Ein neues gewerkschaftliches Selbstbewusstsein schaffen
Gespräch mit Christoph Matschie und Thomas Schmidt über die Gewerkschaftssituation in der DDR und die Perspektiven einer sozialdemokratischen Politik
Frage: Wie seht Ihr die Lage des FDGB und der Gewerkschaften in der DDR, so wie sie zur Zeit existieren?
Schmidt: Unter den gegebenen Umständen und marktwirtschaftlichen Perspektiven ist die Rolle der Gewerkschaften neu zu bestimmen. Der FDGB als Dachverband wird von vielen in Frage gestellt. Einzelgewerkschaften versuchen, sich demokratisch zu erneuern. Ob das gelingt, muss abgewartet werden. Wir als SPD unterstützen jedenfalls demokratische Entwicklungen.
Matschie: Die Gewerkschaften sind bisher ein Instrument der SED gewesen. Sie hatten kaum Arbeitnehmerrechte durchzusetzen, sondern vielmehr darauf zu achten, dass die Produktionszahlen erfüllt wurden. Ansonsten hatten sie zum Beispiel die Aufgabe, Urlaubsplätze zu verteilen. Das sind nach meinem Verständnis keine echten Gewerkschaftsfunktionen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung im Herbst ist es zu Massenaustritten aus diesen Gewerkschaften gekommen, vielerorts brachen die Strukturen zusammen. Der FDGB hat dann versucht, von der Spitze her eine Erneuerung einzuleiten, was ihm nicht geglückt ist. Es wurde zwar eine neue Führungsspitze gewählt, aber gerade auf den mittleren Ebenen hielten sich die alten Kader. Das führte einerseits dazu, dass die Frustration an der Basis anhielt und andererseits dazu, dass die neue FDGB-Führungsspitze nicht ernst genommen wurde. Jetzt sind wir in einer Situation, in der der FDGB als Dachverband seine Bedeutung zu verlieren droht.
Schmidt: Es ist davon auszugehen, dass der FDGB sich in diesem Umgestaltungsprozess neu etablieren will. Bisher wurde im wesentlichen nur die exponierte und belastete Führung ausgewechselt. Ansonsten ist das Bemühen, sich mit allen Mitteln den Sessel zu sichern, weit verbreitet. Ein Beispiel für eine derartige Politik ist das noch im März von der Modrow-Regierung verabschiedete Gewerkschaftsgesetz, das den jetzigen Notwendigkeiten überhaupt nicht gerecht wird.
Ist also das Haupthindernis auf dem Weg zu einer Erneuerung der Gewerkschaften die Verquickung zwischen FDGB und SED beziehungsweise PDS?
Schmidt: Dieser FDGB scheut nicht davor zurück, durch demagogische Reden und teilweise auch Verleumdungen die neuen demokratischen Kräfte zu beschuldigen, sie wollten die Rechte der Gewerkschaften beschneiden, etwa wo sie einige Punkte des erwähnten Gewerkschaftsgesetzes - keineswegs das gesamte Gesetz - kritisiert haben.
Eigentlich gibt es bis jetzt in der DDR keine Rechte der Gewerkschaften, so fehlt etwa die Tarifautonomie.
Matschie: Die weiterbestehende Personalidentität an vielen Stellen ist in der Tat ein großes Hindernis. Diese Leute sind in einem ganz anderen Denken auf gewachsen und gar nicht in der Lage, so schnell auf neue Strukturen und neue Arbeitsweisen umzuschalten. Ein anderes Problem ist, dass es wenig neue Leute gibt, die bereit sind, Verantwortung in diesen Stellen zu übernehmen. Es ist sehr schwierig, Leute zu finden, die willens und in der Lage sind, die alten Gewerkschaftsstrukturen zu entfilzen und neue aufzubauen. Darin liegt vor allem deshalb eine große Gefahr, weil sich zur Zeit viele alte Betriebsleiter als neue Unternehmer gebärden und die Unternehmen nach Prinzipien des Manchester-Liberalismus zu führen versuchen. Die Gewerkschaften hatten bisher vielfach keine Kraft, dem etwas entgegenzusetzen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Rechtslage oft nicht eindeutig ist.
Wie will denn die SPD das Problem der personellen Kontinuität angehen, wenn es offenbar kaum alternatives Personal gibt?
