"Sozialdemokratische Programmatik"

Rede Marie-Elisabeth Lüdde

Ich heiße Marie Elisabeth Lüdde, und ich bin aus Weimar. Ich bin Pfarrerin und Schriftstellerin, und ich bin heute hier zugleich beklommen und stolz zu ihnen zu reden Beklommen bin ich deshalb, weil es mir auch schwerfällt, zwischen den vielen Prominenten zu sprechen. Ich bin das nicht gewöhnt. Und zum anderen bin ich es überhaupt nicht gewöhnt, vor kompetentem Publikum zu sprechen Aber noch mehr als beklommen bin ich stolz darauf hier zu stehen, wenn ich an meinen Großvater und an meinen Urgroßvater denke, von denen ich annehme, sie wurden sich freuen, dass ich hier stehe. Denn sie waren Bergleute und aufrechte Sozialdemokraten. Ich bin vom Vorstand beauftragt worden, Euch heute die programmatischen Vorstellung der SPD vorzulegen. Dieser Entwurf spiegelt die Diskussionen unter uns wider. Viele Gedanken Ideen, Vorschlage, aus vielen Gruppen und auch von Einzelnen sind hier eingeflossen. Ich danke allen, die unter großen Opfern an Zeit und an Kraft am Inhalt mitgearbeitet haben.

Bevor ich ihnen den Inhalt darlege möchte ich noch zwei Gedanken zum Stil sagen, wie wir miteinander umgeben sollten. Ich finde erstens, Politik sollte Spaß machen. Ich erlebe unter uns zu viel Verbissenheit. Zweitens: Politik sollte aus dem Dialog kommen. Zu oft wird unter uns noch monologisiert statt angehört. Mein Verdacht ist, zu oft geht es um Macht, werden durch Reden Rangordnungen hergestellt. Ich meine, erfreuliche Resultate erwachsenen aus dem lebendigen Gespräch, das aufeinander eingeht. So einen heiteren, gelassenen, hörfähigen und doch konzentrierten Arbeitsstil, Umgangsstil miteinander wünsche ich uns. Ich komme also jetzt zum Inhalt.

Ich möchte mich hier darauf beschränken sozialdemokratische Grundgedanken zur Veränderung und Entwicklung unserer Gesellschaft exemplarisch an vier Hauptpunkten deutlich zu machen. Diese Hauptfelder sind

1. Europa- und Deutschlandpolitik
2. Wirtschaft
3. Ökologie
4. Sozialpolitik

Bevor ich unsere interesseleitenden Grundsätze nun vorstelle, möchte ich einiges über die Prinzipien sozialdemokratischen Handelns sagen. Sie verbinden uns mit unseren Müttern und Vätern, aber auch mit den sozialdemokratischen Schwesterparteien der Sozialistischen Internationale. Ich stelle das darum jetzt an den Anfang, weil ich meine, dass vor Selbstbestimmung, zu der wir aufgerufen sind, die Selbstbesinnung stehen müsste. Also ich fange mit nulltens an: Prinzipien sozialdemokratischen Handelns.

Wir treten ein für eine Welt, die friedlich ist, für eine Natur, die geschützt und bewahrt wird, für globale soziale Gerechtigkeit und für eine weltweite Demokratisierung. Grundwerte, die uns dabei leiten, sind: Schutz der Menschenrechte, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Demokratie und gemeinsame Sicherheit. Ich sage hier heute, und das tut mir weh, nichts über den demokratischen Sozialismus. Diesen Begriff habe ich für meinen Teil in den Genesungsurlaub geschickt. Vielleicht - ich hoffe es - kommt er eines Tages gesund zurück, geheilt von den Verletzungen, die ihm die SED zugefügt hat.

(Beifall)

Der Staat hat die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und wo nötig durchzusetzen. Er kann sie jedoch nicht, da sie nicht zu seiner Verfügung stehen, gewähren oder versagen. Die individuellen und sozialen Menschenrechte sind aufeinander bezogen. Sie können einander nicht ersetzen noch dürfen sie gegeneinander ausgespielt werden. Wir streben eine Gesellschaft an, in der sich jeder Mensch, jeder Einzelne frei entfalten kann und sich der politischen Teilhaberechte sowie der sozialen Grundrechte sicher sein kann. Gerechtigkeit gründet in der Würde eines jeden Menschen. Sie verlangt Gleichheit vor dem Gesetz, Gleichheit der Chancen und Gleichheit in der Verteilung von Einfluss von materiellen Gütern und Zugang zu Bildung und Informationen. Solidarität lässt füreinander einstehen. Sie bewahrt alte religiöse Vision der Mitmenschlichkeit, die sich besonders an Schwachen und Rechtlosen bewährt. Solidarität muss heute erweitert werden auch auf die Natur und auf die kommenden Generationen. Demokratie heißt für uns Mitbestimmung aller auf allen Ebenen. Demokratie heißt, sich mittels freier Wahlen zwischen politischen Alternativen entscheiden zu können. Es geht um die Wahrung der Rechte von Einzelnen und Minderheiten, also um praktische Gleichberechtigung. Unser Friedenskonzept beruht auf dem Prinzip gemeinsamer Sicherheit. Wir gehen davon aus, dass jede Seite der anderen Seite Daseinsberechtigung und strukturelle Friedensfähigkeit zubilligt. Unser Ziel besteht darin, Militärbündnisse aufzulösen, Waffen aller Art abzuschaffen und Militärbudgets für lebenserhaltende Zwecke einzusetzen.

(Beifall)

Wir streben eine internationale Friedensordnung an. Diese Grundwerte wollen wir Sozialdemokraten politisch durchsetzen. Politik ist für uns eine notwendige gesellschaftliche Dimension. Eine Dimension, die zur Würde des Menschen gehört. Wir haben sie hier in der DDR in den letzten Monaten wiedererlangt. Politik muss getragen sein von Engagement der Bürgerinnen und Bürger und ist das Ergebnis des Zusammenwirkens aller. Dieses Zusammenwirken im Gespräch und im Handeln ist ein Ausdruck offener demokratischer Kultur.

Mein erster Punkt lautet: Europa und Deutschlandpolitik und da ich aus Weimar komme und wie sie wissen, die Weimarer Leute immer den Drang verspüren, an unpassenden oder passenden Stellen Goethe zu zitieren, zitiere ich ihn also auch und hoffe, es ist eine passende Stelle. Vor 160 Jahren im Jahre 1828 hat Goethe also geschrieben: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde. Vor allem sei es eins in Liebe untereinander, und immer sei es eins, dass der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Wert habe -

(Beifall)

eins, dass mein Reisekoffer durch alle deutschen Länder ungeöffnet passieren könnte."

