DOKUMENTATION
Die Worte der Sonntagsredner müssen eingelöst werden
Zum deutsch-deutschen Einigungsprozess
Von Steffen Reiche
Mitglied der SPD-Fraktion der DDR-Volkskammer
Das Thema "Die Entwicklung in der DDR und die Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland" ist eine Aussage. Und das ist gut so, denn das erste Mal seit vielen Jahren hat eine Entwicklung an der DDR wieder direkte Auswirkungen auf die Bundesrepublik, dergestalt, dass nur die Formen der Abgrenzung der beiden deutschen Staaten modifiziert wurden. Nun gibt es direkte Auswirkungen der Entwicklung in der Bundesrepublik und in absehbarer Zeit sogar hoffentlich eine gemeinsame Entwicklung. Denn mit dem 9. November hat der Montag und somit die Arbeitswoche nach den 40 Jahren Sonntagsreden der bundesdeutschen Politik begonnen.
Dank der grenzbrechenden Medien haben wir den Inhalt dieser Sonntagsreden im Ohr gehabt und klagen nur ihre Verwirklichung ein. Wir nehmen Euch, deutsche Landsleute - ich sage es ohne jeden Nationalismus -‚ beim Wort. Beim Wort Eures Grundgesetzes und denn der zahlreichen Sonntags-, 17 Juni-, 21. August-, KSZE-Reden und so weiter.
Unsere Situation ist letztlich die, dass wir zurückgekehrt sind. Wir haben nicht nur einen Umweg gemacht, sondern wir sind in eine Sackgasse geraten. Wir haben dabei auch einige Dinge entwickelt, die wir mit zurückbringen und auf die wir nicht verzichten wollen, aber vor allem kehren wir zurück zu dem anderen deutschen Teilstaat und einer europäischen Teilgemeinschaft, die in der Zeit unserer ungewollten Abwesenheit eine ungeheuer dynamische Entwicklung erlebt haben. Wenn wir als Deutsche zurückkehren - und das unterscheidet uns von unseren tschechoslowakischen und polnischen Freunden - dann haben wir zum einen über Jahrzehnte hinweg wichtige Menschen verloren, die von Ost nach West gingen, die uns jetzt Identität stiften könnten, und dann kehren wir zum anderen in einen gemeinsam aufzubauenden Staat zurück. Das sind die großen Chancen und die Gefahren.
Die letzte Tat der SED hat den über Jahrzehnte hinter der Mauer angestauten Druck auf einmal losbrechen lassen und nun müssen unter ständigem Zeitdruck Formen für das gemeinsame Leben gefunden werden, das sonst Chaos heraufbeschwört. Für eine Entwicklung, die eigentlich Jahre bräuchte, haben wir nur Wochen und Monate.
Aber ich denke es ist gut, dass wir unter diesem Druck stehen, denn zum einen ist das Potential an materiellen und intellektuellen Voraussetzungen vorhanden und zum anderen drängt die Zeit so sehr in Richtung Ost-West- aber auch Nord-Süd-Integration, dass wir hier mit den günstigen Voraussetzungen einen guten Impuls und ein Vorbild geben können. Um die Situation zu begreifen, muss man hier, denke ich, zu allererst den richtigen Namen geben. (Die Juden kämpfen seit Jahren darum, dass der Genozyd an ihrem Volk nicht Holocaust-Brandopfer genannt wird, sondern Schoah-Katastrophe.) In der DDR deutete sich der Zusammenbruch im Spätsommer mit der großen Fluchtwelle an. Unter dem Eindruck dieses Gebälkknisterns begannen verschiedene Menschen und Gruppen eine Revolution vorzubereiten. Es war eine große Entschlossenheit zur Verbesserung, zur Umgestaltung und Entwicklung dieser sozialistischen DDR-Gesellschaft da. Somit standen die Konzepte der Opposition gegen die zur Gewalt bereite Konzeptionslosigkeit des Staates. Die Folge davon war der beginnende Zusammenbruch auf der einen und der wachsende Mut zum Durchbruch auf der anderen Seite. Als die Revolution beginnen sollte, begann der Zusammenbruch. Was man kämpfen wollte, existierte zunehmend gar nicht mehr. Das einzige, worin sich die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft unterschieden, war die Einsturzgeschwindigkeit.
