Paritätische Beteiligung am KSZE-Prozess

Vom 13. bis 15. November fand in Berlin die erste KSZE der Frauen statt/Die Teilnehmerinnen aus mehr als 35 (außer-)europäischen Ländern verfassten eine umfangreiche Proklamation/Darin wird u.a. ein KSZE-Frauenrat und eine offizielle KSZE der Frauen gefordert/Hier eine gekürzte Fassung

Die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen in Berlin vom 13. bis 15. November 1990 fordern [...] ihre Regierungen auf, zur Stärkung und Erweiterung des Helsinki-Prozesses, die in dieser Proklamation formulierten Forderungen der KSZE der Frauen in das Arbeitsprogramm der Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa aufzunehmen.

Da die Interessen von Frauen im Bereich Sicherheit, Menschenrechte, Wirtschaftsentwicklung und Umweltpolitik bis jetzt nicht aufgenommen sind, obwohl sich Frauen seit Jahrhunderten für Frauenrechte einsetzen, und da die Struktur der KSZE als Regierungskonferenz eine angemessene Vertretung der Interessen von Frauen nicht gewährleistet, fordern die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen in Berlin:

1. die paritätische Beteiligung von Frauen am KSZE-Prozess;

2. die paritätische Beteiligung von nicht-profitorientierten Nichtregierungsorganisationen am KSZE-Prozess und seinen zukünftigen Institutionen auf allen Ebenen;

3. ein Verbandsvertretungsrecht von Frauen für Fraueninteressen im Rahmen der KSZE;

4. ein Initiativrecht der am KSZE-Prozess beteiligten Frauen in allen Fragen;

5. die auf dem Pariser KSZE-Gipfel neu zu gründende Europäische Versammlung der KSZE muss paritätisch von Frauen und Männern der nationalen Parlamente besetzt werden; 6. angesichts der bevorstehenden Ministerratstagung: Der Ministerrat braucht einen KSZE-Frauenrat.

Um eine solche Umorientierung des KSZE-Prozesses einzuleiten, fordern die Teilnehmerinnen ihre Regierungen auf, noch vor der KSZE 1992 eine KSZE der Frauen als Folgekonferenz zu organisieren, an der Regierungsvertreterinnen und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen paritätisch zu beteiligen sind und die folgende Aufgaben hat:

a) die Umstrukturierung des KSZE-Prozesses im Sinne der oben genannten sechs Forderungen einzuleiten,

b) die Aufgabenstellung des KSZE-Prozesses im Sinne der folgenden Forderungen, die in den drei Körben der KSZE der Frauen formuliert worden sind, neu zu definieren.

Korb I: Menschenrechte - Frauenrechte - Demokratieentwicklung

Die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen stellen fest, dass [...]

B. keiner der europäischen Nationalstaaten die Gleichberechtigung aller Menschen innerhalb seiner Grenzen aufweist, sondern ungleiche Chancen zwischen Männern und Frauen, ungleiche Rechte zwischen In- und AusländerInnen, zwischen dominanten Kulturen und ethnischen Minderheiten, zwischen arm und reich unsere Gesellschaften strukturieren;

C. im Zuge des europäischen Umbruchprozesses Sexismus, Frauenfeindlichkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassismus und Chauvinismus anwachsen;

D. die durch wirtschaftliche Not und Nationalitätenkonflikte hervorgerufenen Migrationsbewegungen für Frauen besondere Probleme und Diskriminierungen mit sich bringen; [...]

G. die zunehmende Praxis vieler KSZE-Staaten, den Zuzug von Asylsuchenden durch eine restriktive Visapolitik abzuwehren und das Asylrecht durch Verfassungs- oder Verfahrensänderungen einzuschränken, im Widerspruch steht zur Verpflichtung Europas für ein humanes Asylrecht;

H. alltäglich Frauen und Mädchen weltweit durch Männergewalt bedroht, betroffen und verletzt sind; [...]

J. Frauen dazu gedrängt werden, Heterosexualität als einzige mögliche Lebensweise anzusehen, und dass Heirat und Mutterschaft zur Voraussetzung dafür gemacht werden, als echte Frauen betrachtet zu werden;

K. Frauen oft mit fragwürdigen Methoden zur Sterilisation oder dem Gebrauch von gesundheitsschädlichen Verhütungsmitteln gedrängt werden;

L. Frauen die Hauptbetroffenen der technokratischen Normen und Praktiken im Bereich der neuen Fortpflanzungstechniken und Genmanipulation sind; [...]