(Beifall)

Wir sind also eingetreten in den, Prozess der deutschen Einigung, der vor 160 Jahren auch schon auf der Tagesordnung stand. Ihn wollen wir mit dem Prozess der europäischen Vereinigung verknüpfen. Das Ziel der deutschen Einheit wird erreicht, indem das Europäische Haus Realität wird. Trennende Mauern fallen, Deutsche werden, wenn sie es wollen, eine gemeinsame Wohnung darin haben. Über ein Netzwerk von Verträgen bis hin zu Staatenbund und Bundesstaat lassen sich Gemeinsamkeiten entwickeln. Nachkriegsgrenzen werden wir dabei nicht in Frage stellen!

(Beifall)

Wir wollen die Sorgen und Sicherheitsinteressen unserer Nachbarn und der Alliierten ernst nehmen.

Besonders zu unseren östlichen Nachbarn sind Verbindungen gewachsen. Gemeinsam haben wir den Stalinismus erlitten und bekämpft. Wir gehen den Weg, der von Helsinki ausgewiesen wurde. Alle Völker, so auch wir haben das Recht auf freie Selbstbestimmung. Voraussetzung bleibt freilich eine durch freie Wahlen legitimierte Regierung. Die staatliche Einheit Deutschlands wird sich in einem solidarischen Europa vollenden, in dem Grenzen nicht, mehr trennen. Ein Europa, in dem Kriege nicht mehr möglich sein werden. Ein Europa ohne verfeindete Militärblöcke. Ein Europa, dass seine Kräfte nicht gegeneinander richtet, sondern auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgabe lenkt, nämlich auf die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und auf die Überwindung des Nord-Süd-Gefälles. Und ich habe hier die Grundsatzerklärung der SPD aus Berlin zitiert.

Wir werden uns der deutschen Einheit nähern durch vertragliche Regelungen und übergreifen Institutionen. Durch wirtschaftliche, ökologische, energiepolitische, kulturelle, wissenschaftliche und sicherheitspolitische Zusammenarbeit auf allen Ebenen. D. h., der Prozess der europäischen Einigung erfordert den schrittweisen Abbau der militärischen und politischen Blöcke. So nehmen wir unsere Verantwortung für die Aufhebung der Teilung Europas wahr. Ein Ziel sozialdemokratischer Politik sind die Vereinigten Staaten von Europa.

(Beifall)

Ein Bund, in dem Freiheit, Demokratie, Chancengleichheit und Sicherheit verwirklicht sind und der Friede für immer eine Heimstatt hat. Der Traum vieler Menschen hier in der DDR ist die Einheit Deutschlands auch staatlich zu gewinnen. Wir Sozialdemokraten wollen diese Möglichkeit mit viel Vernunft und im politischen Dialog mit allen Beteiligten realisieren.

Mein zweiter Punkt heißt Wirtschaft. Wir haben heute schon gesagt, gehört, die nationale Frage ist eine wirtschaftliche Frage für uns. Darum muss, in der Wirtschaft unverzüglich mit grundlegenden Veränderungen begonnen werden. Dabei verbieten sich bei nüchterner Einschätzung unserer Wirtschaftslage erneute SED-Experimente mit 16 Millionen Menschen.

(Beifall)

Die bisherige administrative Kommandowirtschaft hat unsere Gesellschaft nahe an den Ruin geführt, Menschen um Freiheit und Lebenschancen betrogen. Die SPD geht davon aus, dass eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft das einzig geeignete Wirtschaftsmodell ist, das in einer demokratischen Gesellschaft die Verwirklichung ökologischer und sozialer Erfordernisse ermöglicht und zugleich die Effektivität fördert.

Das System der sozialen Marktwirtschaft beruht auf dem ökonomischen Wettbewerb, wobei durch den Staat und seine demokratische Gesetzgebung die juristischen Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Sie sichern, dass sozial und ökologisch schädliche, Wirkungen des Marktmechanismus eingeschränkt und überwunden werden.

(Vereinzelter Beifall)

Die ökologisch soziale Marktwirtschaft muss so gestaltet werden, dass alle Voraussetzungen für eine humane Gestaltung der Arbeitswelt und die Entfaltung der Freiheit des Menschen ermöglicht, Gestaltung der Arbeitswelt und die Entfaltung der Freiheit des Menschen ermöglicht und gesichert und gefördert werden. Ausgangspunkt zur Neugestaltung der Wirtschaft muss eine gründliche Analyse der gegenwärtigen Wirtschaftssituation sein.

Durch die Regierung sind die relevanten Fakten unverzüglich offenzulegen.

(Vereinzelter Beifall)

Mit dem bisherigen Wirtschaftssystem ist es nicht gelungen, eine mit hochentwickelten kapitalistischen Ländern vergleichbare Arbeitsproduktivität und -effektivität zu erreichen. Der Abstand zu den hochentwickelten Industrieländern ist in den letzten Jahrzehnten größer geworden. Wir sind auf dem Wege, in wissenschaftlich-technischer Hinsicht ein Entwicklungsland zu werden, doch daraus resultiert nicht nur ein weniger attraktives Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen, sondern auch ein Verlust an Selbstwertgefühl und damit an Identifikation als DDR-Bürger.

Auf der Tagesordnung steht darum ein grundlegend erneuertes Wirtschaftssystem. Verbesserungsversuche am bisherigen System müssen wir uns verbitten. Die Erneuerung der Wirtschaftspolitik muss die Regierung entlasten von der Verantwortung für Dosenöffner, Toilettenpapier und Zahnbürsten.

(Beifall)

Sie muss Kapazität freisetzen für langfristige Rohstoff- und Energiesicherung, für Umweltschutz und Wissenschaftsförderung. Wir Sozialdemokraten treten ein für ein weltmarktbezogenes, vorausschauendes wirtschaftliches Handeln, das der persönlichen Produktivität und den Initiativen Raum gibt und dem Gemeinwohl dient. Dem dient die qualifizierte Mitbestimmung der Werktätigen auf allen Ebenen, auf allen Ebenen wirtschaftlicher Entscheidungen durch Gewerkschaften und Betriebsräte.

Die wirtschaftliche Entwicklung der DDR muss sich auf weltmarktfähige Arbeitszweige konzentrieren. Es müssen Regelungen getroffen werden zur Herstellung der ökonomischen Selbständigkeit der Betriebe und Förderung der direkten internationalen Zusammenarbeit. Dazu sind Investitionsschutzabkommen und Sicherungen für den Kapital- und Gewinntransfer notwendig. Die Konzentration wirtschaftlicher Macht bis hin zum marktbeherrschenden Monopol zerstört den Wettbewerb. Darum müssen unter Umständen Kombinate auch entflochten werden, um effektive Betriebsgrößen herzustellen und den Wettbewerb zu stärken. Kleinere und mittlere private Unternehmen müssen eine gleichberechtigte Chance vor allem auf dem Konsumsektor bekommen, denn dort sind die eklatantesten Versorgungsengpässe zu beseitigen. Verkauf von Boden, Immobilien sowie volkseigenem Besitz in der DDR kann nur in einem genau kontrollierten gesetzlichen Rahmen erfolgen, um Spekulationsgewinnen vorzubeugen.

