DDR 1989/90 Brandenburger Tor

Vertrag über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland

Die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland,

getragen von dem gemeinsamen Willen, Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte in einem vereinten Europa zu verwirklichen,

ausgehend von ihrer gemeinsamen nationalen Geschichte, Sprache, Kultur sowie anderen ethnischen Gemeinsamkeiten und dem Bestehen zweier Staaten im Rahmen einer deutschen Nation,

in dem Bewusstsein, dass die Annäherung und Verflechtung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten im Einklang mit dem Zusammenwachsen der europäischen Staaten in einer europäischen Friedensordnung erfolgen muss,

in fester Absicht, eine Vertragsgemeinschaft als neue Dimension der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland zu gestalten, die den Weg zu einer Konföderation bahnt, in der die Deutschen in beiden Staaten über ihr künftiges Zusammenleben im Einklang mit ihren Nachbarn entscheiden können,

sind wie folgt übereingekommen:

Artikel 1

Die Deutsche Demokratische Republik und die Bundesrepublik Deutschland (im weiteren die Vertragschließenden Seiten) werden auf der Basis des "Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland" vom 21. Dezember 1972 sowie auf der Basis der Schlussakte von Helsinki und aller anderen Dokumente des KSZE-Prozesses durch enge und umfassende Vertragsbeziehungen der guten Nachbarschaft eine Vertragsgemeinschaft zum Wohle der Menschen sowie zur Stärkung der europäischen Friedensordnung entwickeln.

Durch die Vertragsgemeinschaft soll die politische, wirtschaftliche, umwelt-, energie- und verkehrspolitische, kulturelle und abrüstungspolitische Zusammenarbeit zwischen beiden deutschen Staaten gefördert und ihr eine neue Qualität verliehen werden.

Artikel 2

(1) Die Vertragschließenden Seiten kommen überein, als Organ der Vertragsgemeinschaft eine paritätisch zusammengesetzte Politische Konsultativkommission zu bilden. Sie steht unter Leitung des Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik und des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland.

(2) Die Politische Konsultativkommission hat die Aufgabe, Grundfragen der Ausgestaltung der Vertragsgemeinschaft und ihrer Weiterentwicklung zur Konföderation zu beraten, die Tätigkeit bestehender und zu bildender gemeinsamer Gremien zu koordinieren sowie Empfehlungen an die Parlamente und Regierungen beider Staaten zur Entwicklung von Beziehungen guter Nachbarschaft auszuarbeiten.

(3) Die Zusammensetzung und Geschäftsordnung der Politischen Konsultativkommission werden zwischen den Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland gesondert vereinbart.

(4) Die Ministerien und andere Institutionen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland können für die Realisierung der Zusammenarbeit in ihrer jeweiligen Zuständigkeit paritätisch zusammengesetzte gemeinsame Gremien bilden, die Empfehlungen an die Politische Konsultativkommission sowie an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und die Regierung der Bundesrepublik Deutschland ausarbeiten.

Artikel 3

Die Vertragschließenden Seiten werden alle in der Schlussakte von Helsinki und den anderen KSZE-Dokumenten eingegangenen Verpflichtungen beispielhaft erfüllen. Sie ergreifen eigene sowie gemeinsame Initiativen für die Entwicklung zu einer neuen Qualität des KSZE-Prozesses, die dem gesellschaftlichen Wandel in Europa entspricht, mit dem Ziel, eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu gestalten und den Prozess des konföderativen Zusammenschlusses der Staaten Europas zu fördern.

Artikel 4

(1) Die Vertragschließenden Seiten leisten jeder für sich, gemeinsam sowie im Rahmen der jeweiligen Bündnisse, denen sie angehören, konkrete Beiträge zur Abrüstung und Rüstungskontrolle mit dem Ziel einer gegenseitigen strukturellen Angriffsunfähigkeit.

(2) Die Vertragschließenden Seiten unterstützen die Durchführung vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen, insbesondere in Europa, und die Vereinbarung weiterer Maßnahmen auf diesem Gebiet. Dazu streben sie nach kooperativen Sicherheitsstrukturen zwischen ihren Streitkräften, von denen positive Impulse für die Entwicklung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Streitkräften beider Paktsysteme in Europa ausgehen.

