Was will das NEUE FORUM?
Menschen zum gemeinsamen Handeln zusammenführen
OZ-Gespräch mit Pastor Joachim Gauck, NEUES FORUM Rostock
Herr Gauck, Programm und Statut des NEUEN FORUM sind beschlossen. Sie haben sich als Bürgerbewegung gegründet, wie geht es jetzt weiter in der praktischen Arbeit? Konkret gefragt, was hat der Bürger von dieser Bewegung zu erwarten?
Begleitung bei den Prozessen der Demokratisierung in ganz unterschiedlichen Bereichen. Ich denke, dass z.B. Mitbestimmung in Betrieben neu definiert werden muss. Die Gewerkschaftsbewegung muss sich neu gestalten. Dann Arbeit, auch Strukturen zu erarbeiten die das Neue, das in der Gesellschaft angebrochen ist, in lebendige Lebenseinheiten bringt. Es genügt nicht, das Neue formal anzuerkennen, wenn man gleichzeitig in Betrieben oder Instituten auf Personen und Machtstrukturen stößt, die durch das Alte etabliert worden sind.
Eine Zeitung mit einem alten Chefredakteur, eine Institut an der Universität mit einem Leiter, der durch die SED-Kaderpolitik dort hineingehievt worden ist, ein Kombinatsdirektor oder ein Abteilungsleiter, der durch eben diese Kaderpolitik hineingekommen ist, das sind Dauerprobleme, die immer noch existieren.
Die Bürgerinnen und Bürger können von uns erwarten, das wir mit ihnen gemeinsam gegen dieses Grundübel kämpfen. Wir ermutigen jeden, an seinem Arbeitsplatz diesen Kampf aufzunehmen und nicht aufzugeben.
Sie bekennen sich auch in Ihrem Statut dazu, Demokratie in allen Lebensbereichen durchsetzen zu wollen. Wie stellen Sie sich das praktisch vor?
Wir werden sicher publizistisch aktiver werden. Die Zeit der Demonstrationen wird ja irgendwann einmal zu Ende sein. Dazu werden wir sehr bald Medien haben müssen, in denen in einer neuen Weise der Meinungsstreit stattfindet. Der zweite Schritt wäre, dass wir Menschen erklären, ihr seid es, die die Kraft zur Veränderung haben oder die sie eben nicht anwenden. Wir werden Weiterbildungsangebote machen für politische Bildung. Viele von uns müssen lernen, sich durchzusetzen, Positionen zu beschreiben und zu behaupten, echte Kompromisse zu schließen, kurz: Demokratie einzuüben. Es gilt dabei, die eigene Verantwortlichkeit zu trainieren. Dabei sind unsere Basisgruppen und die Fachgruppen wichtig. Hier können konkrete kommunale Probleme angegangen bzw. Sachfragen (z. B. Ökologie, Recht, Wirtschaft) bearbeitet werden.
Differenzen gibt es offensichtlich in der Frage innerhalb den NEUEN FORUMS, ob die Übernahme des westlichen Modells der Marktwirtschaft und die schnelle Einheit Deutschlands möglich sind, oder ob eine eigenständige Perspektive für die DDR gefunden werden kann. Was glauben Sie, welcher Flügel sich durchsetzen wird?
Diese Differenzen gibt es offensichtlich. Das ist auch natürlich. Das NEUE FORUM ist eine Bürgerbewegung, in der breite Schichten des Volkes politisch zusammenarbeiten. Da muss es zu einer Ausdifferenzierung kommen. Und zwar geht es von linken Christdemokraten über Sozialdemokraten und Liberale bin hin in das grüne und alternative Lager. Und alle diese Menschen hatten ein gemeinsames Ziel, nämlich die Veränderung der Gesellschaft. Manche Veränderung ist erreicht, der revolutionäre Kampf hat wirkliche Erfolge gehabt. Nun geht es darum, die Zukunft zu konzipieren. Und eine Minderheit, so war's auf unserem Kongress in Berlin, ist der Ansicht, dass wir, frei von den Fesseln der SED, das sozialistische Gesellschaftsmodell für unser Land noch einmal mit Leben erfüllen könnten.
Gauben Sie persönlich das auch?
Nein, ich kann das nicht mehr glauben. Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, in denen ich versucht habe, diesem Konzept und seiner Nähe zu Christentum viel abzugewinnen. Es enthält den wichtigen Versuch, eine emanzipatorische Gesellschaft zu entwickeln. Aber ich glaube, dass wir auf dem Sektor zu sehr marxistischen Dogmen verhaftet waren. Und die Weiterentwicklung einer effektiven Ökonomie hat offensichtlich in unserm Bereich nicht stattgefunden. Wir vermuten, dass es nicht eine sozialistische und eine kapitalistische Wirtschaft gibt, sondern dass es Wirtschaftsgesetze gibt, die gelten. Diese kam man beachten oder man kann sie übersehen oder nur ein wenig beachten. Die Mehrheit bei uns sagt jetzt Ja zur Marktwirtschaft, und wir werden sie gestalten in der Form einer sozialen Marktwirtschaft. Das heisst: Wir wollen soziale Sicherheit und der Markt soll gelten, aber er soll nicht alles bestimmen, das wäre eine Grundaussage.