(Beifall)

Eine der Hauptfragen lautet, welche Formen des Eigentums soll es geben. Denn es waren ja gerade die Anonymität des Eigentums und der daraus folgende Mangel an Identifikation mit ihm, die uns in diese Krise geführt haben. Ich nenne jetzt also die Formen des Eigentums:

1. Staatliches Eigentum, zum Beispiel Deutsche Reichsbahn, Post- und Fernmeldewesen und die Fluggesellschaft.

2. Überwiegend staatliche Betriebe in Industrie-, Land- und Forstwirtschaft oder Handel. Kombinate sollten fortbestehen, wenn ihre Existenz auf dem Binnenmarkt nicht nachteilig und auf den Außenmärkten vorteilhaft ist.

3. Die Unternehmungen der Kommunalwirtschaft wie Stadtreinigung, innerstädtischer Verkehr usw.

4. Genossenschaften.

5. Die private Wirtschaft, die vom heutigen Ausnahmefall zu einer normalen Sache werden wird. Und

6. das Handwerk, dem für die Versorgung der Bevölkerung und die Bewältigung unserer wirtschaftlichen Krise eine besondere Bedeutung zukommt. Die Kombinats- und Kommandowirtschaft muss also schnellsten überwunden werden.

Ich möchte jetzt etwas sagen zu Währungsfragen. Die ökonomische Binsenweisheit, dass eine Währung immer nur so stark ist, wie die dahinterstehende Wirtschaft, gilt auch für uns. Konvertibel wird die DDR-Mark nicht durch Kommaverschiebungen oder durch neu gedrucktes Papier, solange die Wirtschaft nicht Güter und Dienstleistungen produziert bzw. erbringt, die den Geldscheinen Wert verleihen. Solange schafft auch ein Währungsschnitt keine Besserung. Alles Herumdoktern bringt nichts, solange das Kernelement einer effizienten Wirtschaft fehlt, nämlich ein Preissystem, das Knappheiten misst und die begrenzten Ressourcen optimal einsetzt. Ein Wirtschaftssystem, in dem Preise für Wohnungen, Brot, Strom und Fahrtkosten vom Staat festgelegt und durch Subventionen verzerrt werden, weiß ja nichts über die wahren Kosten der Produktion.

(Vereinzelter Beifall)

Wer seine Kosten nicht kennt, produziert zwangsläufig unwirtschaftlich.

Kaufkraft und Geldwert der Mark der DDR wurden durch eine Preispolitik ausgehöhlt, die vor allem bei Industriepreisen auf den statistischen Ausweis von Wachstum gerichtet war. Die Kombinate mit wachsendem Rückstand in der Arbeitsproduktivität und einer ebenfalls wachsenden Preisblähung führten zum raschen Verfall des Außenwertes der DDR-Mark. Sie wurde in rasch folgenden Schritten drastisch abgewertet in ihrer Relation zu harten Währungen. Auf der anderen Seite war die Staatsbank auf unglückselige Weise mit dem Staatshaushalt verquickt. Daraus sind zwei wichtige Schlussfolgerungen zu ziehen.

1. Die Staatsbank muss vertrauenswürdige Hüterin der Währung sein. Das kann sie aber nur, wenn sie autonom ist,

(Beifall)

also nicht dem Diktat der Regierung oder gar dem Diktat der Partei unterworfen ist. Das Banksystem muss also grundlegend umgebaut werden. Die Geschäftsbanken werden aus einem Stück Staatsapparat zu richtigen Kreditinstituten. Ausländische Banken werden auf dem DDR-Markt präsent sein. Es werden auch Geld- und Devisenmärkte aufzubauen sein. Wertpapier müssen handelbar sein. Devisen müssen für Betriebe zu kaufen und zu verkaufen sein.

2. In der DDR ist ein modernes Steuersystem zu Schaffen, durch das die notwendige Rechtssicherheit hergestellt wird. Die Steuern fließen dem zentralen Staatshaushalt sowie den Haushalten der Länder, Kreise und Kommunen anteilig zu.

(Beifall)

Wenn man mit der Mark Staat machen will, muss sie langfristig konvertierbar werden. Dann aber müssen auch die Rechte der Unternehmen, beispielsweise das Recht über Import- und Export, Devisenkauf und -verkauf autonom zu entscheiden, klar definiert sein. Die Konvertierbarkeit setzt ein funktions- und leistungsfähiges Preissystem unabdingbar voraus. Es ist besonders wichtig, dass eine umfassende Preisreform mit dem Abbau von Subventionen und Aktien sozial verträglich gestaltet wird.

(Vereinzelter Beifall)

Das heißt, bei allen Schritten der Wirtschaftsreform muss ein Maximum an sozialer Verantwortung obwalten. Unverzichtbar für die Konvertierbarkeit der DDR-Mark ist die Abschöpfung des Kaufkraftüberhanges.

Zwischen dem Geldangebot und dem realen Güterangebot klafft eine Lücke. Wir wissen das alle. Waren sind knapp, Geld ist reichlich vorhanden. Dieser Überhang kann zu zwei gefährlichen Folgen führen.

1. Zu einem Währungsschnitt mit dem weitgehenden Verlust der Spareinlagen der Bürger und

2. zu einem inflationären Prozess. Der hat ja eine ähnliche Wirkung, nämlich eine Ersparnisentwertung.

Als realistische Lösung kommt nur die Abschöpfung von Kaufkraft durch Veräußerung von Staatsvermögen in Betracht.

(Beifall)

Das heißt, Veräußerung von Unternehmen, Stichwort Aktien. Und das heißt, die Veräußerung von Wohnraum, Stichwort Eigentumswohnungen.

(Beifall)

Die Erwirtschaftung der notwendigen Devisen erfordert neue wirtschaftliche Wege. Wir haben in den letzten Wochen alle von den berühmten joint ventures gehört. Und sie verlangt auch andere Formen der internationalen Zusammenarbeit. Nach unserer Meinung ist eine feste Anbindung der DDR-Mark an die D-Mark, das heißt eine Währungsunion, sinnvoll. Das bedeutet, für das Austauschverhältnis von D-Mark und Mark der DDR wird ein fester Wechselkurs politisch vorgegeben. Dadurch kann heute schon ein Gleichgewichtszustand simuliert werden, der sich erst langfristig einstellen würde. Diese Währungsunion könnte ein wirksames Instrument sein, um die Wirtschaft der DDR anzukurbeln.

Alle diese Vorschläge müssen von Wirtschaftsfachleuten geprüft werden. Wir Sozialdemokraten werden aber nur Lösungen mittragen, die das soziale Sicherheitsnetz stärken und ausbauen und den DDR-Bürgern eine sinnvolle Perspektive in diesem Land eröffnen.

