KOMMENTAR
Lauwarme Parlamentarier
Einige Parlamentarier der Bürgerbewegungen scheinen den politischen Kompass verloren zu haben. Sie schwanken zwischen grüner und sozialdemokratischer Partei hin und her, ohne Stolz und ohne Zorn. Sie berechnen jede noch so komplizierte Kandidaturvariante bei Parteien, aber sie vergessen die Herkunft ihrer Mandate. Sie übersehen die Landtagswahlen und starren wie gebannt auf den gesamtdeutschen Wahltermin, den keiner von ihnen will.
Der deutsche Einigungsprozess wird noch lange im Konflikt mit der Basisdemokratie liegen, die ihn hervorgebracht hat. Nicht zufällig waren es Bürgerbewegungen, die die Umwälzungen zunächst in der DDR einleiteten. Das Zeitalter der Parteien und hoch ausgeformten Ideologien ist vorbei. Das Zeitalter gesellschaftlicher Konflikte aber keineswegs. Die deutsche Einigung kann auf dem kleinsten bürokratischen Nenner, auf dem sie zur Zeit stattfindet, nicht stehen bleiben. Sie hat Revolution und Konservatismus, soziale Spannung und gesellschaftliche Erstarrung, Basisdemokratie und Parteimüdigkeit, sie hat arm und reich, sie hat Wärme und Kälte zu vereinigen. In dem historischen Augenblick, da alles auf die Selbständigkeit der Bürgerbewegungen ankommt, wollen unsere Abgeordneten unter - gleich mehrere - Parteidächer flüchten. Von einer undemokratischen 5 % - Hürde lassen sie sich ihr ganzes Verhalten vorschreiben. Haben wir uns früher von undemokratischen Regeln das Verhaften vorschreiben lassen? Niemand scheint die Kraft zu haben, die Landtagswahlen in den Vordergrund zu rücken und ein selbständiges Antreten des NEUEN FORUM zu befürworten. Im NEUEN FORUM können alle Bürgerinitiativen bei voller Selbständigkeit zusammenarbeiten. Es ist als Bündnis gegründet worden, hat die offenste Struktur und verkörpert den Aufbruch vom Herbst, der parteiübergreifend war.
Das allein kann im politischen Tageskampf die Bürgerbewegungen stärken. Gesamtdeutsche Wahlmodalitäten, die eine in den Landesparlamenten vertretene Bürgerbewegung mit dem Ausschluss bedrohen, verdienen dann den Aufruf zum Wahlboykott. Nur so wird die Unverzichtbarkeit der Basisdemokratie demonstriert. Ein Ausweichen unserer Abgeordneten zu den Grünen oder gar zur Schröder- und Meckel-SPD bricht der Idee direkter Demokratie in aller Öffentlichkeit die Spitze ab. Im Parlament sollten die Bürgerbewegungen „einen Fuß" haben, aber nicht ihren Geist aufgehen. Die politischen Aufgaben sind doch klar. Die Bürgerbewegungen verkörpern die neue und selbständige Politikfähigkeit der Bevölkerung der DDR, sie haben, nein Sie sind von allen politischen Kräften die einzige neue Basis - sie bleiben deshalb auf lange Sicht die Träger der Demokratisierung. Sie können soziale Probleme sofort und über parteipolitische Bindungen hinaus sachgerecht artikulieren; sie sind durch ihre Erfahrung mit der Gewaltlosigkeit die einzige Kraft, die gegen die in allen Ecken der Gesellschaft nistende Gewaltbereitschaft noch einen Dialog aufbauen kann; sie sind die einzige Kraft, die unbefangen auf der Entmilitarisierung Deutschlands besteht. Es zeugt von politischem Kleinmut, wenn diese großen Impulse verwirrt und zerstückelt werden durch Lossagen von der eigenen Basis und ausgeklügelte parlamentarische Trittbrettfahrereien. Ganz anders als es die Täter meinen, leitet sie hier der Wille zur Ohnmacht.
die andere, Nr. 27, Mi. 25.07.1990