Bericht über die Republiksprechersitzung am 11.11. in Berlin
Wird das NEUE FORUM politische Verantwortung übernehmen?
Durch diese Frage wurde die äußerst heftige und kontroverse Debatte des Vormittags bestimmt. Das Meinungsspektrum reichte von der Beibehaltung des Grundgedankens einer Bürgerinitiative, die niemanden durch ein Statut oder Programm wegen seiner Parteizugehörigkeit ausschließt, bis hin zum Vorschlag, das NEUE FORUM zu einer Partei zu formieren. In der Diskussion wurde deutlich, dass die Frage nach der politischen Verantwortung durch das NEUE FORUM nicht mit 'entweder' Bürgerinitiative 'oder' Partei entschieden werden kann. Ist es nicht sogar so, dass wir im gesellschaftlichen Leben bereits mitten in der politischen Verantwortung stehen und nun gefordert sind, dazu Stellung zu beziehen, äußerte eine Rednerin.
Hans-Jochen Tschiche machte den Vorschlag, die Idee der breiten politischen Plattform beizubehalten und gleichzeitig innerhalb des NEUEN FORUM ein Bürgerkomitee zu bilden, das bereit ist, politische Mandate zu übernehmen und sich zur Wahl zu stellen. Einige Redner schlossen sich diesen Vorschlag an, gleichzeitig wurde danach gefragt, ob dies innerhalb der bestehenden Wahl- bzw. Vereinigungsgesetze möglich sei, oder ob man nicht besser zunächst die Veränderung derselben einfordern müsste.
Eine Vielzahl von Geschäftsanträgen stellte den weiteren Diskussionsgang in Frage. Ein mehrheitlicher Beschluss legte dann fest, zunächst über inhaltliche Aspekte der weiteren Entwicklung des NEUEN FORUM zu diskutieren, um daraus möglicherweise einen Konsens über den Rahmen zu entwickeln.
Die sich nach dem Mittagessen anschließenden Wortmeldungen zur inhaltlichen Problematik wurden als Anregungen für die Arbeit einer zu gründenden Programmkommission zur Kenntnis genommen.
Nun kamen wir wieder zur strittigen Frage des Vormittags. Zunächst bestand Einigkeit darüber, dass sich das NEUE FORUM bereits in politische Verantwortung hineingestellt sieht. Wir einigten uns auf eine Trendabstimmung, die mit großer Mehrheit feststellte: Wir als NEUES FORUM sind bereit, innerhalb der von uns übernommenen Verantwortung ein Mandat zu übernehmen bzw. wählbar zu werden. Dies unter der Voraussetzung, dass wir ein Programm und Statut erarbeiten, die das Grundanliegen des NEUEN FORUM, eine Bürgerinitiative verschiedenster demokratischer Interessengruppen zu sein, berücksichtigt. Die dabei notwendigen Formen werden in der Auseinandersetzung mit dem angestrebten neuen Wahl- bzw. Vereinigungsgesetz präzisiert.
Der folgende Tagesordnungspunkt ging auf Fragen der Strukturen und auf Finanzierungsmodelle ein. Eine zu bildende Kommission für Statut und Strukturen soll dies und weitere Vorschläge als Anregung für ihre Arbeit benutzen.
Während einer Pause wählten die Sprecher der Bezirke aus ihren Reihen jeweils einen Vertreter für die Programmkommission und für die Statut/Struktur-Kommission. Weiter wurde vorgeschlagen einen vorläufigen Sprecherrat des Republikforum zu wählen, der dieses bis zum Gründungsakt nach außen vertritt und die Republiksprecherratssitzungen vorbereitet. Der Sprecherrat soll aus
- 15 gewählten Vertretern der jeweiligen Bezirke,
- 5 Vertretern der Initiativgruppe (Erstunterzeichner)
- 5 weiteren Plenumsmitgliedern, unabhängig aus welchem Bezirk, gebildet werden.
