Ein Heim Europa, in dem sich alle wohl fühlen

Auskünfte von Rainer Eppelmann, Minister für Abrüstung und Verteidigung der DDR

Lang war die Liste derer, die Rainer Eppelmann, Minister für Abrüstung und Verteidigung, kürzlich interviewen wollten. Der Minister lud schließlich alle ein und stellte sich dem Kreuzverhör der Journalisten. Drei Stunden lang.

Frage: Welche Verpflichtungen verbinden sich mit der neuen Bezeichnung Ihres Ministeriums?

Antwort: Der Name des Ministeriums hat etwas mit dem Programm zu tun, er gibt den Inhalt der Arbeit, die geleistet wird, am besten wieder. Die NVA ist eine Abrüstungs- und Verteidigungsarmee. Es geht nur in dieser Kopplung. Wenn die Streitkräfte keine Verteidigungsfunktion mehr haben, brauchen wir auch keine Armee mehr. Wir leben in einem Europa, in dem es überall noch Armeen und Schutz- und Sicherheitsbedürfnisse gibt. Das gestehe ich auch den Menschen zwischen Oder und Elbe zu.

Frage: Wie soll es weitergehen in Europa?

Antwort: Nicht Blockverschiebung, sondern Blockveränderung streben wir an. Blöcke, in denen die KSZE-Staaten Mitglied sein können. Kanada, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion gehören dazu. Das heißt, es der Sowjetunion zu ermöglichen, ihren Platz in einem gemeinsamen Sicherheitssystem zu finden. Blockveränderung wollen wir; denn was die NATO aufgestapelt hat in Europa, sind auch keine Friedenstauben.

Frage: Sollte ein geeintes Deutschland Mitglied der NATO sein?

Antwort: Wir haben noch zwei Blöcke. Davon müssen wir ausgehen. Politische Zugehörigkeit zur NATO ja; wichtig ist, wie damit umgegangen wird. Aber keine militärische Präsenz zwischen Oder und Elbe.

Es gibt noch eine zweite Möglichkeit: Eine deutsche Armee, die Mitglied in beiden europäischen Blöcken ist, wenn beide Systeme vorher Nichtangriffserklärungen abgeben. Denn wir wollen ein europäisches Sicherheitssystem schaffen, ein Heim, in dem sich alle wohl fühlen können.

Frage: Wie soll das Verhältnis zu unseren osteuropäischen Nachbarn aussehen?

Antwort: Wir haben etwas einzubringen in den Einigungsprozess - zwar keinen dicken Sack an Geld, aber Freunde. Es kann uns nicht gleichgültig sein, was mit unseren Nachbarn passiert, wenn das europäische Heim bezogen wird.

Ich trete jeden Morgen in einen sowjetischen Schuh und jeden Abend in einen polnischen. Wenn wir uns nicht alles kaputtmachen lassen wollen, was unsere Geschichte ausmacht, müssen wir das mit einbringen - die Brücke nach Osteuropa; unser gutes Verhältnis zur Sowjetunion. Es darf nicht sein, dass eine Supermacht draußen bleibt. Dann wäre der Konflikt schon in die Wiege gelegt. Das hat auch etwas mit Dankbarkeit zu tun, denn was heute hier in unserem Land ist, haben wir Gorbatschow zu verdanken. Und es hat etwas mit Solidarität zu tun, denn wer draußen bleibt aus der europäischen Friedensordnung, wird ökonomisch kaputtgehen.

Frage: Es gibt keine Feindbilder mehr. Wie sollen die Soldaten aber jetzt motiviert werden?

Antwort: Lehrer und Journalisten sind es, die diese ungeheure Aufgabe in der gegenwärtigen Phase bewältigen können. Sie müssen zeigen, dass es kein Angst- und Unterdrückungspotential mehr in der Armee gibt. Und wo wir Abrüstung betreiben zum Guten für viele. Das muss in einer verantwortungsvollen Weise passieren. Abrüstung kostet viel Geld und viel Zeit. Und sie bedarf der Absprache mit Freunden, Partnern und vorstellbaren Gegnern.

Frage: Wofür würden Sie sich heute entscheiden, Wehrdienst oder Zivildienst?

Antwort: Ich war 1983 aus gutem Grund Wehrdienstverweigerer. Heute ist die Situation in Europa und in der DDR grundsätzlich anders. Jeder junge Mann kann sich frei entscheiden, ohne dass ihm ein Nachteil daraus entsteht.

(Das Interview führten wir noch vor Eppelmanns kürzlicher Aussage, dass die DDR bei der Vereinigung den Warschauer Pakt verlässt)

(Für die Auskünfte bedankt
sich Heimtraud Eichhorn)

Bauern-Echo, Mo. 11.06.1990

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