(Beifall)

Ich möchte jetzt einige Sätze zur Landwirtschaftsreform sagen. Die Agrarpolitik der SPD wird eine auf den Binnenmarkt orientierte Nahrungsmittelproduktion mit einer ökologisch verantwortbaren Wachstumsrate zum Inhalt haben. In dieser Politik sieht die SPD einen praktischen Beitrag für die Neuorientierung der internationalen Agrarpolitik. In der DDR ist als Zeichen der Anerkennung begangenen Unrechts durch die Zwangskollektivierung eine Klärung der eigentums- und vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen jedem LPG-Mitglied und seiner Genossenschaft erforderlich. Dabei ist das Recht auf Austritt aus der Genossenschaft zum Zweck des Aufbaus eines privaten landwirtschaftlichen Betriebes zu garantieren.

Zur Verhinderung von Bodenspekulationen für Baumaßnahmen und der damit einhergehenden Verringerung der landwirtschaftlichen Nutzfläche besitzt der Staat bei Verkauf von Grund und Böden das Vorkaufsrecht. Dabei ist für die weitere Verwendung dieser Flächen land- und forstwirtschaftlichen Nutzungsformen der Vorrang zu geben. Im Interesse eines wahrhaft genossenschaftlichen Wirtschaftens ist es erforderlich, dass die Grundsätze des Genossenschaftswesens eingehalten werden. Wir schlagen die Auflösung von Kooperationsräten und -verbänden vor, um die eigenverantwortliche Arbeit durch die Betriebe verschiedener Eigentumsformen zu gewährleisten. Daraus ergibt sich auch die Aufhebung der Trennung zwischen Pflanzen- und Tierproduktion bei gleichzeitiger Festlegung von Bestandsobergrenzen

(Beifall)

und dem Nachweis einer angemessenen Flächenausstattung für eine artengerechte Nutztierhaltung.

Zur Wahrung des Konsumentenrechtes auf gesunde Nahrungsmittel ist vor dem Verkauf pflanzlicher und tierischer Produkte eine staatliche Kontrolle der Erzeugnisse nach Stichprobenplänen sicherzustellen. In Erwartung einer wachsenden Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse unter Verwendung von chemischen Düngern, Herbiziden, Insektiziden, Antibiotika usw. sind Wirkungsmechanismen zu schaffen, die Gewinne für die Herstellung von Nahrungsmitteln unter umweltschonenden Produktionsverfahren garantieren.

(Vereinzelter Beifall)

Ökologisch orientierter Landbau muss deutlich kostengünstiger sein.

Jetzt kommen einige Gedanken zur Verkehrspolitik. Rolle, Bedeutung und gesellschaftliche Stellung des Verkehrswesens müssen neu bestimmt werden. Die bisherige Entwicklung dieses Bereiches geriet immer stärker in Rückstand zur internationalen Entwicklung. Infrastruktur und Effektivität des Beförderungs- und Transportwesens müssen der zentralen Lage der DDR entsprechen. Das gegenwärtige Niveau hemmt die wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes. Der Personenverkehr ist mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten als Gesamtheit zu begreifen, wobei dem öffentlichen Nahverkehr eine dominierende Rolle zukommt. Sein Vorrang muss durchgesetzt werden. Es ist deshalb ein neues Verhältnis der Gesellschaft zum Besitz und der Nutzung individueller Kraftfahrzeuge zu diskutieren. Im Gütertransport ist die Rationalisierung zu fördern. Das Streckennetz ist dringend auszubauen. An die Stelle administrativer Methoden müssen auch hier marktwirtschaftliche Bedingungen treten.

Ich sage jetzt einige Sätze zur Informationspolitik in der Wirtschaft: Symptomatisch für die Zeit der zentralistischen Kommandowirtschaft waren Desinformation, Informationsentzug, Geheimniskrämerei und notorischer, Schwindel bei nahezu allen wichtigen statistischen Angaben. Wir fordern einen neuen Umgang mit Wirtschaftsinformationen durch periodische Veröffentlichungen der staatlichen Zentralverwaltung der Statistik, der Zentrale der Staatsbank usw., bei den es keine Tabus geben darf. Weiterhin durch den Ersatz der Frontberichterstattung vom Kampf um die Planerfüllung in den Tageszeitungen durch seriöse Wirtschaftsteile.

(Beifall)

Weiterhin durch die Gründung von Wirtschaftszeitungen, durch die Gründung wirtschaftswissenschaftlicher Periodika. Eine solide Informationspolitik schafft vertrauen, ermöglicht Engagement, gewährt Transparenz und führt zur Sicherheit von Entscheidungen.

Der nächste Punkt ist der wichtige Punkt, der sich mit den Gewerkschaften beschäftigt. Denn neue Wirtschaftskonzepte verlangen das Mitwirken einer, starken unabhängigen Gewerkschaft! Wir stellen den Verfall der alten Einheitsgewerkschaft FDGB fest.

(Beifall)

Er ist das Resultat einer nicht an den Interessen der Arbeitenden, sondern an den Machtbedürfnissen einer zentralistischen Partei orientierten Tätigkeit dieser Organisation. Es gibt keinen Anlass über die bisherigen arbeiterfeindlichen Praktiken zu schweigen. Es gibt aber ebenso keinen Grund über die Unfähigkeit des FDGB und der alten Industriegewerkschaften in Schadenfreude zu verfallen. Die Arbeiter in diesem Land brauchen gerade in Anbetracht der wirtschaftlichen Umschichtungen, die erforderlich sind, standhafte und freie gewerkschaftliche Vertretungen. Wir treten deshalb für die Schaffung neuer bzw. für die grundlegende Reformierung alter Industriegewerkschaften ein, deren Kraft in einem neuen Dachverband aller unabhängiger Gewerkschaften gebündelt sein kann.

Die alten Strukturen haben sich auf allen Ebenen als wenig handlungsfähig und vor allem auf politische Hilfsdienste ausgerichtet erwiesen. Es gilt also, wirksame Interessenvertretungen zu schaffen. Wir fordern die Verabschiedung eines Betriebsverfassungsgesetzes und rufen schon jetzt auf zur Bildung von unabhängigen, frei von der Belegschaft gewählten Betriebsräten auf.

(Beifall)

In diesen Betriebsräten können dann Gewerkschafter ebenso vertreten, sein wie Nichtmitglieder. Wir befürworten einen gradlinigen, von unten nach oben führenden Aufbau der Industriegesellschaft ohne überflüssige, hemmende und kostspielige personelle und bürokratische Aufblähung. Richtig ist auch hier, was sich als effektiv erweist.

Wir fordern weiterhin den Umbau der Sozialversicherung mit dem Ziel einer größeren Gerechtigkeit in der Beitragsstruktur. Zudem ist umgehend die Schaffung einer Arbeitslosenversicherung einzuleiten. Menschen, die sich durch den notwendigen Wandel in der Wirtschaft bedingt einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen, brauchen für diese Zeit eine solide soziale Absicherung. Und wir als Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen fühlen uns verpflichtet, dafür zu kämpfen.