Aus unserem Bezirk wurden folgende Vertreter bestimmt:
- für den Sprecherrat des Republikforum Hans-Jochen Tschiche (Bezirksvertreter), Dr. Erika Drees (Initiativgruppe), Christine Schulz (Plenumsmitglied)
- für die Programmkommission Jochen Brothuhn
- für die Statut/Struktur-Kommission Reiner Krauße
Bei der folgenden Wahl wurde der verhältnismäßig hohe Anteil von Männern kritisiert. Der Vorschlag, fünf als Plenumsmitglieder für den Sprecherrat zu wählen, erweckte berechtigterweise den Eindruck einer Alibifunktion. Für die bevorstehenden Wahlen auf Kreis- und Bezirksebene sollte dies in Vorfeld bedacht werden.
In weiteren Verlauf wurde für das nächste Treffen der 6.1.1990 in Leipzig beschlossen. Zum Ende der Sitzung überbrachten Udo Knapp und Ralf Vöchs von der Bundestagsfraktion der Grünen herzliche Grüße und eine Einladung zum Perspektivenkongress in Saarbrücken. Michael Arnold, Leipzig, und Katrin Eigenfeld, Halle, werden von uns dorthin entsandt. Zu einer Tagung des Demokratischen Forum Ungarns in Dezember in Budapest reisen die 15 Bezirksvertreter des Sprecherrates. Grüße kamen auch aus dem Europaparlament der Grünen.
Wichtig erscheint mir für unser politisches Handeln in den Regionen die abschließende Warnung Rolf Henrichs, uns in der guten Absicht, Verantwortung zu übernehmen, nicht von staatlichen Stellen vereinnahmen zu lassen. Wörtlich: "Dies bedeutet nicht, dass wir hier Verantwortung für den Trümmerhaufen übernehmen, auf dem wir, zumindestens finanziell, sitzen."
reiner krauße
Kurze Bemerkungen - Statuierungsschritte
Spektakuläre Ereignisse: Reisefreiheit, Wahlversprechen, sich überschlagende Freiheitsversprechungen. Wir vollen den Willen der Machthaber zur Besserung ernst nehmen. Aber bei genaueren Hinsehen fehlt bisher die Unumkehrbarkeit des 'Gewährten'.
Das NEUE FORUM unterliegt den Verordnungs- und Gesetzeswust: wir müssen uns in drei Monaten das Statut erarbeiten, um staatlich anerkannt zu werden. Machen wir uns daran, es ist wenig Zeit.
Am 11. November fand in Berlin das 2. Treffen des vorläufigen DDR-Sprecherrates statt. Dort besteht seitdem eine Kommission "Struktur/Statut" und eine für "Programmvorschläge". Für unseren Bezirk Magdeburg sind dafür gewählt: Struktur/Statut: Reiner Krauße; Programmvertreter: Jochen Brothuhn, beide aus Magdeburg.
Am 25. 11. müssen diese gewählten Vertreter unsere Diskussionsergebnisse für die Struktur- und Programmgestaltung bereits in Berlin einbringen. Deshalb müssen wir Eure Vorschläge bis 21.11. in der Hegelstraße 18, Magdeburg, 3010, auf dem Tisch haben. An diesem Tag finden sich dort um 19 Uhr Vertreter aus den Kreisen ein, sie in den entsprechenden bezirklichen Kommissionen mitarbeiten wollen. Zu diesem Treffen rufen wir hiermit auf. Auch die Gedanken einzelner sind vonnöten!
Bisher blieben wir in unseren Zielvorstellungen vollkommen verbunden mit den Willen der vielen Menschen, die Veränderungen wünschten. Die Offenheit in ein Statut zu zwängen, wird schwierig sein, wir wollen sie aber zu erhalten suchen. Es gilt zu formulieren, wie es voran gehen soll mit der Struktur des NEUEN FORUM, seinen Zielen in unserem Land und gemeinsam mit demokratischen Kräften. Vorarbeit dazu werden sicher folgende Treffen leisten:
1. Die Mitglieder, die ihre Anschrift als Kontaktadresse für die Magdeburger zur Verfügung gestellt haben, treffen sich am Donnerstag, 16.11., um 19 Uhr in der St.-Michael-Gemeinde (gegenüber Kristallpalast, Eingang Helmholtzstraße). Hier wollen wir Kandidaten für den Stadtsprecherrat aufstellen.
