ND-Reporter sprach mit einem Mann, der so stachlig sein kann, wie sein Name es verrät: Diestel, Peter Michael
Wie 45 sollten wir jetzt die Ärmel hochkrempeln
Herr Minister, wir freuen uns, dass Sie Zeit für uns haben. Die meisten Ihrer Ministerkollegen haben derzeit Urlaubsverpflichtungen ...
Wer jetzt meint, drei, vier Wochen Urlaub machen zu müssen und in zentraler Verantwortung steht, muss sich das genau überlegen - und hat die Frage vielleicht falsch entschieden.
Nun, Sie unterschreiben keine Urlaubsscheine ...
Ich kann da in die Kompetenz meines Ministerpräsidenten nicht eingreifen. Sie wissen, dass Herr de Maizière eine sehr menschliche und auch emotional glaubwürdige Politik macht, und er hat dann sicherlich Verständnis bei den Leuten vorausgesetzt. Er ist eben das erste mal Ministerpräsident und ich das erste mal "Vize".
Und wir sitzen Ihnen das erste mal außerhalb einer Pressekonferenz gegenüber ... Herr Minister, bevor wir auf die alltäglich quälenden Probleme zu sprechen kommen wie RAF, MfS, diverse andere Kürzel, Geld, Gewerkschaften, Parteien, würden uns ein paar Gedanken zum Thema Geschichte und Zukunft der Deutschen interessieren. In einer Zeitung, die besonders durch die großen Überschriften und wenig Inhalt auffällt ...
… die aber eine hohe Auflage hat ...
… sagten Sie, Berlin muss Hauptstadt und Regierungssitz werden, jede andere Losung wäre ein Schlag ins Gesicht der deutschen Geschichte. Warum? Und wie würden Sie dieses Gesicht skizzieren?
Wir können auf unsere Geschichte stolz sein, müssen sie aber differenziert betrachten. Man darf nicht nur die herausragenden negativen Etappen sehen, man muss auch das sehen, was wir an Humanismus, an Wissenschaftsentwicklung, an Entwicklung der Ökonomie und dergleichen in die europäische und die Weltkultur eingebracht haben. Da kann man ruhig auch einen gewissen Stolz im patriotischen Sinne haben, nicht Nationalstolz, wie wir ihn negativ kennen.
Berlin war mit, aus heutiger Sicht, unerträglichen Kapiteln deutscher Vergangenheit verbunden. Berlin hat einfach das Recht, eine Chance zu erhalten, damit sein Name in ein ganz anderes Licht gebracht wird. Beispielsweise soll Berlin die Möglichkeit bekommen, für die völlig missratenen, politisch ambitionierten Olympischen Spiele 1936 neue Olympische Spiele auszurichten. Der preußische Zopf an Berlin ist das eine. Es gibt aber auch die Ansiedlung der Hugenotten: die Ansiedlung großer Teile europäischer Juden in Berlin. An den humanistischen Traditionen möchte ich anbinden, daraus leite ich meine Hoffnung ab. Ich werde jede Rede, die ich halten kann in der Öffentlichkeit, damit beenden: Berlin muss Hauptstadt eines geeinten Deutschland und Regierungssitz eines geeinten Deutschland werden. Die deutsche Einheit eröffnet riesenhafte Chancen für alle Deutschen im positiven Sinne von Überwindung der Grenzen zum gemeinsamen Europa. Phantastische Perspektiven. In diesem Sinne sehe ich auch die Geldfragen. Wo ein Wille ist, werden wir auch den Weg finden.
Sie denken schon in eine europäische Zukunft hinein. So kann ich mir nicht vorstellen, dass Ihr "Polit-Vertrag" Ende des Jahres - oder früher - ausläuft.
Nach dem Gespräch, das ich eben vor Ihrem Besuch geführt habe, ist das ausgeschlossen.
Sagen Sie mehr?