Das NEUE FORUM hat in sehr kurzes Zeit sehr viele Sympathisanten gefunden in allen Kreisen der Bevölkerung, in anderen Parteien und Bewegungen. Drückt sich das auch in den Mitgliederzahlen aus?
Das kann ich gegenwärtig nicht sagen, weil mir die Zahlen nicht geläufig sind. Das NEUE FORUM ist zur Zeit noch die mitgliedstärkste Gruppe der neuen Bewegungen, wenn wir das DDR-weit anschauen.
Sind Sie für weitere Mitglieder offen. Und wenn ja, welche Bedingungen müssen sie mitbringen?
Wir sind offen. Es gibt eine Aussage, dass man, wenn man ein politisches Mandat annimmt, nicht Mitglied einer Partei sein sollte, aber in unseren Kreisen befinden sich auch Mitglieder der verschiedensten Parteien. Wir hoffen, dass die Demokratisierungsprozesse, die ja mit sehr viel basisnaher Arbeit verbunden sind, Menschen ganz unterschiedlicher Position zu gemeinsamem Handeln vor Ort zusammenführen. Die neue Gesellschaft ist zu gestalten, und wir haben dem Chaos zu wehren. Wir wollen für die Leute, die hier leben, eine Zukunft bauen. Dazu müssen wir eben auch zusammenarbeiten.
Akzeptieren Sie auch Mitglieder oder auch ehemalige Mitglieder der SED, die ihrer Partei vielleicht aus Enttäuschung über die nicht eingeleitete Demokratisierung den Rücken gekehrt haben?
Ja, das ist der Fall. Wir werden auch aufgesucht von Mitglieder der ehemaligen SED. Wenn diese sich unseren Grundsätzen verpflichtet fühlen und an unseren Kampf um demokratische Erneuerung teilnehmen wollen und wenn sie dabei glaubwürdig sind, dann können sie bei uns mitarbeiten.
Wie stellen Sie sich die Regierbarkeit der DDR nach den nun noch vorgezogenen Wahlen vor? Ist das NEUE FORUM zur Regierungsverantwortung bereit?
Wir haben auf diese Frage ein deutliches JA gefunden. Das war nicht selbstverständlich, denn sehr viele Bürger sind auch der Meinung, 'Lasst die mal machen'. Aber wer heute politische Verantwortung in diesem Land übernehmen will, kann nicht zusehen, wie ein Land, in dem lebendige, hoffende Menschen wohnen, auf das Chaos zusteuert. Da sind wir auch herausgefordert, mit anzupacken und zu einer Zeit anzupacken, die eigentlich zu früh ist. Aber wir haben den Willen, für unser Land einzutreten, und im Interesse der Menschen dieses Landes sagen wir Ja zur Übernahme von Mitverantwortung.
Herr Gauck, der Wahlkampf hat begonnen. Sie bringen sich mit sehr viel Engagement für Ihre Bewegung, für das NEUE FORUM ein. Welche persönliche Vorstellungen haben Sie für Ihre Zukunft?
Ja, erst mal will ich sagen, was ich nicht so toll finde. Was alles über mich schon gesagt wird. Also ich soll entweder Bischof werden oder Oberbürgermeister. Und jemand will gehört haben, dass ich am Runden Tisch gesagt habe, ich wolle, wenn ich Schulrat geworden sei, keinen Lehrer, der in der SED ist, mehr an einer Schule sehen. Dazu muss ich einfach mal was sagen: Erstens bin ich noch nie am Runden Tisch gewesen, zweitens bin ich der Ansicht, dass wir diese Gesellschaft nur mit den Menschen aufbauen können, die wir haben und dazu gehören die Lehrer, die zu einem großen Teil in den SED waren. Und selbstverständlich sollen die Lehrer weiter ihrem Beruf nachgehen können. Es sei denn, es gibt begründet Einwände gegen ihre Weiterarbeit. Was ich wirklich möchte, ist, dass die Leitungsstrukturen in der Volksbildung gründlich verändert werden. Ich habe niemals etwas derartiges über Lehrer gesagt. Dann möchte ich auch nicht Bischof werden. Und obwohl sehr viele Rostocker das wünschen, habe ich auch nie gesagt, dass ich Oberbürgermeister werden möchte. Eins ist mir allerdings klar: In Zeiten wie diesen kann es sein, dass auch ein Pastor einmal für eine gewisse Zeit ein politisches Amt übernimmt. Ich möchte da in ähnlicher Weise wie ein Goldschmied oder ein Schornsteinfeger oder ein Bäcker oder ein Werktätiger aus dem Schiffbau mir von den Aufgaben des gesellschaftlichen Alltags dann die Notwendigkeit vorlegen lassen, zu diesem oder jenem politischem Amt ja oder nein zu sagen. Im Moment bin ich nicht festgelegt, auf welcher Ebene ich politisch arbeiten werde. Ich schließe aber nicht aus, dass es geschehen kann, dass ich von meiner Landeskirche Urlaub nehme und für eine bestimmte Zeit ein politisches Amt übernehme.
Mit Herrn Pastor Gauck sprach Gerd Spilker
aus: Ostsee-Zeitung, Nr. 31, 06.02.1990, 39. Jahrgang, Die Unabhängige im Norden