Nicht mehr Revolution, sondern Rückkehr wurde zunehmend gefordert - zum Beispiel zu der Fahne, die bis in sechziger Jahre auch in der DDR galt und den mit ihr verbundenen Werten. Rückkehr zur Einheit, zu einem deutschen Staat, der durch die Ausweitung bundesdeutscher Verhältnisse konstituiert sein sollte. Rückkehr zur föderalen Struktur, die bis 1952 der DDR bestanden hatte.
Es wurde nichts Neues geschaffen. Neu war lediglich, dass die bewährten Formen der Demokratie und Ökonomie nun auch wieder bei uns zur Geltung gelangen sollten. Doch das allein reicht für den Frieden in Europa nicht. Die Zeit bis 1933 hat es gezeigt. Der Prozess der Gestaltung demokratischer und föderativer Strukturen von Wirtschaft, Staat und Sicherheit in Europa wird die eigentliche Revolution in Europa bringen. Eine Revolution, die wir gemeinsam noch machen müssen. Die Entwicklungen in der DDR machen eine gesamteuropäische Entwicklung, die Vereinigten Staaten von Europa, nötig und möglich. Das ist die eigentliche Auswirkung auf die Bundesrepublik. Die deutsche Einigung ist ein wichtiger Teilprozess der europäischen Einigung.
Am 9. November sind wir in die Wirklichkeit des 20. Jahrhundert, nach Deutschland und nach Europa zurückgekehrt. An dieser Öffnung einer bisher geschlossenen Gesellschaft muss sich die bundesdeutsche, offene Gesellschaft bewähren.
Bis zum 9. November gab es Ansätze zur Revolution, gab es eire greifende Umwälzung. Dann aber nahm uns das Staunen über den Westen und die Größe des uns angetanen Betruges den Atem. Der Oktober flackerte noch einmal auf im Kampf gegen die SED-PDS und ihre Staatssicherheit zu Beginn dieses Jahres. Als auch diese Bastion geschleift war, war allen deutlich, dass da keine Substanz mehr da ist "Für unser Land", wie es Christa Wolf und Stefan Heym in einem schon bei Erscheinen obsoleten Appell glauben machen wollten. Eins sollte es werden, und am 18. März setzte die Mehrheit hinzu: seins, denn er hat das Geld und das Sagen. Unser Land war nicht mehr die DDR, sondern ein Deutschland.
Der Spaltungsprozess in der DDR setzt sich fort - von der PDS und dem FDGB forciert. Die einen sehen, wenn sie zurückblicken, nur die Knechtschaft, die anderen zunehmend auch die Fleischtöpfe in Ägypten. Die Sorge wächst, dass wir im Vergleich zu den Bundesbürgern nicht nur unsere Vergangenheit verloren haben - 40 Jahre sind für viele das halbe Leben oder zumindest die Jugend -, sondern auch ein Stück weit unsere Zukunft verlieren. Wie soll die Frage nach unserer Identität beantwortet werden: Osteuropa oder Deutschland? Nicht die DDR kommt nach Deutschland. Wohl aber ehemalige DDR-Bürger. Kommen sie gedemütigt, könnte sich die ganze deutsche Gesellschaft wieder infizieren an diesem Bazillus. Eine unvergleichliche Aufholjagd hat begonnen. Am farbenprächtigsten und am eindrücklichsten zu bemerken an der Werbung die die DDR überschwemmt und die langweilige und schmuddelige Ordnung verdrängt. Und am Gründungsfieber. Überall wird gegründet Vereine, Verbände, Gesellschaften, Betriebe, Gewerbe. DDR-Produkte verlieren stündlich an Wert, und mancher kauft sie nur noch aus Trotz. Immer mehr kaufen das mehrfach teure Brot aus der Bundesrepublik und lassen das schnöde unverpackte Ostbrot liegen. Der schon vor Jahren zur Personenbezeichnung gewordene Begriff "Ostbrot" scheint über manchem zu hängen wie ein Damoklesschwert. Der Westwagen wird zum Symbol der erfolgten Westintegration. Zur Zeit ruht zunehmend mehr wirtschaftliches Leben in Erwartung der Westmark. Was soll man mir dem alten Geld, die meisten haben sowieso genug davon, und Sachwerte gibt es kaum noch für die Binnenhandelsgutscheine.