Wenn ich von der Ortsgruppe der CDU in Zeuthen heute Abend aufgenommen werde, bin ich morgen Mitglied der CDU. Sie wissen vielleicht, dass mein Vater - ein Offizier - in der PDS ist, meine Brüder in der SED waren. Ich habe als junger Abiturient mal den Weg in die CDU gesucht, in die Gerald Göttings, bin anderthalb bis zwei Jahre in dieser Partei gewesen und desillusioniert wieder ausgetreten, bin dann parteilos gewesen, ein normaler DDR-Bürger.
Im Zusammenhang mit der Wende gründete ich mit einem Leipziger Pfarrer die DSU und habe festgestellt, dass sich in dieser Partei, die ich alternativ zur CDU gegründet habe, Kräfte breitgemacht haben, die nicht meine Standpunkte hatten. Ich habe nicht die Front gewechselt, nur das Bataillon. Das muss man einfach jemandem gestatten, der politisch unerfahren ist. Bei der CDU habe ich die Überzeugung, dass dort durch den Einfluss solcher Menschen wie de Maizière, Krause und Reichenbach Realpolitiker arbeiten.
Sie wollten uns verraten, was nach diesem Beitritt passiert.
Das wollte ich Ihnen nicht verraten, danach hatten S i e mich gefragt. Sie müssen verstehen, ich bin ein Mensch, der überall Widersprüche erreicht, nicht nur wegen der Stacheln, die man durch meinen Namen vermuten kann, sondern auch wegen der Art und Weise, wie ich das umsetze, was ich für richtig halte.
Sie müssen nicht bestätigen, dass Sie einen festen Listenplatz haben ...
Ich weiß, dass das politische Gewicht, das mit meiner Arbeit in den letzten Monaten verbunden ist, bei mehreren Parteien Interesse gefunden hat. Ich bin Konservativer, ich empfinde, dass die Programmatik der CDU mit der Partei, die ich durch die DSU-Gründung erreichen wollte, fast übereinstimmt. Die Vergangenheit der CDU hat ähnliche Züge wie die der ehemaligen SED. Und ich sehe das als Frage der Vergangenheitsbewältigung, sehe Tendenzen des Unterschiedes von der PDS zur SED und sehe genauso eine totale Veränderung der heutigen CDU gegenüber der CDU von Götting und Heil. Ich habe eine gute Gemeinschaft gesucht, wenn diese Gemeinschaft mich aufnimmt, dann wird das Gewicht und die Sympathie für meine Arbeit - die gibt es ja stellenweise - in die CDU einfließen.
Was sind denn nun Ihre Ziele? Man hat ja Visionen.
Ich möchte, dass wir als DDR eingehen in ein gemeinsames Deutschland und dort einen wichtigen, von Besonderheit gekennzeichneten, dann ostdeutschen Teil eines gesamtdeutschen Parlaments darstellen. Man kann nicht Geschichte verdrängen. Wenn man den wahnsinnigen Prozess der Ignoranz, der Verdrängung weiterführt, dann sind wir einfach vaterlands- und geschichtslose Gesellen in einem geeinten Deutschland. Ich meine, für uns sind die Folgen des Krieges im Prinzip erst im November 1989 beendet worden. Den Wandel vom November 89 haben nicht einzelne politische Kreise, sondern den hat das ganze Volk gewollt. Ich sage es immer wieder: Nicht Gräben zwischen den Menschen soll man aufreißen in unserem desolaten Land, sondern das Gemeinsame suchen. So wie nach 1945 die Ärmel hochkrempeln, so wie wir hier sitzen, und arbeiten. Was leisten wollen, nicht Urlaub machen und kassieren.
Mit allen, auch mit den PDS-Mitgliedern?
Sie sind in der PDS?
Ja.
Ich habe nichts dagegen. Ich habe ein konstruktives Verhältnis zu Ihrem Parteivorsitzenden, ein konstruktives Verhältnis zu der PDS. Ich muss als Demokrat einfach akzeptieren, dass am 18. März zwei Millionen die PDS gewählt haben. Man weiß nicht, wie es zu den Landtagswahlen werden wird, man weiß nicht, wie es zur gesamtdeutschen Wahl werden wird. Ich weiß auch nicht, wie und ob Sie die Probleme der Wahlsituationen meistern werden. Ich wünsche das jeder demokratischen Kraft, und ich verlange nicht, dass Sie sich meinen inneren Überzeugungen anschließen. Das ist die Toleranz, die man als Demokrat haben muss.