Artikel 5

Mit dem Ziel, praktische Solidarität zu üben und soziale Gerechtigkeit zu sichern, streben die Vertragschließenden Seiten an, die Bedingungen für die Lebensqualität in beiden deutschen Staaten anzugleichen. Zu diesem Zweck stellen sie folgende Aufgaben in den Mittelpunkt ihrer Vertragsgemeinschaft:

- Schaffung eines Wirtschaftsverbundes auf der Basis marktwirtschaftlicher Prinzipien, die in ihrer sozialen und ökologischen Orientierung auf das Wohl der Bürger ausgerichtet sind. Beide Seiten fördern alle Aktivitäten, die sich in Übereinstimmung mit den Entwicklungszielen und Bedürfnissen der nationalen und internationalen Märkte befinden. Sie ziehen neue, zukunftsorientierte Bereiche stärker in die Zusammenarbeit ein. Sie entwickeln qualitativ neue Formen der Zusammenarbeit und schaffen dafür entsprechende Institutionen.

- Vereinbarung eines Währungsverbunds mit dem Ziel, volkswirtschaftliche Nachteile aus unrealistischen Wechselkursen für beide Staaten zu vermeiden.

- Ausbau der Infrastruktur, insbesondere der Kommunikationsnetze, der umweltverträglichen Energieerzeugung und des Verkehrs.

- Verwirklichung eines gemeinsamen Programms zur wirksamen Verminderung und Vorbeugung der Umweltverschmutzung sowie zur Herstellung gesunder Umweltverhältnisse.

Zur schnellen Realisierung dieser Aufgaben werden noch im Jahr 1990 die erforderlichen Vereinbarungen abgeschlossen.

Artikel 6

Die Vertragschließenden Seiten verstärken ihre Zusammenarbeit im humanitären Bereich mit dem Ziel, ein möglichst gleiches Niveau der Verwirklichung der zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte für die Menschen in beiden deutschen Staaten zu erlangen. Sie tragen damit zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Rechtsraumes bei.

Artikel 7

Die Vertragschließenden Seiten fördern eine umfassende Zusammenarbeit auf den Gebieten der Kultur, Wissenschaft und Bildung. Sie entwickeln insbesondere eine enge Kooperation bei der Pflege und schöpferischen Aneignung des nationalen und des europäischen Kulturerbes sowie den Austausch kultureller und wissenschaftlicher Leistungen.

Artikel 8

(1) Die Vertragschließenden Seiten fördern die partnerschaftlichen Beziehungen auf kommunaler Ebene. Sie unterstützen die Tätigkeit von Regionalausschüssen aus Vertretern von Gebietskörperschaften der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland sowie einer entsprechenden Kommission auf Regierungsebene.

(2) Die Vertragschließenden Seiten fördern die Zusammenarbeit gesellschaftlicher Kräfte, von Kirchen und Religionsgemeinschaften, Parteien und Organisationen, Jugend und Sport- verbänden, insbesondere im Hinblick auf gesamteuropäische Zielsetzungen.

Artikel 9

Die Bundesrepublik Deutschland wird einen Antrag der Deutschen Demokratischen Republik auf Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft unterstützen.

Artikel 10

(1) Die Vertragschließenden Seiten stimmen darin überein, dass durch diesen Vertrag die von ihnen früher abgeschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen und mehrseitigen internationalen Abkommen und Vereinbarungen nicht berührt werden.

(2) Die Vertragschließenden Seiten stellen fest, dass die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte und die entsprechenden diesbezüglichen vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken durch diesen Vertrag nicht berührt werden können.

Artikel 11

Entsprechend dem Vierseitigen Abkommen vom 3. September 1971 wird dieser Vertrag mit Ausnahme des Artikels 4 in Übereinstimmung mit den festgelegten Verfahren auf Berlin (West) ausgedehnt.

Artikel 12

Dieser Vertrag bedarf der Ratifikation und tritt am Tage des Austausches der Ratifikationsurkunden in Kraft.

Ausgefertigt in in deutscher Sprache.

am

in zwei Urschriften

Für die Deutsche Demokratische Republik

 

Für die Bundesrepublik Deutschland

 

Entwurf der Regierung der DDR

Ausfertigung: Berlin, den 17. Januar 1990.


[In dem Gespräch zwischen Hans Modrow und Helmut Kohl in Bonn am 13.02. bemängelte Modrow, dass auf den Entwurf des Vertrages nie eine Antwort erfolgte.]

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