Wir kehren heim nach Deutschland und werden uns sehr bald auch wieder unsere Länder, eine föderale Struktur schaffen. Wir sind begierige Schüler, aber unser Stolz ist so beschädigt, auf so wackligen und tönernen Füßen, dass diese kleine Pflanze unter keinen Umständen zerstört werden darf.
Das hat Auswirkungen auf die Bundesrepublik. Ihr konntet werden, was ihr wurdet, weil wir in Potsdam außen vor blieben, bei dem übriggebliebenen Hitler. Die Bedürfnisse des ehemaliger ostdeutschen Teilstaates DDR fordern die Entwicklung von neuartigen Solidaritätsstrukturen. Diese Strukturen, deren Bildung erleichtert wird durch unsere enge Bindung, können und sollten Vorbildcharakter gewinnen für die Bewältigung des Ost-West-Konfliktes und weiter des Nord-Süd-Konfliktes.
Die Währungsunion ist also beides: Rückzahlung und und Investition in die Zukunft. Deshalb sollte sie uns Raum zum Atmen geben - umso mehr, umso besser ist es langfristig gesehen für Deutschland und Europa. An vielen Stellen, gerade im Sozial- und Umweltbereich, ist eine Übernahme gültigen Rechts das Verhandlungsmaximum, was wir anstreben können. Fortschritte müssen wir uns dann gemeinsam erkämpfen. An den Stellen jedoch wo zwischenstaatliche Bereiche berührt werden, müssen wegen der Dynamik der Entwicklung neue Modelle entwickelt werden. Die deutsche Währungsunion ist ein solches Modell, dessen Welturaufführung bevorsteht. Und es muss als Präludium in D-dur verstanden werden, damit die Fuge in Euro-Dur folgen kann. Aber auch der sicherheitspolitische Aspekt der Einigung fordert neue Modelle. Sicher ist, dass die Russen und die Amerikaner sobald wie möglich ihre Armeen auf ihr Territorium zurückziehen müssen. Aber rufen wir uns in Erinnerung zurück, ab wann die Europäer nur noch Gäste in Amerika waren - nach der Gründung der Vereinigter Staaten. Die Amerikaner kamen zweimal in das friedlose Europa um Frieden zu schaffen. Sie werden erst gehen können, wenn dieser Auftrag erfüllt ist. Er ist erst dann erfüllt, wenn die Vereinigten Staaten von Europa oder ein Europäischer Bund bestehen. Erst ein europäischer Präsident wird die Amerikaner als Besucher begrüßen können.
Deshalb sollten wir uns bemühen, soviel wie möglich an staatlicher Kompetenz gleich weiterzuleiten nach Europa. Die Integration des Ostens muss und soll die Westintegration beschleunigen. Aber nicht um Osteuropa davonzulaufen, sondern um den Staaten Osteuropas voranzugehen und sie dann besser gerüstet zu empfangen.
Der Gefahr, die durch das Hinzukommen weiterer fünf deutscher Bundesländer entsteht, muss sorgsam begegnet werden. Die Bedeutung der Zentrale wird nicht nur durch die Kompetenzen im Einigungsprozess, sondern auch durch die Vielzahl der Bundesländer gestärkt. Jahrzehnte relativ sicherer Hochkonjunktur, steuerliche Mehreinkommen in großen Dimensionen, politischer und wirtschaftlicher Bedeutungsgewinn all das sollte es der Bundesrepublik wert sein, wirklich zu investieren - das heißt soweit ich mir einen Begriff von Marktwirtschaft gebildet habe, dass das auch unter Einsatz gewisser Kräfte geschieht. Nur nicht mehr als ein Provisorium im geteilter Deutschland, sondern als ein Provisorium im geteilten Europa.
Die Prozesse in der DDR haben der Bundesrepublik in ihrem Selbstverständnis Recht gegeben. Ihr Selbstbewusstsein ist dadurch zu Recht gestärkt. Doch daraus folgen nun auch Aufgaben. Die Worte der Sonntagsreden müssen eingelöst werden.
SPD Pressedienst, 45. Jahrgang, 93 und 94, 16. und 17.05.1990