Da sind wir uns einig. Herr Diestel, unbestritten ist sicher, dass, wenn wir uns um deutsche Probleme kümmern, wir natürlich auch mit unseren Nachbarn zusammenarbeiten müssen. Viele DDR-Bürger haben, glaube ich, große Schwierigkeiten, multikulturellen Denkansätzen zu folgen.
Ich sehe, dass wir als Deutsche eine große Verpflichtung haben. Der ehemalige englische Handelsminister hat sich in sehr unpfleglicher Form dazu geäußert. Aber er artikulierte die Angst. Ich werde stets meinen Einfluss nutzen, dass diese Ängste keine Entsprechung finden. Das heißt auch, dass wir jetzt erst einmal Voraussetzungen schaffen müssen, dass Ausländerfeindlichkeit zwischen der Bevölkerung und osteuropäischen Asylanten, Touristen und dergleichen nicht aufkommt. Das heißt, dass wir wirtschaftliche Voraussetzungen schaffen müssen, um ausländerfreundlich zu werden.
Führen Sie mit Ihren Partnern Wirtschaftsminister, Sozialminister - darüber Gespräche?
Ja. Mit Frau Dr. Hildebrandt oder mit der Ausländerbeauftragten Frau Berger habe ich ein sehr gutes Verhältnis. Es gibt im einzelnen Meinungsverschiedenheiten, aber es gibt substantiell keine Widersprüche. Es muss ein Modell entwickelt werden, und es muss sich nicht viel von dem gegenwärtigen Ausländergesetz der Bundesrepublik Deutschland abheben, das es einfach auch gestattet, den Deutschen in ihrem Lande zu leben. Ich lehne es ab, wenn Menschen, Rumänen zum Beispiel, kommen, ihre Kinder ausziehen und betteln. Ich würde gerne einen Beitrag leisten, dass die Menschen sagen: Rumänien ist ein schönes Land, wir bleiben in Rumänien, dort ist unsere Heimat. Wir könnten dann über touristische Regelung Ausländerfreundlichkeit organisieren.
Also viel guter Wille, dem die ökonomische Lage widerspricht.
Diese Verhältnisse will ich beeinflussen.
Wie beurteilen Sie eigentlich die momentane Sicherheitslage im Land? Es gibt ja Bombendrohungen, Attentate werden angedroht, von mysteriösen Sprengstoffdiebstählen ist zu lesen ... Warum bekommen Sie und Ihre Männer die Probleme nicht in den Griff?
Weil es für uns neue Herausforderungen sind. Durch die Öffnung der Grenze und durch die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse sind natürlich auch die Sicherheitsstrukturen in diesem Lande einer Veränderung unterworfen. Bewaffnete Kriminalität spielte bislang überhaupt keine Rolle. Sie wissen, dass es ein einziges Mal eine attentatähnliche Handlung gegen Honecker gegeben hat. Rauschgift spielte keine Rolle. Zollvergehen spielten keine Rolle, auch ein Bandenwesen spielte keine Rolle, rechter und linker Radikalismus in der Politik ebenso nicht. Dafür haben Mielke und seine Mannen „hervorragend“ gesorgt.
Jetzt ist das alles zusammengebrochen, und wir müssen mit dem gleichen Apparat und den gleichen Menschen diesen neuen Herausforderungen begegnen. Das setzt natürlich eine Veränderung der Politik voraus, eine Veränderung der Ausrüstung und auch eine Veränderung in den Köpfen der Menschen. Mit letzterem sind wir weit gekommen. Die Wirkung der Westmark, meine Herren, hat in der DDR auch Nachteile gebracht. Prostitution, Rauschgift ...
Polizisten, mit denen wir sprachen, reagierten sehr sauer auf ihren obersten Dienstherren ...
Da haben Sie sicherlich mit Berlinern gesprochen.
