Umsetzung dieser Stimmung. Das muss mit Vernunft gemacht werden. Und das ist der eigentliche Vorwurf. Außerdem hat es die Bundesregierung nicht vermocht, für das Gebiet der ehemaligen DDR wirklich positive wirtschaftliche Impulse zu geben. Bisher ist doch folgendes eingetreten: Die westdeutsche Wirtschaft boomt, kann ihre Kapazitäten voll auslasten, dort ist also wirtschaftlicher Aufschwung, geringere Arbeitslosigkeit als bisher. In der ehemaligen DDR erleben wir das genaue Gegenteil. Wir sind bisher ein reines Absatzland, mit rasant zunehmender Arbeitslosigkeit. Hier sind Politik, staatliches Handeln gefordert. Zum Beispiel ein ordentliches Programm für die Infrastruktur, ein Programm zur Arbeitsbeschaffung vor allem im Wohnungsbau. Dafür sind Milliarden notwendig. In dieser Hinsicht hat die Bundesregierung nichts aufzuweisen, hat schlicht versagt.

• Nun hat Herr Waigel - nach zunächst heftigem Streit - vor der Wahl den Finanzplan 1991 vorgelegt. Die Kritik hält sich plötzlich in Grenzen. Wie kommt das?

Ich sehe, dass die Regierung Forderungen der SPD zunächst stets als abenteuerlich zurückweist, um sie wenig später mit Selbstverständlichkeit als die eigenen zu präsentieren. Dies ist ein übles parteipolitisches Spiel, aber ich sage immer, manchmal sind die Forderungen der SPD nur auf solchen Umwegen durchzusetzen.

Waigel versucht, nun die deutsche Einheit ausschließlich durch Einsparungen, oft an den falschen Stellen, zu finanzieren. Oder, was ich besonders katastrophal empfinde, durch Erhöhungen der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Anders gesagt, schließlich sollen wieder die Ärmsten bezahlen.

• Die Prognosen der Bundesregierung bleiben ziemlich optimistisch. Was halten Sie dagegen?

Ich sehe, dass sich eine ökonomische und soziale Spaltung Deutschlands, die jetzt schon vorhanden ist, verschärft. Gesundbeterei bewirkt da nichts. Das gab es schon im Frühjahr Und wir sehen jetzt, dass die Arbeitslosigkeit und vor allem die Kurzarbeit-Null - also die riesige Zahl derer, die bald in vollständige, wirkliche Arbeitslosigkeit gehen - viel höher liegen, als alle behauptet haben.

• Nur Schwarzmalerei ist aber auch keine Lösung. Und Steuererhöhungen hemmen doch nun unbestritten die Investitionsbereitschaft. Gibt es da nicht einen Widerspruch bei der SPD?

Es reicht auch nicht, die Unternehmer daran zu erinnern, dass sie Deutsche sind. Es müssen ökonomische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wir sagen doch nicht einfach unterschiedslos Steuererhöhungen. Wir wollen eine Sonderabgabe von denjenigen, die mehr Geld verdienen, und vor allem von denjenigen, die jetzt schon die Gewinner der Einheit sind. Wir sind gegen höhere Mehrwertsteuern, weil diese eben vor allem von den kleinen Leuten bezahlt werden müssten und auch von der Bevölkerung in der ehemaligen DDR. Das wäre eine elementare, soziale Ungerechtigkeit.

• Gilt das nicht auch für die Aufhebung von Subventionen?

Es war doch klar, dass eine Subventionsumverteilung stattfinden muss. Hier fordert die SPD einen Ausgleich, sozialstaatliche Sicherungen. Noch ein Wort zu den Steuern. Ich befürworte steuerliche Anreize für Investitionen, ich bin dafür, dass öffentliche Auftraggeber nur solche Firmen akzeptieren, die garantieren, dass die Aufträge hier erfüllt werden, hier Arbeitsplätze sichern und schaffen.

• Zu einem anderen Thema: In der ehemaligen DDR breitet sich Gewalt aus. Ich erinnere an Fußballspiele und an die jüngsten Ereignisse in Berlin. Was empfindet da jemand, für den die friedliche Revolution ein historisches Ereignis war?

Ich bin sehr erschrocken und sehr traurig darüber, persönlich tief betroffen, über die Zunahme von Aggressivität, von Gewalt, aber auch von Ausländerhass und Frauenfeindlichkeit. Diese Situation. ist sicher nicht leicht zu erklären.

Ich habe große Sympathie für Leute, die Häuser besetzen, um sie zu renovieren. Aber ich habe kein Verständnis, wenn es Leute gibt, die dieses sinnvolle Anliegen missbrauchen, um einen politischen Kampf zu führen, den sie woanders längst verloren haben. Den Kampf gegen eine Staatsmacht als solche.

• Kommt in solchen Situationen nicht auch ein Mangel an demokratischen Instrumenten zum Ausdruck, um vernünftige Lösungen vorher zu erwirken? Belastet dieser Mangel an Demokratie die deutsche Einheit nicht überhaupt, ich erinnere an die Diskussion über eine neue Verfassung, an eine Volksabstimmung?

Wir sollten über eine neue deutsche Verfassung auf der Basis des Grundgesetzes diskutieren und dazu eine Volksabstimmung durchführen. Die SPD ist dafür, dass soziale Grundrechte, das Recht auf Arbeit, auf menschenwürdiges Wohnen, auf Bewahrung der natürlichen Umwelt, in eine Verfassung aufgenommen werden. Die SPD hält an dieser Forderung fest. Es ist auch unser Verdienst, dass dies in den Einigungsvertrag aufgenommen wurde.

(Das Interview führte
Michael Bolz)

Tribüne, Mo. 19.11.1990

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