Interview mit Jan P(...), verantwortlicher Redakteur des "Neuen Forum Leipzig"
Was will und was kann das "Neue Forum"?
Leider ist uns die LVZ mit ihrem Interview zuvorgekommen - das ist das Los einer Zeitung, die nur alle 14 Tage erscheint. Trotzdem, wir möchten gern mehr über das "Neue Forum" wissen. In welcher Weise will das "Neue Forum" tätig werden?
Jan P(...): Die Ziele des "Neuen Forum" sind im Moment die einer Bewegung, d. h. vorrangig haben wir uns vorgenommen, die bisherigen Machtstrukturen in der DDR zu verändern. Das bedeutet: Durchsetzung von neuen und freien Wahlen, Presse- und Medienfreiheit, öffentliche Kontrolle der Sicherheitsorgane, Vorschläge zur Weiterführung der wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen Entwicklung. Das "Neue Forum" versucht, Menschen mit Konzeptionen, die bisher abgewiesen wurden, zu sammeln und damit zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR beizutragen. Das ist unsere Grundzielstellung.
Will das "Neue Forum" in den Parlamenten - z.B. Städte, Stadtbezirke oder Gemeinden - vertreten sein?
Jan P(...): Das ist eine sehr schwierige Frage, die ich so nicht beantworten kann. Im Moment ist noch nicht klar, wie dazu die Entscheidung an der Basis fallen wird. Ob das "Neue Forum" sich an Wahlen beteiligen soll oder ob es von Machtausübung und damit verbundener Gefahr der Korruption und Anpassung an die Macht ausgeschlossen sein soll, ist noch nicht entschieden. Damit auch nicht, ob wir als Sammlungsbewegung für alle Bürger, für alle Parteien, sozusagen als unabhängiges Kontrollorgan der Machtstrukturen wirken. Das ist die grundsätzliche Frage, die jetzt das "Neue Forum" klären muss.
Daran schließt sich die nächste Frage an. Was ist die Meinung des "Neuen Forum" zur Vertretung in der Volkskammer? Sollen in der Volkskammer nur Parteien oder auch Massenorganisationen vertreten sein?
Jan P(...): Es gibt dazu keinen autorisierten Beschluss der Basis. Ich kann also dazu nur meine eigene Meinung sagen. Ich denke, dass in der Volkskammer Parteien sowohl als Massenorganisationen vertreten sein müssen, da ja auf die Gesetze, die die Volkskammer als oberste Vertretung des Volkes beschließt, ständig Einfluss genommen werden muss. Ich denke, es ist eine große Gefahr, das parlamentarische System der BRD nachzuahmen - wo die Bürger einmal in vier Jahren die Vertreter wählen und dann keinen Einfluss mehr auf sie haben. Das "Neue Forum" sollte ständig seinen Einfluss auf die Volksvertretung ausüben, um die Ausarbeitung von Gesetzen zu beeinflussen. Das könnte die Hauptaufgabe des "Neuen Forum" sein, neben einer Vertretung im Parlament.
Möchte das "Neue Forum" auch im Staatsapparat mitarbeiten? Welche Aufgabenkreise würde es dabei als wichtig ansehen? Wie das LVZ-Interview besagt, wäre das "Neue Forum" bereit, in der Vorschlagskommission der Stadtverordnetenversammlung mitzuarbeiten?
Jan P(...): Ich war erstaunt, als ich das las. In der letzten Koordinationsversammlung im Bezirk, am 3. November, wurde beschlossen, zum jetzigen Zeitpunkt an der Vorschlagskommission nicht teilzunehmen. Es ist natürlich möglich, dass sich auf Grund der jetzigen Situation - wir haben die Möglichkeit erhalten, uns anzumelden - ein neuer Beschluss gefasst wird. Es gab drei Gründe, die Mitarbeit in den Staatsorganen erst einmal abzulehnen. Das war einmal die Nichtzulassung - das hat sich erledigt; das war die Gefahr der Vereinnahmung - d. h., die Gefahr, Fachleute aus der Decke des "Neuen Forum" abzuziehen und die Basis allein zu lassen; das war drittens: Wir müssen uns darauf konzentrieren, eigene Konzeptionen zu erarbeiten und nicht unsere Kräfte zu verzetteln.
Aber die Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat müssen wir entwickeln. Gleichberechtigte Teilnahme wird auf jeden Fall notwendig sein.
In der nächsten Zeit, und noch mehr in den nächsten Jahren, werden wir unsere Wirtschaft reformieren müssen. Wo sieht sich das "Neue Forum" in diesem Prozess?
Jan P(...): Das ist eine weitere schwierige Frage. Es gibt einige wenige grundsätzliche Erklärungen. Die Entscheidung über die Programmatik muss grundsätzlich durch Urabstimmung an der Basis getroffen werden. Was sich bis jetzt abzeichnet, ist eine Beibehaltung des sozialistischen Modells in der Volkswirtschaft. Das heisst, keine Monopolbildung, keine Privatisierung der Großbetriebe, der Banken, des Eigentums an Grund und Boden. Andererseits gibt es auch starke Tendenzen, eine Doktrin mit dem Titel "Ökologie vor Ökonomie" durchzusetzen. So utopisch das auch klingen mag, es müssen Konzepte dafür ausgearbeitet werden.