… die meinten, dass Sie sich um ihre soziale Sicherheit überhaupt nicht kümmern. Der Minister würde eben nie auf eine Messerklinge sehen müssen. Die Leute scheinen sozial verunsichert.
Ich glaube nicht, dass meine Polizisten solche Äußerungen von sich gegeben haben ...
Sie taten es ...
… weil jeder Polizist in diesem Lande weiß, welchen Beitrag ich geleistet habe gegen extreme Widersprüche in allen politischen Kräften, auch in der PDS. Ich habe die soziale Sicherheit für diese Menschen organisiert. In diesem Lande gibt es überhaupt niemanden, der sozial sichergestellt wäre. Die Polizisten in diesem Lande haben als einzige einen krisensicheren Job. Als einzige. Im Vergleich zu anderen hatten Polizisten ein überdurchschnittliches Vergütungsniveau. Das zum einen. Zum anderen: Die Polizisten waren in einer Art und Weise, die ich nicht bewerten will, in die Widersprüche des Novembers verwickelt und haben jetzt nach meinem Dafürhalten in Anbetracht der Perspektivlosigkeit der Bauern, der Handelsleute, der Industriearbeiter durchaus eine moralische Verpflichtung, ihre derzeitige soziale Sicherheit zu akzeptieren und sich ruhig zu verhalten.
Dennoch, angesichts des überzogenen extremen Sicherheitsapparates vergangener Jahre wird es auch bei der Polizei einige Entlassungen geben müssen. Aber in Berlin, wo Sie Ihre Erkundigungen eingezogen haben, dort wird eine unselige Parteipolitik betrieben seitens der SPD.
Sie spielen auf die rüde Auseinandersetzung zwischen Herrn Kampf, dem Gewerkschaftsvorsitzenden, und dem VP-Präsidenten Bachmann an?
Das sind einfach Widersprüche, die widerlich sind. Dümmer geht's gar nicht, weil einer, der gerne Politoffizier werden wollte, dem anderen, der Politoffizier gewesen ist, vorwirft, dass er Politoffizier gewesen ist. Wissen Sie, wenn meine Kinder sich so benehmen würden, dann steckte ich sie ins Bett. Eine widerliche Posse, die die gesamte VP-Gewerkschaft und unsere Polizei diskreditiert.
Trotzdem, Herr Diestel, die Polizisten beklagen doch, dass alte Gesetze nicht mehr gelten und neue Gesetze noch nicht da sind.
Lieber Herr, wir haben jetzt eine Demokratie. Da kann der Innenminister nicht einfach ein VP-Gesetz erlassen. Es ist ein Gesetzesvorschlag eingebracht, der wird seit Wochen in der Volkskammer diskutiert. Jetzt hat die Volkskammer eine Sommerpause. Die zweite Lesung kommt, und mehr kann ich nicht machen.
Sie hatten die Sache mit dem Messer in der Hand erwähnt. Ich bin vielleicht einer der wenigen Politiker in diesem Lande, der sich sehr direkt und immer wieder für ein unmittelbar schnell wirkendes Beamtenrecht oder Vorbeamtenrecht einsetzt, aber ich habe nur eine Stimme im Kabinett, nur eine Stimme in der Volkskammer, und die Abneigung gegen die ehemaligen Mitarbeiter der SED in der VP ist eben groß. Meine Aufgabe als Innenminister ist, darzustellen, dass in diesem Apparat neues Denken eingezogen ist. Wenn aber Polizisten, die Beamte werden wollen, meinen, sie müssten von heute auf morgen streiken, unvertretbare soziale Forderungen geltend machen, muss ich einfach sagen, die haben nicht den Zug der Zeit erkannt und haben die moralische Berechtigung, Beamter werden zu können, von vornherein verwirkt.
Das wird sicher noch Gesprächsstoff in der Polizei geben. Vielleicht können wir mal die Orte wechseln, von Berlin nach Moskau. Sie haben in Moskau Dokumente Über die Sonderlager gesucht, sind fündig geworden, aber doch recht zurückhaltend über das, was sie mitgebracht haben. Sehe Ich das falsch?