(Beifall)

Wir stehen vor einem Berg von Problemen, aber wir haben auch Chancen wie nie zuvor. Nutzen wir die Freiheit, um mit Unternehmungsgeist und Phantasie ein gesellschaftliche Wirtschaftsordnung zu schaffen, in der sich Leistung lohnt und in der der Bedürftige die Zuwendung und die Hilfe der Gesellschaft erfährt, die er benötigt, um in Würde leben zu können.

Mein dritter Punkt heißt ökologische Erneuerung.

Die Krise, der natürlichen Umwelt ist ein internationales Problem. Das müssen wir im Auge behalten. Wir müssen jetzt beginnen, ökologische Probleme im nationalen Rahmen zu analysieren und anzugehen. Der Schutz und die Bewahrung der Umwelt ist ein vorrangiges Grundziel. Das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten, die Verseuchung der Meere und Gewässer, die, Schadstoffbelastung der Luft, der drohende Treibhauseffekt, das Absterben der Wälder sind Signale für die Zerstörung der Grundlagen des Lebens auf der Erde. Die Vorrangstellung der Ökologie vor der Ökonomie der ökologische Umbau der Gesellschaft ist die einzig mögliche Strategie des Überlebens geworden. Bei jeder wirtschaftlichen Überlegung müssen die Umweltkosten von vornherein in die Kalkulation mit aufgenommen werden.

(Beifall)

Präventivmaßnahmen sind billiger als nachträgliches Reparieren eingetretener Schäden. Wir brauchen ein ökologisch wirtschaftliches Gesamtkonzept, eine unkritische Wachstumsideologie muss auch unter uns noch überwunden werden. Nicht jedes Wachstum ist Fortschritt, hat das neue Berliner SPD-Programm vor wenigen Wochen formuliert. Wachsen muss, was natürliche Lebensgrundlagen sichert, Lebens- und Arbeitsqualität verbessert, Abhängigkeit mindert und Selbstbestimmung fördert, Leben und Gesundheit schützt, Frieden sichert, Lebens- und Zukunftschancen für alle erhöht, Kreativität und Eigeninitiative unterstützt. Schrumpfen oder verschwinden muss, was die natürlichen Lebensgrundlagen gefährdet, Lebensqualität mindert und Zukunftschancen verbaut. Der reale Sozialismus, gekennzeichnet durch zentralistische Planwirtschaft und Funktionärsdiktatur hat die Idee des Sozialismus für einige Zeit zur utopischen Träumerei werden lassen und das Volk unseres Landes an den Rand des Ruines geführt. Dies wird am Zustand unserer Umwelt deutlich. Nahezu die Hälfte des Waldes in der DDR ist beschädigt. Das Trinkwasser hat in vielen Gebieten eine so schlechte Qualität, dass es zur Verwendung für kleine Kinder nicht mehr genommen werden kann. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen sind durch die Überchemiesierung und Verdichtung mancherorts so in Mitleidenschaft gezogen, dass ihre künftige Nutzung beeinträchtigt ist. Die Luftprobleme in den Ballungszentren der Industrie, aber, auch in einer Stadt wie Weimar, aus der ich komme, führen seit Jahren zu Krankheiten der Atemorgane. Das Atmen in diesen Städten bei mir zuhause ist zu einem Gesundheitsrisiko geworden. Einerseits werden die Lebensräume unserer ehemals reichen Tier- und Pflanzenwelt ständig verkleinert, zerstückelt, ganze Biotope vernichtet. Andererseits steht erst 1 % der Fläche der DDR unter Naturschutz. Die biologische Vielfalt unseres Lebensraumes ist unverzichtbarer Bestandteil aller heutigen und künftigen Lebensqualität. Die DDR wird nach ersten Schätzungen, so habe ich jetzt gelesen, zur durchgreifenden ökologischen Sanierung ihrer Energieerzeugung allein 200 Milliarden DM benötigen. Mit diesen Beträgen könnte der pro-Kopf-Verbrauch an Energie in der DDR halbiert und die Umweltbelastungen um über 50 % abgesenkt werden. Die Sozialdemokratie in der DDR verankert in ihrem Programm die ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft mit demokratischer Kontrolle der ökonomischen Macht. D. h., die natürlichen Lebensgrundlagen in ihrer Vielfalt sind zu erhalten, Umweltschädigungen zu verhindern und bereits eingetretene Schäden zu erfassen und zu beseitigen. Die wirtschaftliche und technische Entwicklung ist nach ökologischen und sozialen Gesichtspunkten zu steuern. Die Erforschung der Gefahren für die natürliche und soziale Umwelt und die Möglichkeit in ihrer Abwehr sind zu fördern. Auf eine humane Gestaltung der Wohn- und Arbeitswelt ist hinzuwirken. Im kritischen Dialog mit allen Beteiligten ist ein Konzept der gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu erarbeiten in dem soziale, ökonomische und ökologische Belange besser aufeinander abgestimmt sind. Ein ökologisch verantwortetes gesellschaftliches Leben im Rahmen einer überlebensfähigen Zivilisation ist unser Ziel. Dazu müssen wir Finanzierungsmöglichkeiten erschließen für Umweltschutzprojekte durch eine höhere, nach dem Belastungsgrad gestaffelte Umweltsteuer für Betriebe. Wir brauchen ein konsequentes Umweltstrafrecht, das die Betriebe zwingt, ökologische Erfordernisse zu beachten.

(Beifall)

Wir brauchen die Offenlegung uni öffentliche Kontrolle der Daten und Finanzen im Umweltbereich. Wir brauchen die Abschaffung umweltschädlicher Produktionen und Technologien und ihre Ersetzung durch umweltverträgliche. Dazu nötige Forschungen und Innovationen sind voranzutreiben. Wir fordern die Beendigung des Raubbaus an Ressourcen und Landschaften. Wir brauchen sparsames und rationelles Wirtschaften. Wir fördern die möglichst weitgehende Wiederverwertung von Abfallprodukten, die wirksame Entsorgung nicht wiederverwertbarer Abfallprodukte unter strenger Berücksichtigung der Langzeitfolgen. Wir brauchen Organisierung, Erfassung und Sanierung von Altlasten an Müll. Natürlich können wir uns einen Müll-Import nicht leisten.

