Wir haben ein Defizit

Interview mit Wolfgang Templin, IFM

die andere: Ist das Bündnis 90 inzwischen mehr als ein Wahlbündnis?

Templin: In meinen Augen eindeutig ja. Ich arbeite ja für die Volkskammerfraktion, und da muss ich sagen, dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Teile des Bündnisses und der Grünen weit über organisatorische und pragmatische Absprachen hinausgeht, schon nach so kurzer Zeit. In allen Diskussionen zeigt sich, dass wir in unserem Politikverständnis, in unseren Entwicklungsvorstellungen und auch in der Mentalität große Gemeinsamkeiten haben, was wohl daher kommt, dass die meisten von uns aus der in der DDR gewachsenen Oppositions-Bürgerrechtsbewegung hervorgegangen sind. Natürlich gibt es große Probleme auf allen Ebenen des Bündnisses - die gemeinsamen perspektivischen Möglichkeiten wurden bisher kaum andiskutiert . . .

die andere: . . . also eine Gefühlsgemeinschaft?

Templin: Quatsch, das zeigt sich natürlich auch in Sachfragen, zum Beispiel in unserer Beurteilung des Staatsvertrages.

die andere: Nun ist das Bündnis in der Volkskammerfraktion und das in den einzelnen Regionen kaum miteinander zu vergleichen . . .

Templin: Richtig, es gibt eine Differenz zwischen dem Bedarf an Gemeinsamkeiten und gemeinsamer Kommunikation und dem, was ist. Wir haben ein Defizit. Wie so oft bei Linken, ist die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis etwas schwierig. Die Frage ist für mich - wie schnell und gründlich kann ein historisches Defizit aufgearbeitet werden, in welchem Tempo können sich politische Lernprozesse überhaupt vollziehen? Nehmen wir ein Beispiel. Im Herbst wurde euphorisch gesagt: Das Volk hat sich endlich zum Souverän gemacht, es wird jetzt die Demokratie gestalten. Und nun sind viele über das Volk enttäuscht und sehen das Vierte Reich heraufdämmern. Beides ist eine Verzerrung, denn weder der Aufbruch des Herbstes noch die Wahlentscheidung im März konnten mehr sein als erste tastende Schritte aus der alten Entmündigung. Eine demokratische Praxis muss überhaupt erst entwickelt werden. Wie gestaltet sich Demokratie Da sind Klärungsprozesse nötig, übrigens nicht nur beim Bündnis, sondern auch bei den sogenannten "Wendeparteien".

die andere: Wäre da nicht eine Tagung oder gar ein Kongress nötig?

Templin: Das wird sicher kommen. aber viel wichtiger ist doch, dass die schon bestehende Zusammenarbeit ausgebaut wird, z. B. zwischen den einzelnen Projektgruppen. Die Kommunikation innerhalb der Bürgerbewegungen und zwischen ihnen muss verbessert werden. Das administrativ zu machen, wäre ein ziemlicher Kampf. Wir stehen unter Zeitdruck, ja, aber wir können nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen, Bürgerbewegungen arbeiten in erster Linie themenbezogen, in den Kommunen wird das dann immer differenzierter. Aber es gibt deswegen keinen Bruch, weil wir keinen prinzipiell unterschiedlichen Anspruch haben. So unterschiedlich die einzelnen Bewegungen und Projekte auch sein mögen sie gehören doch zusammen.

die andere: Wirkt es nicht sprengend, wenn in einigen Kommunen Koalitionen mit der CDU eingegangen werden und in anderen dies strikt abgelehnt wird?

Templin: Ich persönlich beurteile Koalitionen mit der CDU skeptisch. Aber die Entscheidung für eine Zusammenarbeit kann um so pragmatischer sein, je weiter wir in die kommunale Ebene hineinkommen. Die Entscheidung für die Koalition in solchen Städten wie Magdeburg oder Potsdam hat natürlich politische Bedeutung, wenn die Berliner Entscheidung anders gefallen ist. Aber es wäre doch viel fataler, wenn man versuchen würde, die Berliner Entscheidung, nicht mit der CDU in eine Koalition zu gehen, dirigistisch durchzusetzen.

die andere: Wie hältst du's mit der CDU, ist die eine Frage. Wie stehst du zur PDS ist aber auch eine Frage, in der das Bündnis nicht gerade einheitlich ist . . .