Ich habe wochenlang Gespräche geführt mit der sowjetischen Seite und habe dieses Bedürfnis dargestellt. Ich bin sehr froh, dass diese Gespräche dazu geführt haben, dass die sowjetische Seite dies genauso sieht und sagt, wir können nur unbelastet in der Zukunft zusammenarbeiten, wenn wir die Vergangenheit aufbereiten. Ich habe Interesse, dass die Beziehungen zur UdSSR inhaltlich verändert, von Kameradschaftlichkeit, die jetzt tatsächlich und echt werden soll, geprägt ist. Ich freue mich sehr, dass ich in den nächsten Wochen Gelegenheit kriege, die Westgruppe der Streitkräfte zu besuchen, um das Verbleiben oder den Aufenthalt der sowjetischen Soldaten in diesem Lande zu normalisieren. Sie kennen die Probleme, die tagein, tagaus in den Zeitungen stehen: Umweltbelastungen, Krach, Bomben, die verloren, Waffen, die verkauft werden.
Herr Diestel, bei Ihrem bekannten Arbeitspensum glaube ich einfach nicht, dass Sie nur nach Moskau reisen, um Dokumente zu holen. Was gab's noch für Gespräche? Sie sind Wohnungsuchender für Herrn Honecker?
Ich habe Gespräche geführt, eine ganze Menge Gespräche geführt, und ich habe auf Bitte der Anwälte von Herrn Honecker und der Kirche zwei elementare Lebensbedürfnisse für ihn beeinflusst. Das eine ist das Recht auf Wohnung, das andere ist das Recht auf Erhaltung seines Lebens. Er ist eine höchst gefährdete Person in unserem Lande, und er hat das Recht wie jeder andere sein Leben ohne Gefahr zu erleben. Und ich habe Polizeischutzmaßnahmen für ihn organisiert. Und ich habe in Absprache mit der sowjetischen Seite auch Möglichkeiten geprüft, ob er irgendwo sicher unterkommt, denn er ist jetzt in Beelitz in einem sowjetischen Militärhospital. Ich werde eine Wohnung für ihn organisieren, wo er sicher leben kann. Und das wird sicherlich keine Wohnung sein, die in einem Neubaugebiet in der DDR liegt. Es könnte doch durchaus sein - in jedem Prozess steckt ein Risiko, und Herr Honecker hat sehr gute Anwälte -, dass er freigesprochen wird oder dass die Verhandlung ohne ein Ergebnis ausgeht das die Bevölkerung befriedigt. Und wie stehen wir dann da, wenn wir das ehemalige Staatsoberhaupt, dem alle, Sie sicher noch mehr als ich, zugejubelt haben - das ist keine Kritik -, wenn dieser Mann dann irgendwo unter der Brücke schlafen muss. Das kann ich als Innenminister nicht akzeptieren, obwohl ich das Gesamtergebnis seiner Politik und seines Lebens absolut ablehne. Ich habe einfach die Pflicht mit unserer Geschichte sorgsam umzugehen und ganz besonders, wenn sie noch lebt.
Ich komme noch mal auf die Dokumente zurück. Sie suchten in Moskau. Wir In Berlin. Uns liegen Informationen vor, dass all die Inhaftierten in Listen erfasst, wurden, die auch übersetzt wurden in Ihrem Haus. Lange vor Ihrer Amtszeit natürlich. Und dass dort alle erfasst sind - einschließlich Name, Anschrift, Urteil, oft der Todestag. Haben Sie diese Dokumente gefunden?
Dann hätte ich nicht zu fahren brauchen.
Es gibt auch Gerüchte aus Ihrem Haus, dass diese Akten mitgegangen seien, als Mielke ein eigenes Ministerium erhielt Haben Sie dort mal nachgeschaut?
Dort habe ich nur ganz begrenzt Möglichkeiten, nachzuschauen. Ich habe das Komitee für die Auflösung der Staatssicherheit in meinem Verantwortungsbereich, und der Umgang mit den Akten, mit den Informationen ist gesetzlich geregelt. Bis jetzt gab es keine Anhaltspunkte außer der Information von Ihnen, dass dort was sein könnte. Das Material, was ich aus der UdSSR mitgebracht habe, ist in den vergangenen Wochen auch vom Russischen ins Deutsche übertragen worden. Das, was Sie mir jetzt sagen, dass diese Internierungsproblematik hier regulär bearbeitet wurde, ist mir neu. Da müssen wir nachforschen.
