Wir wollen keine Ja-Sage-Maschine

BZ-Gespräch mit dem Volkskammerabgeordneten Prof. Dr. Reich

Mit Professor Dr. Jens-Georg Reich, Abgeordneter der Volkskammer. Bündnis 90 / Grüne, sprach BZ nach der jüngsten Sitzung des Parlaments.

BZ: Wie sehen Sie Ihre Aufgaben als Opposition unter den Bedingungen der großen Koalition?

Prof. Reich: Ich gehöre zu jenen, die es sehr bedauerlich finden, dass die SPD in die Regierung gegangen ist. Das hängt auch mit einer prinzipiellen Erwägung zusammen - zu einer Demokratie gehört eine kräftige, starke Opposition, zur Rede die Gegenrede, die offene Auseinandersetzung. Ganz besonders bei den anstehenden politischen Problemen und Entwicklungen. Sie werden Konflikte bringen, es wird Leute geben, die sich benachteiligt fühlen, viele zu Recht. Und wenn die nicht im Parlament ihre Meinung vertreten sehen, dann gibt es außerparlamentarische Kampfmethoden.

BZ: Mit denen hat man hierzulande einige Erfahrungen gesammelt.

Prof. Reich: Ja, das finde ich auch ganz wichtig und richtig. Aber ich finde es gar nicht richtig, wenn sich das Parlament ausklinkt und zu einer Ja-Sagemaschine wird, wenn alle Fragen mit einer Dreiviertelmehrheit vom Tisch gewischt werden. Politische und wirtschaftliche Konflikte müssen im Parlament ausgetragen werden, das ist eine der wichtigsten Erfahrungen aus dem Zusammenbruch des vorigen Systems.

BZ: Ist die Verteilung der Kabinettsposten nicht auch ein Zeichen für das Kräfteverhältnis innerhalb der Koalitionsregierung?

Prof. Reich: Nein, das sehe ich nicht so, denn die Allianzparteien hatten ja ein Interesse daran, die SPD in die Regierung zu nehmen, Die Sozialdemokraten hätten also den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten und des Innenministers bekommen können. Denn wenn ich entscheidend die Prozesse mitgestalten will - wie die SPD - kann ich nicht das Außenministerium nehmen und auf das Innenministerium verzichten. Das Innenministerium ist der Bereich, den wirklich wir bewältigen müssen. Da hilft uns kein Schäuble. Der kennt die Verhältnisse nicht und hat eigentlich auch gar nicht reinzureden. Das Innenministerium ist das für die Erneuerung der Politik und der Justiz, für die Gerechtigkeit in diesem Land entscheidende Ministerium. Auch im Hinblick auf den Umgang mit der Stasi-Vergangenheit und die Arbeit der Bürgerkomitees in diesem Bereich. Das alles darf man nicht einer Sechs-Prozent-Partei überlassen.

BZ: Diese kleine Partei sorgt - allerdings nicht überraschend - für unqualifiziert-rüde Töne in der Volkskammer. Verträgt sich diese Tonlage mit Ihrem Demokratieverständnis und der großen Verantwortung dieses Hauses?

Prof. Reich: Im Prinzip ist eine lebhafte, leidenschaftliche Auseinandersetzung gut für das Parlament. Die Menschen verstehen dann, worum es wirklich geht, aber der Umgangston, bei aller Schärfe, muss fair und sachlich bleiben. Wer sich mit Stammtischreden profilieren will, gehört nicht ins Parlament. Seine Partei sollte einen anderen nachrücken lassen.

BZ: Der vom Runden Tisch ausgearbeitete Verfassungsentwurf, den Ihre Fraktion der Volkskammer vorstellte, geht von einem sehr modernen, nicht rein parlamentarischen Demokratieverständnis aus. Die Regierungsparteien stehen dem Entwurf mehrheitlich ablehnend War alle Arbeit umsonst?

Prof. Reich: Nein, so wie die Verfassung von 1848 zwar nie in Kraft gesetzt worden ist, so ist sie doch ein Ruhmesblatt in der deutschen Geschichte. Und schon deshalb sind wir verpflichtet, nach dieser erfolgreichen Revolution eine moderne Verfassung vorzulegen. Außerdem fällt es mir schwer zu glauben, dass die Regierung die nächste Zeit bis zur Einheit tatsächlich ohne Verfassung auskommt, da sie ja die alte ablehnt. Ein Staat ohne Grundgesetz ist nicht lebensfähig.

Mit einer eigenen, neuen Verfassung könnten wir außerdem mit der Bundesrepublik paritätisch verhandeln. Ich glaube, die Bürger der DDR haben es verdient, dass ihre Rechte im vereinigten Deutschland nicht in die Minderheit geraten. Darum wollen wir den Entwurf doch noch als Gesetzesvorlage im Parlament einbringen.

BZ: Sind Sie enttäuscht über die jetzige Entwicklung, die ja den Bürgerbewegungen nicht mehr viel Einfluss auf den Gang der Dinge einräumt?

Prof. Reich: Das Wort enttäuscht nehme ich nicht an. Ich muss, wenn ich mich zur Wahl stelle, jedes Ergebnis akzeptieren. Ich glaube nicht, dass jetzt das Ende der Bürgerbewegungen gekommen ist. Unsere Stärke liegt eher auf der kommunalen Ebene. Da sind Gruppen, die sich gegenseitig kennen, die über Erziehung oder Parks oder Müll, durch Sachthemen also, zueinander gefunden haben. Darum hoffe ich nun auf die Kommunalwahl.

Wir wollen keine Mehrheiten, Es reichte aus, wenn jene Leute von Bürgerbewegungen, die mit Sachverstand eine bestimmte Verantwortung im Rathaus übernehmen wollen, eine der drei Stimmen, die jeder Wähler hat, bekäme. Diese Wahl bietet die Chance, etwas mehr politisch zu denken und zu differenzieren, denn es geht hier ja nicht um die Wahl von drei Buchstaben, denen man eine Wunschvorstellung anhängen kann.

BZ: Vielleicht besteht jetzt eine gewisse Wahlmüdigkeit. Rechnen Sie mit einer Ähnlich hohen Wahlbeteiligung wie im März?

Prof. Reich: Da hoffe ich drauf. Es ist eine innere Verpflichtung jeder Frau und jedes Mannes bei uns. Schließlich will jeder, dass der Müll weggeschafft wird und das Krankenhaus funktioniert.

Wenn das möglich wäre, würde ich die Kommunalwahl auch lieber als Wahl von Personen oder Gruppen bzw. Teams sehen. Nicht so sehr als Wahl von Parteien. Eigentlich müsste die Kommunalwahl in den Kiezen und mit den Problemen der Kieze entschieden werden. Doch um überhaupt wählen zu können, brauchen wir wesentlich mehr Wahlhelfer, als sich bisher bereitgefunden haben. Unsere Bürgerbewegungen haben sehr viele entsandt, aber ich appelliere an die Regierungsparteien, nicht nur Stimmen abzusammeln, sondern auch in den Wahllokalen Engagement zu zeigen.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

Berliner Zeitung, Di. 24.04.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 95

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