Schmidt: Für viele, die sich jetzt damit beschäftigen, gewerkschaftliche Interessenvertretungen, Betriebsräte, Mitbestimmung zu schaffen, ist damit die Existenzfrage verbunden. Solange sie nicht materiell abgesichert sind - und das steht zur Zeit angesichts der Rechtslage sozusagen in den Sternen -, agieren sie im luftleeren Raum. Auch in der Verfassung sind die gewerkschaftlichen Rechte überhaupt nicht verankert. Also ist das Wichtigste für uns zum jetzigen Zeitpunkt, ein Betriebsverfassungsgesetz zu schaffen, das diese Leute legitimiert, Interessenvertretungen der Werktätigen zu bilden. Das ist unter marktwirtschaftlichen Aspekten ja sehr wichtig, vor allem bei der Kapitalumwandlung. Die Betriebsleiter, diese ehemaligen Planwirtschaftler, die sich jetzt ganz schnell zu Managertypen entwickelt haben, fragen meist nicht danach, was mit den Arbeitsplätzen geschieht. Den Belegschaften wird lediglich mitgeteilt, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Arbeit mehr da ist. Das führt zu der großen Angstpsychose in der DDR-Bevölkerung. Es steht gar nicht so sehr das Thema Geld im Vordergrund, die sozialen Ängste sind weitaus stärker. Dem muss zum Beispiel mit ausreichenden betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen begegnet werden.
Welche Inhalte muss ein solches Gesetz haben?
Schmidt: Ich halte zum Beispiel ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte für wichtig, etwa nach dem Modell der Montanmitbestimmung in der Bundesrepublik. Wichtig ist auch die Sicherung des Mitbestimmungsrechts bei Kapitalumwandlungen, bei der Personalplanung, bei Umstrukturierungen. Das sind Punkte, die für uns im Vordergrund stehen. Ebenso wichtig ist es daneben, wie es mit den bisherigen Betriebsleitungen weitergehen soll - einige Betriebsdirektoren haben ja wohl die Vertrauensfrage gestellt, während ein großer Teil der Vertreter der mittleren Leitungsebene in den Kombinaten nach wie vor in seinen Ämtern ist.
Matschie: Neben der Schaffung dieses unbedingt notwendigen rechtlichen Rahmens sind politische Arbeit und Bewusstseinsarbeit zu leisten. Menschen müssen erst einmal ermutigt werden, Verantwortung wahrzunehmen. Dabei muss man ihnen den Rücken stärken und klarmachen, welche Alternativen es gibt, wenn sie nicht bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Hier liegt eine wichtige Aufgabe für die SPD.
Ist es nicht in der Praxis außerordentlich schwierig, Menschen zu motivieren, die bisher noch keine Gewerkschaftsarbeit im engeren Sinne gemacht haben?
Matschie: Das ist ein großes Problem. Es geht darum, ein neues Selbstbewusstsein zu schaffen. Dass das möglich ist, zeigt die Entwicklung der SPD. Auch in der Partei gibt es viele neue Leute, die, obwohl sie bisher wenig mit Politik zu tun hatten, eine Menge zu sagen haben und innerhalb kürzester Zeit in der Lage sind, qualifizierte Arbeit zu leisten. Wenn es gelingt, den Willen zur politischen Mitgestaltung zu wecken, ergibt sich vieles andere fast von allein.
Schmidt: Es ist davon auszugehen, dass die meisten der jetzt noch amtierenden Leitungskader lediglich Nomenklaturkader der SED/PDS waren, das heißt, dass sie zwar im Marxismus-Leninismus bewandert sind, nicht aber im Management eines Betriebes. Was die Kompetenz angeht, streben wir an, den Gewerkschaften das Recht zu Anträgen auf Schulung und Weiterbildung für Betriebsräte zu geben. Die Kosten müsste die Unternehmerseite tragen.
Bei westdeutschen Unternehmern scheint es die Tendenz zu geben, Betriebsräte den Gewerkschaften vorzuziehen. Sie versprechen sich davon womöglich eine bessere Handhabbarkeit im Sinne eines betrieblichen Syndikalismus. Sind nicht Betriebsräte ohne starke Gewerkschaften eine problematische Einrichtung? Wenn es nun keine starken Gewerkschaften gibt, weil die alten weitgehend diskreditiert und neue nicht in Sicht sind, wie kann man dann die notwendige Kombination aus starken Gewerkschaften und starken Betriebsräten erreichen?