Da wären wir bei einem anderen Problem. Wie weit ist denn die Auflösung des ehemaligen MfS gediehen?
Wir haben eine Dokumentation anfertigen lassen mit etwa 500 Seiten. Und die wird in den nächsten Wochen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ein sehr gutes analytisches Werk. Die Auflösung der Finanzen und der Grundmittel ist noch nicht am Ende. Bei den Strukturen sind wir schon sehr weit. Sie wissen, dass jetzt die OibE (Offiziere im besonderen Einsatz, d. R.) enttarnt wurden und dergleichen.
Auch Minister wurden enttarnt?
Ob sie enttarnt wurden, weiß ich nicht. Ich habe mich auf jeden Fall gegen diese Indiskretion der Bearbeitenden gewandt. Dass die Leute dort mit Namen operieren, ist der Gipfel der Unmöglichkeit. Ich rate jedem, den das irgendwie berührt, sich dagegen zu wehren. Das ist eine unschöne Kampagne. Natürlich lehne ich es ab, dass Abgeordnete, die jetzt in diesem Parlament neben mir unterm Dach sitzen, in irgendeiner Weise mit der Staatssicherheit verquickt sind. Aber mit einem so globalen Stasi-Vorwurf, wie er jetzt unverantwortlich von Medien in die Öffentlichkeit gebracht wird, um Hysterie anzuheizen, kann kein Mensch in diesem Lande leben. Ich fordere jeden auf, sich dagegen massiv unter Zuhilfenahme aller rechtlichen Voraussetzungen zu wehren. Es gibt Politiker in diesem Lande, die sehen hinter jedem Gullydeckel, der etwas schief liegt, ein Stasi-Büro und intakte Leitungen, Giftgaslager. Auch Politiker sollten lernen, sie können lernen, sollten aber gelernt haben, bevor sie ein Amt übernehmen. Nur die Qualifikation als Theologe reicht offensichtlich nicht in diesem Land die Innenpolitik zu leiten. Daher meine Forderung, Theologen auf die Kanzel und Kompetenz in die Verantwortung.
Aber Sie erteilen kein Berufsverbot?
Überhaupt nicht. Sie wissen, ich habe zur Kirche ein sehr enges Verhältnis. Und ich habe auch zu Theologen, wenn sie Theologen sind und bleiben, ein sehr gutes Verhältnis. Ich höre sehr gerne die Worte eines Pfarrers von der Kanzel und habe mit großer Abneigung in den letzten Wochen und Monaten festgestellt, welchen Hass, welche Schärfe doch einige Vertreter dieser Zunft in ihren politischen Äußerungen an den Tag bringen.
Sie waren selbst betroffen von mancher Äußerung?
Ja, wissen Sie, betroffen nicht.
Es hat Sie aber manches betroffen gemacht?
Ja schon. Wo nehmen manche diese große Portion Hass her. Die Kirche hat eine bedeutende Rolle gespielt in diesem Lande, das will ich gar nicht in Frage stellen. Wo nehmen junge Theologen, die irgendwann mal ihre Gemeinden im Stich gelassen haben, das Recht her, jetzt hier das Maß der Dinge angeben zu wollen. Das ist kein Pauschalurteil, aber ich habe hier einige im Auge, ich möchte die Namen nicht nennen, die sich gebärden, dass es für die Kirche einfach geschäftsschädigend ist. Und die Kirche sollte sich irgendwann mal überlegen, ob es nicht notwendig ist, zu reagieren.
Bei dieser Schelte muss ich Ihnen aber sagen, es ist auch ein Segen, dass einzelne Männer der Theologie dieses Globalurteil wieder in Frage stellen. Da möchte ich das Wirken von Herrn Richard Schröder benennen als SPD-Fraktionsvorsitzenden und auch von Herrn Manfred Stolpe, dem Spitzenkandidaten der SPD in Brandenburg. Die zeigen menschliche Größe, auch die fachliche Kompetenz, um in der Politik, auch in Deutschland, eine führende Rolle zu spielen.