(Beifall)

Wir brauchen die Verteuerung des ökologisch Schädlichen und die Begünstigung des ökologisch Richtigen, so dass ökologische Folgen unmittelbar in die Produktionskalkulation eingehen. Wir fordern die Haftung der Produzenten für von ihnen verursachte Umweltschäden und Altlasten. Wir fordern umfassende ökologische Konzepte für die Land- und Forstwirtschaft, beispielsweise den Abbau der überhöhten Viehbestände, Einschränkung des Fleischexportes und damit eine Lösung des Gülle-Problems. Ein Landwirtschaftsexperte sagte mir, in Wahrheit produzieren wir Gülle, und das Fleisch ist nur das Abfallprodukt. Wir brauchen ökologische Verkehrskonzepte, also den Einsatz umweltfreundlicher Massenverkehrsmittel und eine Katalysator-Technik. Ich komme jetzt zum Energie-Konzept. Eine ökologische Erneuerung ist ohne einen anderen Umgang mit Energie nicht möglich. Rohstoffe und Energiequellen stehen der Menschheit nur begrenzt zur Verfügung.

Um dem legitimen Anspruch aller Völker und auch der nachfolgenden Generationen auf einen gerechten Anteil an den Ressourcen und Energien Raum zu geben, müssen wir in Zukunft möglichst sparsam mit Rohstoffen und Energie umgehen. Der Verschwendung dieser Ressourcen muss ein Ende gesetzt werden. Verschwendung heißt in der DDR beispielsweise, dass jährlich Millionen Tonnen Rohbraunkohle mit großem Transportenergieaufwand kreuz und quer durch die DDR gefahren werden. Diese Kohle enthält bis zu 60 Prozent Wasser und bis zu 30 Prozent unbrennbare Bestandteil, also Asche. Auf diesem minderwertigen Energieträger basierte das gesamte Energiekonzept der SED. Wir haben dazu eine Menge Vorschläge ausgearbeitet. Ich habe aber heute gelesen, dass in dem gemeinsamen Papier der ökologischen Kommissionen der BRD und der DDR am 9. Januar in Bonn ganz detaillierte Vorschläge zum Energiekonzept gemacht worden sind und möchte mit einem Blick auf die Uhr Ihnen das zur freundlichen Prüfung anempfehlen. Ich komme jetzt zu meinem lenzten Punkt, zur Sozialpolitik.

Wir schließen uns den sozialpolitischen Leitlinien der Berliner Grundsatzerklärung der SPD an. Dort heißt es: „Sozialpolitik will Solidarität als Leitidee für die ganze Gesellschaft lebendig machen. Daher ist sie für uns Gesellschaftspolitik, eine Dimension des gesamten politischen Handelns. Solidarität ersetzt nicht Eigenverantwortung, erträgt nicht Bevormundung. Sie soll auch als Hilfe zur Selbsthilfe wirksam werden. Die Arbeiterbewegung hat über Generationen hinweg den Sozialstaat erkämpft. Wir werden ihn erhalten und ausbauen. In der Solidargemeinschaft stehen die Jungen für die Alten, die Gesunden für die Kranken, die Nichtbehinderten für die Behinderten, die Arbeitenden für die Arbeitslosen ein. Wir sind gegen eine Privatisierung der elementaren Lebensrisiken. Wir halten Maßnahmen zur Humanisierung der Arbeitswelt für notwendig. Menschliche Bedürfnisse müssen den ökonomischen Aspekten übergeordnet sein.Wir schlagen Regelungen zur gleitenden Arbeitszeit vor. Feiertags- und Nachtarbeit muss auf das Notwendigste beschränkt werden. Die Strukturen monotoner und physisch bzw. psychisch belastender Arbeit müssen überdacht werden. Langfristig sollte die Arbeitszeit verkürzt werden. Das bedeutet auch, den Eintritt des Rentenalters variabel zu gestalten, die Wochenarbeitszeit zu verkürzen und den Jahresurlaub zu verlängern.

(Vereinzelter Beifall)

Weiterhin schlagen wir die Verlängerung der Erziehungszeit für Vater oder Mutter auf drei Jahre nach der Geburt des Kindes vor."

(Beifall)

In dem Papier, das mir an der Stelle vorlag, waren nur die Mütter erwähnt, ich - habe das eigenmächtig geändert.

(Beifall)

Um sozialer Isolierung des Erziehers vorzubeugen, muss die Erziehungszeit auf vielfältige Weise unter den Partnern aufgeteilt werden können. Ziel einer Rentenreform ist die Erhöhung einer Mindestrente bei gleichzeitigem Verbot aller Sonderrentenzahlungen. Uns stehen umfangreiche Strukturänderungen in Gesellschaft und Wirtschaft bevor. Dies verlangt gut durchdachte Umschulungsprogramme für freigesetzte Arbeitskräfte. Und davon sind besonders die in den Verwaltungen arbeitenden Frauen betroffen. Da sie wirtschaftlich ohnehin schon benachteiligt sind, bedürfen sie besonderer sozialer Absicherung. Ich will hier daran erinnern, dass Frauen in der DDR zwei Drittel dessen verdienen, was Männer verdienen. Die Kompetenzen der Ämter für Arbeit sind zu stärken. Wir stehen vor der Aufgabe, ein gerechtes und angemessenes Sicherungssystem im sozialen Bereich zu schaffen. Dazu gehört die Neuordnung des Sozialversicherungswesens und die Erhöhung des Sozialhilfesatzes. Physisch, psychisch und sozial Behinderte sind umfassend zu fördern, zu rehabilitieren, sozial abzusichern und in das gesellschaftliche Leben zu integrieren.

(Vereinzelter Beifall)

Ich möchte jetzt etwas zur Kulturpolitik sagen. Kultur ist für uns eine grundlegende Dimension und besteht nicht in erster Linie in der Hervorbringung oder in der Pflege von Kunstwerken. Nach dem Berliner Programm erweist sich Kultur im Umgang von Menschen mit Menschen mit anderen Lebewesen und Dingen. Kultur wurzelt auch in geistig-weltanschaulichen und religiösen Traditionen. Wo immer dieses Erbe lebendig ist und sich im Dialog bewährt, gehen davon ethische und soziale Impulse aus. Kultur zeigt sich in den Formen des Zusammenlebens und in der Zuwendung zu Schwächeren. Sozialstaat und Rechtsstaat, aber auch der Friede nach innen und außen sind Kulturleistungen ersten Ranges. Soweit das Zitat. Der demokratische Staat muss gewährleisten, dass in den Regionen die kulturellen Traditionen in ihrer Vielfalt bewahrt und gestaltet werden. Wir setzen uns ein für eine Kulturpolitik, die vor allem Vielfalt, Öffentlichkeit; Mitbestimmung und,soziokulturelle Alternativen fördert bzw. ermöglicht. Einerseits müssen sich kulturelle Aktivitäten unabhängig und ohne Bevormundung entfalten können. Andererseits müssen sie aber auch von der Gesellschaft unterstützt werden, damit sie nicht den Zwängen der hemmungslosen Kommerzialisierung unterworfen werden.