2. Derzeit bemühen wir uns, die Stadthalle für die 1. Vollversammlung aller Magdeburger Unterzeichner des Gründungsaufrufs des NEUEN FORUM zu mieten. Ein wichtiger Tagesordnungspunkt auf dieser für Ende November geplanten Zusammenkunft ist die Wahl des Stadtsprecherrates.
Und vergesst nicht das Volksbegehren zur Änderung des Artikel 1 der bestehenden Verfassung. Die SED-ZK-Reden sagen nicht, dass ein Änderungsvorschlag von dieser Partei eingebracht wird. Tragt Euch ein!
ulrich rogge
Koordinierung der Fachforen
Als Kontakt- und Koordinierungsstelle für alle Fachforen des NEUEN FORUM in der Stadt und im Bezirk Magdeburg arbeitet ab sofort Leonhard Landgraf, Hecklinger Straße 5, 3014 Magdeburg (Café "Flair"). Zur Abstimmung über die weitere Arbeit sollten sich alle Kontaktleute und Sprecher bereits bestehender Gruppen möglichst schnell dort melden (montags ab 16.30 Uhr). Eine bezirkliche Hauptversammlung der Fachforen wird vorbereitet.
renate wähnelt
Erstes Bezirkssprechertreffen in Magdeburg
Stattgefunden hat es am Mittwoch, den 8.11. abends in den zu diesem Zwecke gemieteten Räumen der Hoffnungsgemeinde in Magdeburg-Nord. Nach berichten über den Stand der Arbeit des NEUEN FORUM aus allen Kreisen wurden sieben vorläufige Sprecher in den ebenfalls vorläufigen Sprecherrat der Republik gewählt. Es kam dann zu einer zum Teil kontroversen Diskussion über Ziele und anstehende Aufgaben des NEUEN FORUM. Dabei wurde deutlich, dass der Charakter des NEUEN FORUM als politische Plattform erhalten werden sollte, gleichzeitig aber durch programmatische Aussagen auch die Übernahme von politischer Verantwortung bei anstehenden Neuwahlen vorzubereiten ist.
ulrich rogge
Aufruf zur Demonstration
Das NEUE FORUM und die SDP rufen am 2. Dezember um 14.00 Uhr zu einer Kundgebung auf dem Domplatz auf.
Es gilt jetzt zu demonstrieren:
- für eine Änderung des Artikel 1 der Verfassung, um den Alleinherrschaftsanspruch der SED zu brechen
- für die Durchführung von freien Wahlen
Euer Kommen wird unseren Forderungen Nachdruck verleihen.
Denn es war der Druck der Demonstrationen neben dem nicht abreißenden Ausreisestrom, die die Veränderungen in unserem Land in Gang gebracht haben.
ingo schmidt
Wahlbetrug Mai 89 - sofort untersuchen!
Volkstimme 9.11.89: "Eine Reihe von Abgeordneten verwahrte sich entschieden gegen den Vorwurf, durch irgendwelche Manipulationen zu ihrem Mandat gekommen zu sein."
Im Kontaktbüro des NEUEN FORUM ist eine 36seitige Dokumentation über Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen 89 sowie den Umgang mit Eingaben zu diesem Thema einsehbar.
Wir fordern eine unabhängige Untersuchungskommission mit Vertretern des NEUEN FORUM und anderer Initiativgruppen!
Sie soll sofort gebildet werden und ihre Arbeit aufnehmen.
Alle Magdeburger, die uns wichtige Mitteilungen zu diesem Thema machen können, bitten wir, mit uns zusammenzuarbeiten. Wahlfälschung ist laut § 211 des StGB der DDR eine kriminelle Handlung.
thomas etrenne
aus: Das Neue Forum - Selbstportrait einer Bürgerbewegung, Demokratiebewegung in der DDR, Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, DGB-Bundesvorstand, Abt. gewerkschaftliche Bildung, ohne Ort und Datum