Von den Theologen mal zu Computern. Leser informierten, dass im Polizeipräsidium zuweilen Leute an den Speichern arbeiten, die da keinen Zugang haben sollten. Ein Gerücht oder?
Ich weiß nicht, ob es ein Gerücht ist. Ich lasse überprüfen.
Da müssten doch auch sehr schnell Schritte unternommen werden, damit der Datenschutz eine rechtliche Grundlage hat.
Das ist ein Problem. Ich habe die Auffassung, dass man auch uns, was den Datenschutz und das Datenschutzrecht angeht, das gleiche gestatten sollte, was in der Bundesrepublik selbstverständlich ist. Aber offensichtlich sind einige ja allzu sehr bereit, diese Selbstverständlichkeiten in Anwendung auf uns in Frage zu stellen. Und das ist ein Umstand, der mich sehr betroffen macht. Wenn man deren Zeitungen aufschlägt, dann wird man stets feststellen, dass man von uns verlangt, mit der Geschichte anders umzugehen, als sie es selber gemacht haben. Ich selber bin unzufrieden, wie der nationalsozialistische Prozess bewältigt wurde in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Und jetzt schreibt man uns vor, wen wir alles ausgrenzen sollen und wen wir alles überprüfen sollten. Ich würde sagen, hier ist einiges in der Zusammenführung der beiden bisherigen Systeme noch zu klären.
Für mich ist die vorrangige Aufgabe, jeden Bürger datenschutzrechtlich so zu stellen, wie es für einen Bundesbürger selbstverständlich ist. Und hier habe ich auch mit Ihrem Parteivorsitzenden, meinem Anwaltskollegen Gysi, die gleiche Überzeugung.
Nun wissen wir zumindest aus Ihrem Bereich, dass Sie Leute nicht ausgrenzen ob ihrer Vergangenheit, sondern Sie beurteilen nach Fähigkeit und Loyalität. Es geht die Rede, in Ihrem Ministerium gibt es einen direkten Test, wie loyal die Leute, die hier arbeiten, sind. Stimmt das?
Bei mir gibt s keinen Test … - doch es gibt schon einen. Er besteht im Beobachten der Arbeitsergebnisse über einen längeren Zeitraum. Wenn die gut sind, dann sehe ich keine Notwendigkeit zur Veränderung. Ich werde aber nicht in den Köpfen rumstochern und Gesinnungsschnüffelei betreiben. Ich werde mich auch, soweit ich das kann, gegen pauschales Berufsverbot stellen. Man braucht ein bisschen Fingerspitzengefühl und Beobachtungsgabe. Und man braucht auch bisschen Sachkenntnis, um eine Leistung als gut oder schlecht bewerten zu können. Darum bemühe ich mich, ohne mir anzumaßen, dass ich das Maß der Wahrheit gefunden habe. Es gibt viel, das bestätigen mir auch meine bundesdeutschen Berater, von denen ich hier einige habe, Höchstniveau in unserem Bereich. Wir können Polizeiexperten, Spezialisten, in den gesamtdeutschen Sicherheitsapparat einbringen.
Werden die wirklich übernommen?
Dafür setze ich mich ein.
In welchen Bereichen haben Sie Weltniveau?
Absolut Weltniveau haben wir auf dem Bereich des Schutzes von Objekten und Personen. Das hat die Personenschützer unserer bundesdeutschen Minister beeindruckt. Unser Zentrales Kriminalamt hat moderne Methoden, arbeitet sehr gut ...
Aber zum Beispiel ohne Soziologen und Psychologen ...
Das hat man unterschätzt, das hat man total unterschätzt, auch im Bereich des Strafvollzuges. Wir müssen viel dazulernen.