(Beifall)

Der nächste Punkt ist hier in meinem Konzept Medienpolitik. Wir wissen, dass eine demokratische Gesellschaft Öffentlichkeit braucht. Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht, sich frei und umfassend zu informieren. Vorhandene Informationen müssen deshalb unzensiert zugänglich gemacht werden, soweit sie nicht dem Geheimnis-, Vertraulichkeits-, Daten- oder dem Persönlichkeitsschutz unterliegen. Ebenso haben jede Bürgerin und jeder Bürger wie auch alle gesellschaftlichen Gruppen das Recht, in den Medien Informationen zu verbreiten und Meinungen zu äußern. Bei den elektronischen und Print-Medien gibt es private und genossenschaftliche Eigentumsformen, auch als Einrichtung des öffentlichen Rechts. Alle Medien müssen gegen staatlichen Drück, parteipolitische Einflussnahme und kommerzieller Interessen geschützt werden.

(Vereinzelter Beifall)

Ein staatliches oder privates Meinungsmonopol ist durch gesetzliche Maßnahmen zu verhindern, so dass sich die Meinungsvielfalt der Gesellschaft angemessen widerspiegeln kann, und es zu einem fairen Wettbewerb der Ideen kommt, zu ausgewogener Berichterstattung, Bildung und Unterhaltung.

Wir brauchen ein Mediengesetz, das die Pflichten und die Rechte der Medien und ihrer Benutzer sowie die demokratische Kontrolle über die Medien regelt. Wir brauchen rechtliche Vorkehrungen gegen jede Menge Monopolisierung von Medienmacht, wir brauchen die angemessene Berücksichtigung von Medieninteressen von Minderheiten, wir brauchen die gesetzliche Verankerung und praktische Durchsetzung des Datenschutzes.

Mein nächster Punkt ist das Gesundheitswesen und auch dazu kann ich natürlich auch immer nur so im schnellen Überflug einiges Wichtige hier anbringen. Es sind alles Punkte, die von Spezialisten und von Gruppen weiter differenziert und präzisiert werden müssen.

Am Grundsatz der für den Einzelnen kostenlosen medizinischen Versorgung sollten wir festhalten.

(Vereinzelter Beifall)

Unsere sozialdemokratischen Vorfahren haben dafür gekämpft. Im umfassenden Sozialversicherungswesen sehen wir einen hohen Wert. Beseitigt werden müssen alle Privilegien, so dass sich die medizinische Versorgung nur nach Art und schwere der Erkrankung richtet.

(Beifall)

Die Eigenverantwortung jeder ärztlichen, zahnärztlichen und pharmazeutischen Tätigkeit ist zu stärken und jede Bevormundung durch Staat und Parteien zu unterbinden. Es sind demokratische Strukturen zu schaffen. Das zentralistische System im Gesundheitswesen ist zu beseitigen. Ärzte sind nur im unbedingt nötigen Umfang mit organisatorischen Aufgaben zu betrauen. Neben dem staatlichen Gesundheitswesen schlagen wir Praxen in eigener Niederlassung vor, damit das Hausarztprinzip und das Recht auf freie Arztwahl gewährleistet sind.

(Beifall)

Die Medizin muss den Menschen in seiner Ganzheit wahrnehmen und sich nicht nur auf das Krankheitsbild konzentrieren.

Folgende Maßnahmen schlagen wir vor: Die materielle und strukturelle Erneuerung veralteter und verschlissener medizinischer Einrichtungen, die völlige rechtliche und materielle Gleichstellung staatlicher, kirchlicher und sonstiger Gesundheitseinrichtungen

(Vereinzelter Beifall)

und die Förderung von Alternativen zur herkömmlichen Schulmedizin. Die Versorgung mit Arzneimitteln, medizinischem Verbrauchsmaterial und vor allem Medizintechnik ist stabil zu gestalten bzw. zu verbessern. Die psychologische und psychiatrische Grundversorgung der Bevölkerung ist zu gewährleisten und deutlich zu verbessern. Ähnliches gilt für die Behandlung, Betreuung und Beratung von Suchtkranken und ihren Angehörigen. Um den Pflegenotstand zu beseitigen, vor allem in Alters- und Pflegeheimen sind die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung für Schwestern und Pfleger zu verbessern. Kurzfristig kann hier und auch in der häuslichen Pflege und Versorgung alter Menschen der Zivildienst helfen.

Der nächste Punkt ist das weite Feld der Bildung. Ziel von Bildung ist für uns nicht nur Qualifikation für Beruf und Fortkommen. Bildung hat Eigenwert für die Entfaltung der Person. Bildung soll Verständnis für die eigene Überlieferung wecken und Menschen befähigen, sich selbst und andere zu verstehen. Bildung soll die Chance eröffnen, selbstbestimmt zu arbeiten, um die freie Zeit für Eigenarbeit, musisch-kulturelle Tätigkeit, soziale und politische Aktivitäten zu nutzen. Bildung muss Menschen befähigen, sich mit der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen und mitgestaltend auf sie einzuwirken. Bildung soll Menschen helfen, sich im unserer komplizierter werdenden Gesellschaft zurecht zu finden. Sie soll Kreativität fördern und dazu befähigen, mit dem Überangebot von Unterhaltung und Informationen umzugehen. Sie soll jungen Menschen helfen, grundlegende menschliche Erfahrungen zu bestehen und an ihnen zuwachsen. So heißt es in dem neuen SPD-Grundsatzprogramm.

Weil Bildung allen offenstehen muss, fordern wir die Chancengleichheit im Bildungswesen, unabhängig von Herkunft und ideologischen Überzeugungen.

(Beifall)

In einem reorganisierten Bildungssystem soll der Freiheit und der Selbstverantwortung der Lehrenden und der individuellen Entwicklung der Lernenden breiten Raum gegeben werden. Nicht Lenkung, sondern Freilegung der Fähigkeiten von Lernenden ist die Aufgabe der Schule. Aus diesem Grund muss das staatliche Bildungsmonopol gebrochen werden.

(Beifall)

Darum sind alternative Schulmodelle zuzulassen. Drill und vormilitärische Erziehungsmaßnahmen sind im Schulbetrieb zu untersagen. Lehrer und Schulleitungen dürfen keine aktive Einflussnahme auf Mitgliedschaften in parteipolitischen Jugendorganisationen nehmen. Die Jugendweihe ist aus dem Schulbetrieb zu entfernen. Und ich finde, sie könnte doch vom Freidenkerverband übernommen und ausgeschmückt werden.

(Beifall, Gemurmel)

Der Leistungs- und Zensurendruck soll zugunsten der Förderung individueller Fähigkeiten, Talente und Interessen abgebaut werden. Die Mitbeteiligung der Öffentlichkeit einschließlich der Eltern und der Kinder bei der Erarbeitung und und Kontrolle der Lehrpläne ist erforderlich. Die Erstverantwortung für die Erziehung der Kinder soll aber bei den Eltern bleiben. Ihre Rechte und Wünsche müssen respektiert werden.

(Beifall)

Auf allen gesellschaftlichen Ebenen muss die Erziehung der Kinder zum Frieden entwickelt und gefördert werden mit dem Ziel der Einübung friedlicher Konfliktlösung.

