Unabhängige Gewerkschaften

Stachel im Fleisch . . .

"Welche Vorteile bietet ihr uns?" - "Welchen Schutz haben wir bei euch?" - So oder ähnlich lauteten die Fragen der Kollegen aus zumeist Berliner Betrieben, wenn sie in unsere Kontaktbüros kamen. Die Fragen nach einer offiziellen Gründung häuften sich. Im Januar artikulierte sich die Unzufriedenheit mit dem unfähigen Gewerkschaftsapparat FDGB massiv. Es gab n diesem Monat so viele Streiks wie nie zuvor in der DDR-Geschichte.

Warum also haben wir nicht eine unabhängige Gewerkschaft gegründet? Und wer sind "wir"? "Wir" - das sind ein Häuflein von 13 Arbeitern, Ingenieuren, Studenten und Wissenschaftlern, die sich im Oktober '89 zu einer "Initiative für unabhängige Gewerkschaften" zusammengeschlossen hatten. Ihr Ziel: Kontakte zwischen den Kollegen herzustellen, die sich außerhalb des FDGB formieren; Informationen darüber verbreiten.

60 bis 80 Leute abendlich in den Kontaktbüros waren keine Seltenheit. Sie diskutierten über West- und Ostkapital, über gewerkschaftliche Mitbestimmung, über Betriebsräte. Das Interesse war groß. Viele erklärten ihre Bereitschaft, in eine neue Gewerkschaft einzutreten, wenn wir "mehr oder genau soviel zu bieten hätten, wie der alte Apparat . . .". Da sahen wir uns in einem Dilemma. Denn wir waren nicht angetreten, den Lohnabhängigen einen neuen (selbstredend besseren) Apparat überzustülpen. Die einzige Chance zur Alternative besteht in der aktiven gewerkschaftlichen Selbstorganisation an der Basis. Hier müssen praktische Erfahrungen mit Aufbau und Struktur einer neuen Organisation gemacht werden, die im Ergebnis immer besser als jeder "von oben" gemachte Vorschlag ist.

Sind wir schon gescheitert? Sicher, es ist schwer, sich außerhalb der Organisation zu sammeln. Es gibt keine Erfahrungen, der forcierte Aufmarsch des Kapitals ließ viele resignieren. Viele meinen auch, nach den Kontakten des FDGB zum DGB sei alles gelaufen. Ist damit aber schon die gewerkschaftliche Basisbewegung ad absurdum geführt? Wir meinen nicht. Wir meinen: Gewerkschaftsopposition muss sein. Sie ist der Stachel im Fleisch des Apparates, sie stellt vieles in Frage und befruchtet die Entwicklung.

Renate Hürtgen, Berlin

Tribüne, Fr. 30.03.1990

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