Die vaterlandslosen Gesellen von heute
Die DDR darf nicht ausgehungert werden
Von Peter Conradi MdB
Vor einigen Jahren - damals gab es in der DDR noch politische Verfolgung - beschloss die evangelische Kirche in der BRD, Pfarrer aus der DDR erst nach einer Wartefrist von zwei Jahren einzustellen. Ein harter Beschluss angesichts der bedrängten Lage vieler Pfarrer in der DDR. Inzwischen gibt es in der DDR keine politischen Verfolgungen mehr. Die andere deutsche Republik ist daran, das Wort "demokratisch" in ihrem Namen mit Inhalt zu füllen. Der Beschluss der EKD gilt weiter.
Wenn es uns ernst ist mit unserer Verantwortung für die Deutschem in Ost und West, müssen wir viele solcher Beschlüsse fassen. Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie Tausende junger, qualifizierter und leistungswilliger DDR-Bürgerlnnen ihren Arbeitsplatz verlassen und zu uns kommen. In der DDR bricht durch diese Massenausreise in vielen Städten die Versorgung, in vielen Betrieben die Produktion, zusammen. Wollen wir das fördern?
Wenn wir es ernst meinen mit der Vaterlandsliebe, dann dürfen wir beispielsweise keine Ärzte aus der DDR in unseren Krankenhäusern einstellen, weil sonst die ärztliche Versorgung unserer Landsleute zusammen bricht. Das Abwerbung von Arbeitskräften ist unpatriotisch. Wir sollten im Gegenteil darauf drängen, dass Ärzte und Krankenschwestern, Bauarbeiter und Omnibusfahrer, Lehrer und Techniker an ihren Arbeitsplätzen in der DDR bleiben und dort ihre Arbeit leisten, damit die Menschen in der DDR versorgt werden.
Die Demokratie hat in der DDR nur eine Chance, wenn es dort wirtschaftlich aufwärts geht.
Die Bundesregierung verkündet in Anzeigen, die Übersiedler stärkten unsere Rentenversicherung. Sie verschweigt, dass die Übersiedler das Sozialsystem der DDR schwächen. Wollen wir auf Kosten der Menschen in der DDR stärker werden?
Ein Kultusminister, der trotz arbeitsloser Lehrer bei uns vorrangig Lehrer aus der DDR einstellt, handelt unsolidarisch an den Schulkindern in der DDR. Ein Arbeitsamtsleiter, der im Fernsehen erklärt, er könne Facharbeiter aus der DDR problemlos hier unterbringen, schadet den Brüdern und Schwestern in der DDR. Das sind die "vaterlandslosen Gesellen von heute", die aus rüdem Eigennutz die DDR wie eine Kolonie ausplündern.
Die Frage drängt sich auf, ob hier nicht eiskalt der Zusammenbruch der DDR auf allen Gebieten betrieben wird, an dessen Ende der "Anschluss" der DDR an die Bundesrepublik unausweichlich wird, so wie 1938 der "Anschluss" Österreichs mit einer planmäßigen Destabilisierungspolitik vorbereitet und erzwungen wurde. Wer heute von Vaterlandsliebe redet, wer die Einheit der Deutschen beschwört, der muss alles dafür tun, dass es in der DDR politisch, wirtschaftlich und sozial aufwärts geht. Aufwärts wird es dort nur gehen, wenn wir die Abwanderung stoppen und der DDR wirtschaftlich helfen. Das wird große Anstrengungen erfordern. Wer das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten will, darf nicht auf den Zusammenbruch des einen Staates hinarbeiten.
Sozialdemokratischer Pressedienst, Nr. 244, Mi. 20.12.1989