Mein vorletzter Punkt handelt vom Rechtsstaat. Der Staat muss die ihm verliehene Macht an Recht und Gesetz binden. Er muss Rechtsstaat sein. Folglich ist er gebunden an die Verfassung an das Prinzip der Gewaltenteilung und die demokratische Kontrolle der Macht durch gesellschaftliche voneinander unabhängige Gremien. Wir fordern, also die Unabhängigkeit der Richter und eine Strafrechtsreform.

(Beifall)

Wir fordern die Einführung eines Verfassungsgerichtes und der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

(Beifall)

Unser Grundsatz ist, alle staatlichen Entscheidungen sollen so dezentral wie möglich und so zentral wie nötig getroffen werden. Diesem Prinzip gemäß sollen die Regionen, Städte und Gemeinden relative Selbständigkeit in wirtschaftlicher, finanzieller, sozialer und kultureller Hinsicht behalten, erlangen oder zurückgewinnen. Der Umbau der Gesellschaft erfordert die Reorganisation der ehemaligen über Jahrhunderte gewachsenen Länderstrukturen mit ihren Untergliederungen und die Konstituierung dazugehöriger demokratischer Institutionen wie Landesverfassung, Landtag, Länderregierung usw. Auf der kommunalen Ebene entscheidet sich, ob Demokratie als Staatsform auch zur Lebensform wird. Denn die Bürgerinnen und Bürger erfahren den Staat im Umgang mit der Verwaltung auf dieser Ebene. Ihre Mitwirkung und Teilhabe an der Verwaltung der Planung und der Entscheidungsfindung der Kommunen, ist der Maßstab eines gelingenden demokratischen Umbaues unserer Gesellschaft. Zu einem Rechtsstaat gehört auch, eine neue und nicht nur eine reformierte Ausländergesetzgebung. Ausländer müssen in diesem Lande gleichberechtigt einbezogen werden.

(Beifall)

Wir fordern die Rechtssicherheit für unsere ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Das bisherige Ausländergesetz reicht bei weitem nicht aus, um ihren Belangen Raum zu geben.

Mein letzter Punkt beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Gleichheit von Frauen und Männern. Sozialdemokratische Frauenpolitik versteht sich nicht als isolierte Politik für die Bevölkerungsgruppe Frauen, sondern, als Gesellschaftspolitik. Ziel ist eine humanistische Gesellschaft, die Männern, Frauen und Kindern gegenwärtig und künftig eine lebenswerte Existenz ermöglicht. Denkt bitte daran, dass Frauen keine Randgruppe der Gesellschaft sind.

(Beifall)

Vielen von uns ist klar geworden, dass die formale juristische Gleichberechtigung von Frauen und Männern nicht erreicht hat, dass Männer und Frauen überall gleiche Chancen haben und gleiche Möglichkeiten. Uns ist bewusst, dass jetzt die Weichen für eine neue, Frauen nicht benachteiligende Gesellschaftspolitik gestellt werden. Gleichzeitig bestehen Ängste, dass bei der Umstrukturierung der Wirtschaft die Frauen wieder auf der Strecke bleiben könnten. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der Frauen und Männer gleich, frei und solidarisch miteinander leben können. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der nicht mehr eine Hälfte der Menschen dazu erzogen wird, über die andere zu dominieren, die andere dazu sich, unterzuordnen.

(Beifall)

Frauen haben immer noch die Arbeitsplätze inne, die weniger gut bezahlt werden. Je höher in der Hierarchie wir gehen, umso weniger Frauen finden wir. Typische Frauenberufe schneiden finanziell und was die Einzugsnahme betrifft deutlich schlechter ab. Alle im reproduktiven Bereich angesiedelten Berufe, Handel, Dienstleistungen, Gesundheitswesen, Erziehung in denen Frauen arbeiten, sind gegenüber dem produktiven Sektor unterbezahlt. Trotz formaler Gleichberechtigung tragen die Frauen nach wie vor die Hauptlasten, die sich aus der Erhaltung der Familien ergeben. Mangelnder Ausbau des Dienstleistungsnetzes und die geringe Qualität von Produkten und Leistungen, Mangelwirtschaft mit dem unvermeidlichen Schlangestehen und oft schlechte Verkehrsmöglichkeiten haben die knappe Freizeit von Frauen noch weiter verkürzt. Die immer wieder als Errungenschaft des Sozialismus apostrophierte Gleichberechtigung von Mann und Frau hat zusammen mit der sozialen Sicherheit auf einem minimalen Niveau letztlich verhindert, dass Frauen sich ihrer benachteiligten Situation bewusst geworden sind und die Frage gestellt haben, wieso eigentlich Mindestlöhne und Mindestrenten vorzugsweise für Frauen reserviert sind. Entscheidungen über soziale Maßnahmen für Frauen und Mütter wurden über ihre Köpfe hinweg und nicht mit ihnen zusammen getroffen. Wir wollen erreichen eine Politik von Frauen für Frauen in einer humanen Gesellschaft. Wir wollen eine Politik erreichen, in der auf allen Ebenen Frauen Einfluss nehmen können, wo sie in den wichtigen Gremien auch vorhanden sind. Da das nicht von selbst geschieht, weil Frauen auch weniger bereit sind, öffentliche Funktionen zu übernehmen, halte ich eine Quotierung für notwendig. Zumindest solange, bis es selbstverständlich ist, dass auch Frauen Staat machen.

(Beifall)

Wir brauchen eine Staatssekretärin, die die Gleichstellung von Männern und Frauen überwacht und die Rechte von Frauen einklagt.

(Beifall)

Wir setzen uns für eine Angleichung der gesellschaftlichen Bewertung von produktiver und reproduktiver Arbeit ein. Das Aufziehen von Kindern, die Arbeit im Bildungswesen, im Gesundheitswesen, im Sozialwesen sind für die Gesellschaft genauso wichtig wie die Entwicklung neuer Technologien und die Herstellung von Produkten.

(Beifall)

Ich denke, dass es dazu erforderlich ist, den Begriff Leistung neu zu bedenken und zu bewerten. Der rechtlichen Gleichstellung der Frauen muss die gesellschaftliche Gleichstellung folgen. Das bedeutet nicht die Integration der Frauen in eine Männerwelt. Das bedeutet vielmehr die Umgestaltung, und zwar die gründliche Umgestaltung der Gesellschaft. Ich danke Ihnen für Ihre Engelsgeduld, mit der Sie diesen doch langen Ausführung gefolgt sind und freue mich, dass ich hier auch durchgehalten habe.

(Langanhaltender Beifall)

Protokoll der Delegiertenkonferenz der Sozialdemokratischen Partei in der DDR 12.1-14.1.1990 Berlin, Kongresshalle Alexanderplatz, Seite 145-163

Die Rede wurde am 13.01.1990 gehalten

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