Sind Sie gewiss, dass Ihre Kriminalisten all jene Probleme mit dem Kürzel RAF bewältigen? Die hat angekündigt, gegen das Vierte Reich den Kampf zu eröffnen. Unsere Sparkassen und Banken sind auszunehmen wie Vogelnester. Die Gefährdung von Politikern ist enorm gewachsen. Es gibt auch rechte Gruppen ...
Wir sind geistig auf diese Herausforderung vorbereitet, im materiell-technischen Bereich haben wir riesenhaften Nachholebedarf. Ich denke nicht nur an die Sparkassen, Geld lässt sich ersetzen, ich denke an die Kunstgüter, ich denke an die Kirchengüter. Ich denke an die Museen. Und hier muss sehr viel geschehen. Vielleicht haben Sie mitbekommen, dass ich in den letzten Wochen mit der Kirche darüber gesprochen habe, auch mit dem Kulturministerium.
Nicht wenige prognostizieren einen heißen Herbst ob der möglichen sozialen Entwicklungen. Ein Thema für die Polizei?
Das System des Sozialismus in der DDR ist zusammengebrochen, und wir stehen vor schwierigen Problemen. Oder, wenn man positiv ausdrückt, vor dem Aufbau. Ich glaube, das Kapital, das wir einbringen, diese klugen, fleißigen, interessierten Menschen, ist von nicht zu unterschätzendem Wert. Ich habe keine Angst vor den Kämpfen, die sich im Herbst vollziehen könnten. Ich glaube auch nicht, dass es so sein wird, ich hoffe, dass die Menschen vernünftig sind.
Kann man davon ausgehen, dass in Ihrer Amtszelt die Polizei nicht gegen Streikende oder Teile des Volkes vorgehen wird?
Gegen das Volk auf keinen Fall.
Gegen streikende Arbeiter?
In diesem Lande und unter meiner Verantwortung nur gegen Rechtsbrecher.
Herr Minister, wir sehen, Ihre Zelt drängt. Deshalb wurden wir einige Sätze beginnen und Sie bitten, diese abzurunden.
Bitte.
Der erste derartige Satz beginnt: Eine Woche ohne Pressekonferenz des Innenministers ...
… lässt darauf schließen, dass der Innenminister schwerkrank ist oder im Urlaub.
Politisch Andersdenkende sind mir ...
… angenehm, sympathisch, wenn sie die Sachlichkeit ebenfalls bevorzugen und wenn sie auf Argumente eingehen, auf Argumente reagieren, wozu ich auch selber bereit bin.
Von de Maizière halte ich ...
… sehr viel. Ich halte sein Wirken für einen Segen in der gegenwärtigen Situation. Auf ihn konzentriert sich die Hoffnung. Ich selber bedanke mich für die unmittelbare Nähe in seiner Politik, die mir Gelegenheit gegeben hat zu lernen, wie man Widerstand leistet und wie man auch bei vielleicht körperlich nicht so idealen Voraussetzungen die Politik eines politischen Riesen gestalten kann.
Am liebsten beschäftige ich mich mit ...
… der Angel in der Hand oder mit der Hantel.
Meine größte Schwäche ist …
... eine große Klappe.
Und wichtig ist mir vor allem …
... Zufriedenheit, Ausgeglichenheit und die Familie.
Ein BMW zeichnet sich vor allem dadurch aus, ...
… dass er hervorragende Fahreigenschaften hat, eine hervorragende technische, elektronische Ausstattung, und ein BMW in meinem unmittelbaren Umfeld zeichnet sich dadurch aus, dass er gepanzert ist und dass er mir für ein ganz geringes Entgelt von politischen Freunden aus der Bundesrepublik leihweise zur Verfügung gestellt wurde.
Wenn ich morgens das ND aufschlage, dann denke ich ...
… das ist nicht mehr das ND, was auch ich 20 Jahre lang vor der Wende gelesen habe. Wir bedanken uns.
Das Interview führten am
vergangenen Freitag
RENE HEILIG
und
RAINER FUNKE
Peter-Michael Diestel. Innenminister der DDR. Seinem Lebenslauf ist seit Freitag anzufügen: Mitglied der CDU
Neues Deutschland, Mo. 06.08.1990, Jahrgang 45, Ausgabe 181