Grundsätzlich - wir sagen ja zum sozialistischen Eigentum. Aber dann auch wirklich gesellschaftliches Eigentum, Verwaltung der Betriebe durch die Arbeiter. Nicht Staatseigentum in der jetzigen Form.
Daran schließt sich die nächste Frage an. Will das "Neue Forum" Änderungen der Eigentumsverhältnisse in der DDR bewirken?
Jan P(...): Ich denke, das muss besonders bei den Kleinbetrieben von Betrieb zu Betrieb entschieden werden. Ich kann mir vorstellen, dass bei den Klein- und Mittelbetrieben aus Gründen der Rentabilität Privatisierungen möglich und nötig sein werden. Bei den wirklich entscheidenden Industrien, bei Banken, beim Eigentum an Grund und Boden ist Privatisierung nicht das Ziel des "Neuen Forum". Wir wollen das wirkliche gesellschaftliche Eigentum an diesen Produktionsmitteln herstellen, die wirkliche Kontrolle der Arbeiter über die Betriebe, die wirkliche Einflussnahme der Arbeiter auf die Betriebe, den Abbau des Staatsbürokratismus, der jetzt diese Betriebe faktisch verwaltet und in seinen Fängen hat.
Das "Neue Forum" will ja gerade versuchen, die Attraktivität des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu zeigen. Es will keine Rückkehr zum Kapitalismus, sondern versucht, nach vorn zu schauen.
Wie ist das Verhältnis zwischen Arbeitern und Intelligenz im "Neuen Forum"?
Jan P(...): Die Initiative zum "Neuen Forum" ging natürlich von intellektuellen Kreisen aus. Dabei ist es geradezu erstaunlich, was in Zentren, wo Arbeiter wohnen passiert. Ich komme aus Merseburg, und dort ist es so, dass sich viele Arbeiter der Leuna-Werke engagieren. Auch unsere Redaktion ist paritätisch zusammengesetzt. Von uns sechs sind zwei Lektoren, eine ist freischaffende Theaterwissenschaftlerin, zwei sind Arbeiter aus Leipziger Großbetrieben und ich arbeite im Krankenhaus. Es ist unser Anliegen, die Arbeiter in die wirkliche politische Arbeit dieses Landes wieder einzubeziehen.
Ein anderer Themenkomplex. Was sagen Sie zum Vorwurf der Staatsfeindlichkeit, wodurch wurde er Ihrer Meinung nach ausgelöst?
Jan P(...): Diesen Vorwurf können wir wohl als erledigt betrachten. Er stand übrigens nur in der ADN-Meldung nicht in der Begründung durch das Innenministerium. Er war wohl der damaligen Situation geschuldet, die sich für die DDR als äußerst kritisch herausgestellt hat. Im Nachhinein wird uns immer mehr bewusst, wie nahe wir damals einer Katastrophe waren. Ich denke, in diesen ganzen Prozess von Verhärtung und Erstarrung ist dieser Vorwurf einzuordnen, da er sich unserer Meinung nach auf keinen geltenden Verfassungsartikel stützt. Damals lag der Aufruf "Aufbruch 89" vor, der mit keinem Wort verfassungsfeindlich ist. Wir sehen in der Bestätigung der Anmeldung nun auch eine Rehabilitierung vorn Vorwurf der Staatsfeindlichkeit.
Eine andere Frage, vielleicht ist sie nebensächlich. Wird es beim "Neuen Forum" Mitgliedsbücher geben?
Jan P(...): Wir sind froh, wenn wir erst einmal alle Mitglieder erfassen können. Es ist also so, dass wir immer noch nicht den ganzen Zustrom an Mitgliedswünschen er fassen können. Unsere letzten Zahlen besagten für die Stadt Leipzig etwa 4 000 Mitglieder. Es ist aber wahrscheinlich noch nicht einmal die Hälfte, die wir bis jetzt erfasst haben. Wir machen uns also über Mitgliedsbücher noch keine Gedanken.
Sie haben vom Büro gesprochen, haben eine eigene Presse, wollen einen Verlag gründen - wie finanziert das das "Neue Forum"?
Jan P(...): Wir finanzieren uns grundsätzlich aus Spenden. Sie reißen allerdings mit dieser Frage ein sehr komplexes Thema an. Wie Sie wissen, waren wir bis vorgestern illegal. Wir hatten als illegale Organisation natürlich keinerlei Recht, von jemand Geld zu fordern. Es gibt z.B. Spendenpreise für unsere Zeitung. Wir haben 40 Pfennig vorgeschlagen - aber es gibt keinerlei feste Preise. Die Spenden allerdings gehen in unerwartet hohem Maße ein.
(Nach dem Interview tagte die Koordinierungsgruppe des "Neuen Forum" im Bezirk Leipzig und beschloss, auf Grund der veränderten Situation nun sowohl in der Vorschlagskommission des Bezirkstages als auch der Stadtverordnetenversammlung mitzuarbeiten.)
aus: rohrpost, 23/89, 27. November 1989, 28. Jahrgang, Organ der Leitung der BPO der SED, VEB Industrie- und Kraftwerksrohrleitungen Bitterfeld-Leitbetrieb Stammbetrieb und Betriebsteil Montagewerk Leipzig