Matschie: Das geht eigentlich nur über die demokratische Erneuerung der Gewerkschaften.
Also doch über die existierenden Gewerkschaften?
Matschie: Ich glaube, letztlich gibt es keine Alternative dazu, diese Gewerkschaften möglichst kurzfristig wieder stark zu machen. In einer Übergangszeit ist es notwendig, Leuten, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind oder nicht mehr gewerkschaftlich organisiert sind, die Chance zugeben, in Betriebsräten aktiv zu werden und Mitbestimmung wahrzunehmen, wo die Gewerkschaften dazu einfach nicht in der Lage sind oder wo sie das Gros der Belegschaft nicht mehr hinter sich haben. Längerfristig gibt es nur die Möglichkeit, die Gewerkschaften in den Betriebsräten stark zu machen.
Schmidt: Dabei spielt die Verpflichtung der Betriebsräte zur verantwortungsvollen Vertretung der Arbeitnehmer - in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften - eine große Rolle. Welche Bedeutung hatten und haben die bundesdeutschen Gewerkschaften bei den gewerkschaftlichen Erneuerungsprozessen in der DDR?
Schmidt: Ursprünglich gab es zwei Varianten einmal die Erneuerung des FDGB als Dachverband - was, wie sich herausstellt, nicht realisierbar ist, weil sich die Leute zu fest an ihre alten Privilegien klammern -‚ andererseits der Zusammenschluss der einzelnen Industriegewerkschaften in der DDR mit ihren jeweiligen bundesdeutschen Partnern. Dazu laufen Initiativen von allen Industriegewerkschaften der DDR und der Bundesrepublik mit dem Ziel einer gesamtdeutschen Gewerkschaftsbewegung.
Matschie: Ganz wichtig ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Es kann nicht einfach tun die Übernahme bundesdeutscher Strukturen und bundesdeutschen Personals gehen. Die DDR-Gewerkschaften brauchen vielmehr die Chance, sich zu erneuern und in diesen Prozess miteinzubringen. Natürlich sind die bundesdeutschen Gewerkschaften in vielen technischen und rechtlichen Fragen weiter und haben mehr Ahnung vom notwendigen Management. Aber dafür gibt es bei den Arbeitnehmern hier langjährige Erfahrungen, was DDR-Situationen betrifft, und ich glaube, diese Erfahrungen sollte man nicht unterschätzen.
Gibt es Unmut gegenüber besserwisserisch auftretenden bundesdeutschen Gewerkschaftsfunktionären?
Matschie: Den gibt es zum Teil, denn Leute, denen es an Feingefühl mangelt, gibt es überall. Es wird aber viel positive Hilfe geleistet.
Schmidt: Man muss unterscheiden zwischen Rat und Hilfe und versteckten Weisungen. Das bezieht sich keineswegs nur auf die Gewerkschaften, deren Zusammenschluss übrigens zum jetzigen Zeitpunkt - solange die Zweistaatlichkeit noch existiert - ohne rechtliche Grundlage ist. Wir setzen deshalb Hoffnung auf die demokratische Erneuerung der Industriegewerkschaften der DDR.
Die SPD in der DDR ist eine junge Partei. Hat sie Erfahrung mit Gewerkschaften und Gewerkschaftsarbeit?
Schmidt: Gewerkschaften und Sozialdemokratie sind schwer zu trennen. Die SPD gibt es hier erst wieder seit sechs Monaten, und Gewerkschaftsarbeit ist jetzt eines ihrer Hauptanliegen. Wir wollen darüber ins Gespräch kommen, Erfahrungen austauschen, unsere Gedanken einbringen und vor allem die Interessen der Arbeitnehmer in unsere Politik einbeziehen.
Matschie: Wir haben an vielen Stellen überhaupt keine andere Chance, unsere sozialen Vorhaben durchzusetzen als in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Und natürlich versuchen wir, uns jetzt, auch mit Hilfe aus der Bundesrepublik, kundig zu machen, wie was am besten laufen kann. Es sind dazu Beratungen auf vielen Ebenen im Gange.