Templin: Das ist zum einen ein Problem der Leute, die sich mit der PDS beschäftigen, aber auch eins der PDS selbst. Die Hoffnung, das könnte doch schon eine neue Partei des demokratischen Sozialismus sein, halte ich nicht für realistisch. Der Druck des sogenannten demokratischen Zentralismus war ja nicht ein Druck nur von außen, sondern tief in die Gesellschaft eingegraben. Die PDS stellt heute eine ganz besondere Mischung dar aus Cleverness, Erneuerungswillen, Konservatismus und Lethargie. In der Partei sitzen Leute, denen es um den Erhalt ihrer Pfründe oder auch nur ihrer Lebenslüge geht, mit anderen zusammen, die nicht mit der Herrschaftspraxis verbunden sind, mit linken Idealisten, die einen echten Erneuerungswillen haben. Ich will der Partei ja keine Ratschläge geben, aber für den Anspruch, den sie jetzt erhebt, wäre nach meiner Meinung die Selbstauflösung der bessere Weg gewesen, um einen Neuanfang zu ermöglichen.

die andere: Das scheinen aber nicht alle so zu sehen.

Templin: Sie erliegen einer Selbsttäuschung. Die kommt aus der Enttäuschung über den Herbst, aber auch aus der Auffassung, Partei und DDR Gesellschaft hätten emanzipatorische Potenzen gehabt, die nur durch die Praxis deformiert, überlagert und entstellt wurden. Hier liegt die Wurzel der Selbsttäuschung. Im Westen haben die Linken sich längst eingestanden, dass die staatssozialistischen Experimente schon im Kern Emanzipation nicht zugelassen, sondern kaputt gemacht haben - sie konnten nur im Gegensatz zum System wachsen. Wir müssen nun Demokratie und alles, was damit verbunden ist, erst erlernen. Die Linken hatten ein instrumentelles Verhältnis zur Demokratie, was sich zum Beispiel in der säuberlichen Trennung zwischen bürgerlicher Demokratie und ihrer "höheren Form", der sozialistischen Demokratie ausdrückte. Da haben wir auf dem Gebiet der DDR wahrlich einen Nachholebedarf. Die politische Artikulationsfähigkeit, das zivile Austragen von Konflikten, die Entwicklung von Gewaltenteilung - das alles muss erst wirklich erlernt werden. Man muss akzeptieren, dass die Gesellschaft kein festgelegtes Entwicklungsziel hat, sondern offen ist. In dieser Aufgabe verschwindet nicht links und rechts, aber es bekommt andere Dimensionen und kann z. B. nicht mehr ausschließlich klassentheoretisch behandelt werden.

die andere: Aber die Linken fürchten sich eben vor einer Entwicklung nach rechts.

Templin: Nicht ohne Grund, aber dabei kommt es leider zu ungeheuerlichen Geschichtskonstruktionen und falschen historischen Analogien. Solche Schlagworte wie "Einheit gegen Rechts" oder die Rede vom drohenden Vierten Reich wecken Gespenster der Zeit vor 1933, was absurd und verhängnisvoll ist, weil es uns in die alten Lagerstellungen zurücktreibt, denen wir entwachsen sein sollten. Ich habe nach meinen eigenen Erfahrungen bestimmt kein verklärtes Bild von der CDU und der heutigen Bundesregierung, aber in dieser Gesellschaft ist nach dem Kriege, v. a. durch die Protestbewegung der Studenten 1968, die neuen sozialen Bewegungen und auch durch die Grünen ein Maß an politischer Kultur, rechtsstaatlichem Bewusstsein und Toleranz und Offenheit entstanden, das für die DDR noch aussteht. Es gibt die Chance, auf demokratischer Grundlage - ohne infantile pseudoterroristische Träume von bewaffnetem Kampf - gegen nationalistische Borniertheit und wirkliche Rechtstendenzen anzugehen. Wir stehen wirklich nicht vor einer neuen Machtergreifung.

die andere: Aber in den Bürgerbewegungen gibt es ein starkes linkes Element . . .

Templin: . . . richtig, das gehört dort ebenso hinein wie andere Orientierungen, die sich von der Parteifixiertheit und militant-dogmatischen Anschauungen verabschiedet haben. Uns gemeinsam ist die Arbeit für eine sozial gerechte, solidarische Gesellschaft, die ökologische Selbstbegrenzung und produktive Kooperation an die Stelle schrankenloser Konkurrenz setzt. Wenn das der Kern linker Identität ist, war der Weg über den ungeheuren Industrialismus, formierte Großparteien und bürokratische Versklavung der Gesellschaft im bisherigen Realsozialismus der ungeeignetste.

die andere: Wir danken für das Gespräch.

(Es interviewten Rupert Schröter und Peter Grimm)

Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 21, Fr. 15.06.1990

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