Konflikte und Konfliktfähigkeiten

Von IBRAHIM BÖHME

Eine Erinnerung, die mir dieser Tage, auch im Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen die Hausbesetzer in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain kam. Es war am 17. Oktober 1987, als etwa 60 Skinheads ein Konzert verschiedener alternativer und oppositioneller Gruppen in der Zionskirche in Ost-Berlin überfielen. In der Nähe der Kirche stationierte Polizeieinheiten schritten trotz Hilferufen nicht ein. "Deutsche Kirchen judenfrei", "Haut die Linken zusammen " und "Wir wollen ein ausländerfreies Deutschland" grölten die angetrunkenen Skins Die "Junge Welt", damals noch Zentralorgan der Freien Deutschen Jugend, stellte kurz darauf in einem Leitartikel ihres Chefredakteurs die Skins, die sich mit ihrem Überfall auf die Zionskirche auch gegen geltendes DDR-Recht vergangen hatten, sogar mit jenen gewaltfreien Demonstranten auf eine Stufe, die mit brennenden Kerzen gegen die Verhaftung unserer Freunde am Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember 1987, protestierten.

Es gab nichts, was es nicht geben durfte in diesem real existierenden Sozialismus.

Peter Grimm, zu dieser Zeit noch einer der Organisatoren der illegalen Zeitschrift "Grenzfall", und ich stellten bei unseren Recherchen fest, dass der Überfall von einem staatlichen Jugendklub ausgegangen war. Die Skinheads hatten wenige Tage vor dem "Einsatz" mit Sportfunktionären bei einer internen Feier das Vorgehen vorn 17. Oktober 1987 besprochen. Obwohl die Kriminalpolizei die Namen und Wohnsitze der Rädelsführer wusste, kam es erst wesentlich später nach Protesten älterer Antifaschisten - vor allem des Zentralvorstandes der VVN/Vereinigung Antifaschistischer Widerstandskämpfer - zur Verhaftung der bestellten Gewalttäter. Wir fanden auch heraus, dass die "Sicherheitsorgane" nicht nur von den Kontakten von "Ost-Skins" zu "West-Skins", sondern auch von vielen ihrer geplanten Störungen des gesellschaftlichen Lebens wussten.

Wenn ich heute die Polizeiberichte lese, so erschrecke ich über die Zunahme der Ausländerfeindlichkeit, Gewalt gegen Minderheiten, offenen Antisemitismus und offen neofaschistisches Verhalten. Ich weiß jedoch auch: In dieser Zeit der Unsicherheiten, des Zusammenbrechens falscher Wertegebäude tritt zutage, was latent vorhanden war und nur durch staatlich verordneten Antifaschismus verdeckt wurde, nie aber psychologisch in der DDR aufgearbeitet wurde.

Es gibt viele Konflikte, mit denen wir in den nächsten Jahren umzugehen lernen müssen, die unsere Konfliktfähigkeit benötigen. Doch die eben genannten, nur scheinbar neuen, machen mir Angst. Und sie machen mich in besonderer Weise bitter, denn ich weiß, dass noch vor 15 Monaten die gleichen Bürger der ehemaligen DDR wegschauten, wenn man Ausländern Schimpf und Gewalt antat, die im "Sozialistischen Wettbewerb" ihren Gast Vietnamesen oder Gast-Moçambiquer, den sie einmal zum Mittagessen einluden, abrechneten, um damit Punkte zu sammeln. Gleichzeitig frage ich mich: War das solidarische Verhalten unserer Menschen nur Heuchelei? Oder verstecken sie jetzt nicht ein ehrliches Empfinden aus Hilflosigkeit oder Angst?

Ich glaube, dass die meisten Konflikte Angst und Unsicherheit als Ursachen haben.

Ein Land, das sich in einem solch grundlegend ökonomischen, sozialen und politischen Umbruch wie unseres befindet, verkraftet kaum die Unsicherheiten und Ängste, die ihre Nahrung aus vielen sich überlappenden, nicht zuletzt als sozial bedrohlich empfundenen Vorgängen speisen. Vor allem dann nicht, wenn die meisten seiner Bürger noch dabei sind, ihre lang verordnete Sprachlosigkeit aufzugeben und zur Mündigkeit den Mund vielfach erst spitzen.

Was erfordert in dieser Entwicklung Demokratieverständnis? Nach meiner Meinung vor allem drei Dinge: 1. kritisches eigenständiges Verhalten und Denken, 2. solidarische Haltung gegenüber jedermann, besonders aber dem Schwächeren, 3. Erkennen, was am Fremden so fremd ist.

Eine der entscheidenden Fehlleistungen des ideologischen Apparates in der DDR war der Glaube, Sozialismus könne als harmonisches Stadium geschaffen werden ein für allemal. Bei diesem Irrglauben wurde jeder, dessen Gedanken oder Verhalten die verordnete, aber nie tatsächliche Harmonie störte, zum Feind.

Harmonie aber ist niemals als Dauerzustand zu erreichen. Harmonie lebt vor allem von Offenlegung und demokratischem Umgang mit Konflikten. Harmonie bedarf der Konfliktfähigkeit der Bürger ebenso wie des Staates, seiner Strukturen, Instanzen und Vertreter. Das massierte polizeiliche Vorgehen gegen die Hausbesetzer in der Mainzer Straße jedoch war erstens nicht nur Missbrauch des einzelnen Polizisten, sondern mehr noch zweitens der zum Teil wahltaktisch verursachte Trugschluss des SPD-Senats (Wir sind keine schlechteren Wächter von Law & Order als die CDU!)‚ dem zutiefst gesellschaftlichen, also sozialen Konflikt des Wohnraummangels sei mit Schlagstock und Reizgas beizukommen. Welch Trugschluss, was für ein Schaden, welch Konfliktunfähigkeit!

Lernen wir doch nicht nur aus dem Überfall auf die Zionskirche im Herbst 87, sondern auch aus dem Vorgehen in der Mainzer Straße im Herbst 1990! In beiden Fällen, ich bekenne es, hat die Staatsmacht kurz- und trugschlüssig reagiert.

Der Autor (SPD) ist scheidender Polizeibeauftragter des Berliner Magistrats.

Neues Deutschland, Sonnabend/Sonntag, 8./9. Dezember 1990, B-Ausgabe, 45. Jahrgang, Nr. 287

Δ nach oben