In der Bundesrepublik hat sich das Prinzip der Einheitsgewerkschaft bewährt. Nun steht der Begriff "Einheit" in der DDR nicht in hohem Ansehen. Haltet Ihr diese Organisationsform dennoch für durchsetzbar und praktikabel?
Matschie: Der Neuaufbau der Einzelgewerkschaften hat im Moment Priorität, da sie sich jetzt schnell stabilisieren müssen. Aber natürlich sind die Einheitsgewerkschaft und das Prinzip "Ein Betrieb - eine Gewerkschaft" ein notwendiges Instrument im Arbeitskampf. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Probleme, die mit der europäischen Integration auf uns zukommen. Bei derart komplexen Dingen ist einheitliches gewerkschaftliches Handeln notwendig. Auch zu den Problemen im Zusammenhang mit der ökologischen Bedrohung oder dem Nord-Süd-Konflikt müssen sich die Gewerkschaften neu positionieren. Dabei ist die Einheitsgewerkschaft ein ganz unerlässliches Instrument, um zu einer geeigneten Meinungsbildung zu kommen.
Schmidt: Unser erklärtes Ziel ist der Zusammenschluss der Einzelgewerkschaften zu einem gemeinsamen Dachverband im Gesamtdeutschland als Vorstufe zu einer einheitlichen europäischen Gewerkschaftsbewegung.
Ist es in der Realität nicht so, dass zur Zeit Standesverbände und ähnliche Organisationen in der DDR auf dem Hintergrund einer gewissen Unkenntnis, aber auch der Verärgerung von Arbeitnehmern über die bisherigen Gewerkschaften ihr Süppchen zu kochen versuchen? Kann das nicht sehr schnell zur Gewerkschaftszersplitterung führen?
Schmidt: Eine Zersplitterung lehnen wir ab. Die geschichtliche Erfahrung hat gezeigt, dass zersplitterte Gewerkschaften nicht in der Lage sind, die Interessen der Arbeitnehmer wirkungsvoll zu vertreten.
Matschie: Man darf aber die Menschen hier nicht mit neuen Einheitsvokabeln erschlagen, sondern muss ihnen nach 40 Jahren Einheitsbrei etwas Zeit lassen, sich selbst zu finden und ihre Möglichkeiten zu entdecken. Zurück zum Thema "Betriebsverfassungsgesetz". Ist die Forderung danach etwas, was in der DDR-Regierungskoalition mehrheitsfähig ist?
Schmidt: Für uns ist das weitergehende Mitbestimmungsrecht unter den gegebenen maroden wirtschaftlichen Umständen sehr wichtig. Wenn die CDU oder die Allianz für Deutschland wirklich im Interesse oder zum Wohle des Volkes handeln möchten, wie sie es sich auf die Fahnen schreiben, dann werden sie diese Forderung akzeptieren.
Matschie: Hier muss man zwischen der Haltung der CDU in der Bundesrepublik und der Haltung der DDR-CDU unterscheiden. In den Koalitionsgesprächen hat sich gezeigt, dass hier bei der CDU eine viel größere Bereitschaft da ist, auf solche Dinge einzugehen. Die Frage ist, wie sehr sich die CDU der DDR ihre eigenständige Position erhalten kann. Das wird die nächsten Wochen die Regierungsarbeit zeigen müssen.
Wächst inzwischen das Selbstwertgefühl der Menschen in der DDR wieder?
Matschie: Das ist schwer zu beurteilen, aber ich denke, das Selbstwertgefühl der Menschen muss wachsen, sonst werden wir immer die armen Vettern der Bundesrepublik bleiben, auch bei einer Vereinigung. Es geht gar nicht so sehr um "Errungenschaften", sondern darum, dass Menschen in diesem Land 40 Jahre lang Erfahrungen gemacht haben, die anders sind als die der Bundesrepublik Aber sie haben, weil sie anders sind, kein geringeres Gewicht. Das muss immer wieder deutlich gemacht werden, sonst sind wir sehr schnell in der Gefahr, Erfahrungen aus der Bundesrepublik einfach zu übernehmen, unser Selbstwertgefühl dabei zu verlieren und wichtige Erfahrungen zu verdrängen. Das würde uns auch bei der Aufarbeitung unserer eigenen Vergangenheit behindern.
Schmidt: Wichtig ist hierzu auch eine Einbindung von Staat und Unternehmen in eine aktive Beschäftigungspolitik und eine zukunftsweisende Ausbildungspolitik. Ich glaube nicht, dass in der DDR eine längerfristige hohe Arbeitslosenquote zu erwarten ist. Es gibt da wirklich dringend Bereiche, die mit Arbeitskräften versorgt werden müssen, so im Medizin- und Umweltsektor, im Straßen- und Städtebau. Ich glaube auch, dass der DDR-Bürger den Willen hat, sich umschulen zu lassen, um einer gesicherten Existenz entgegenblicken zu können. Da sind dann auch der Staat und die Unternehmerseite gefragt.
Wird die ökonomische Beschleunigung, die jetzt in den Prozess der Vereinigung hineinkommt, es nicht außerordentlich schwer machen, weiter gesteckte gewerkschaftliche Ziele zu verfolgen?
Matschie: Die Gefahren, die in der Geschwindigkeit des Prozesses liegen, sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Zweifellos müssen Einheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit schnell kommen, aber so, dass sie verantwortbar bleiben. Das immer wieder deutlich zu machen, sollte Aufgabe der SPD in dieser Regierung sein. Geschwindigkeit also nur, soweit sie sozial verantwortlich ist und die Rechte der Arbeitnehmer nicht beschneidet. Viele DDR-Betriebe sind auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig. Das wird, bei einer Wirtschaftsunion, Arbeitslosigkeit in der DDR nach sich ziehen - mit ihren möglichen politischen Folgen. Wie ist mit dieser Problematik umzugehen?
Schmidt: Für die fünf Länder der DDR muss ein Sonderstatus geschaffen werden, bevor sie an den freien Markt angeschlossen werden. Die DDR ist nicht auf Marktwirtschaft eingerichtet. Sie hat 40 Jahre Planwirtschaft hinter sich, es gab Objekte, in die sinnlos Milliarden hineingesteckt worden sind, die sich nicht einmal amortisiert haben, geschweige denn Gewinne gebracht haben. Ich glaube allerdings, dass die DDR-Bürger flexibel genug sind und die Bereitwilligkeit zur Umschulung etwa wesentlich größer ist als in der Bundesrepublik.
Matschie: An dieser Stelle sind zunächst die Regierungen der beiden deutschen Staaten gefordert. Es gibt eine große Zahl von Betrieben in der DDR, bei denen die Chance 50 zu 50 ist, dass sie marktwirtschaftlich effizient werden. Die würden bei einem überstürzten Wirtschaftsboom Pleite gehen. Wenn man aber versucht, den Prozess etwas gemäßigter zu steuern und für eine Übergangszeit mit Stützungen arbeitet oder mit Klauseln, die Marktanteile sichern, könnte man diese Industrien retten. Auch die Bundesrepublik ist hier gefragt, was finanzielle Unterstützung betrifft, wie auch, was die Gestaltung eines Staatsvertrages angeht. Es sind Übergangsregelungen notwendig, um soziale Härten zu vermeiden, die gefährliche politische Folgen haben können.
Andererseits sollte man nicht das Chaos an die Wand malen. Die Bundesrepublik gehört zu den wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt und man muss auch die Solidarität dieser Wirtschaftsstärke einfordern, wenn es zur Vereinigung kommt. Auf lange Sicht müssen wir im Rahmen der europäischen Integration dahin kommen, immer mehr Strukturen zu schaffen, die einen Niveauausgleich ermöglichen. Das betrifft nicht nur Europa, sondern die Weltwirtschaftsordnung insgesamt. Und wenn es uns nicht gelingt, in den nächsten Jahren geeignete Institutionen und Rahmenbedingungen zu schaffen, dann droht der weltwirtschaftlichen Entwicklung der Kollaps.
Das Gespräch führten Hans O. Hemmer und Stephan Hegger am 19. April 1990 in Berlin (Ost).
Christoph Matschie, geb. 1962, Mechaniker, Dipl.-Theologe, Vertreter der SPD am Runden Tisch, ist Mitglied des Präsidiums der SPD (DDR);
Thomas Schmidt, geb. 1960, Elektromonteur, ist Mitglied des Präsidiums der SPD (DDR) und verantwortlich für Gewerkschaftsarbeit.
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