O. Frauen im Hinblick auf die Verteilung von materiellen Ressourcen und im Hinblick auf gesellschaftliche Macht- und Einflussmöglichkeiten diskriminiert werden;

Deshalb fordern die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen,

1. dass die vielfältigen Formen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen wie: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, Sextourismus, Frauenhandel, sexuelle Belästigung, Misshandlung, Beschneidung, die Degradierung von Frauen durch pornographische Darstellungen in Wort und Bild, in Medien und Werbung, auf allen Ebenen und vieles mehr, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet und zum vorrangigen Gegenstand nationaler und internationaler Politik wird; [...]

3. Mittel zur Verfügung gestellt werden, um die Opfer von Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu unterstützen; [...]

5. Lesbische Lebensweisen als weibliche Lebensweisen volle Anerkennung finden müssen;

6. ein Grundrecht von Frauen, sich ohne Fremdbestimmung und Gewalt und unter humanen Bedingungen für oder gegen eine Schwangerschaft sowie für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden und kostenlose, kompetente Aufklärung und Beratung auf freiwilliger Basis, kostenlose, unschädliche Verhütungsmittel für Männer und Frauen und die volle Information über Risiken von Verhütungsmitteln und neuen Fortpflanzungstechniken; [...]

8. für alle Frauen und Männer, die ihren Lebensmittelpunkt in einem der KSZE-Staaten haben, die gleichen zivilen und politischen, aber auch wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gelten;

9. ein eigenständiges, familienunabhängiges Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis für Migrantinnen;

10. eine Erweiterung der Kriterien für die Anerkennung als Flüchtling entsprechend der veränderten Lage, die gekennzeichnet ist durch ökologische Katastrophen, Nationalitätenkämpfe, Pogromstimmung gegen jüdische Frauen, Männer und Kinder, Rassismus, Verfolgung von Minderheiten, steigender Fundamentalismus, Hunger und extreme Armut, Verweigerung sozialer Chancengleichheit, wobei Frauen immer nochmals in besonderer Weise betroffen sind;

11. Gewalt gegen Frauen und die Verfolgung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Identität als asylbegründend anerkannt werden müssen; [...]

Korb II: Sicherheit - Abrüstung - Zusammenarbeit

Die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen stellen fest, dass

A. durch die Änderung der politischen Verhältnisse in Europa Militär und Rüstung von einem großen Teil der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr mit dem militärischen Aggressionspotential der jeweils anderen Seite begründet werden können;

B. es damit höchste Zeit ist, von an militärischer Gewalt und konfrontativen Konfliktlösungen orientierten sicherheitspolitischen Vorstellungen Abschied zu nehmen;

C. einige Staaten sich offensichtlich die Option des Atomwaffeneinsatzes offenhalten, da nach wie vor Atomtests durchgeführt werden;

D. in den KSZE-Staaten weiterhin neue Waffensysteme entwickelt werden und trotz internationaler Ächtung, weiterhin chemische Waffen produziert und verkauft werden und dass sie ebenso wenig die durch chemische Waffen bereits existierende Umweltverschmutzung erforschen;

E. trotz der Beendigung der Ost-/Westkonfrontation die KSZE-Teilnehmerstaaten es versäumt haben, den Prozess der Auflösung der Nato zu fördern und die Auflösung des Warschauer Paktes gemeinsam aufzufangen; [...]

G. die KSZE-Staaten bisher nicht über ihren Beitrag zur Entstehung von konflikt- und armutsfördernden Strukturen in nichteuropäischen Staaten reflektiert haben.[...]

I. entgegen der im Abschlussdokument von Helsinki 1975 geäußerten Erwartung, Nationalstaatlichkeit im Europa von 1990 eine stärkere Rolle als bisher spielt;

J. die Teilnehmerstaaten bisher nicht die Entwicklung von überstaatlichen, umfassenden Konversionskonzepten in Auftrag gegeben haben; [...]

Die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der FRAUEN stellen insbesondere fest, dass Frauen von sicherheitspolitischen Entscheidungen weitgehend ausgeschlossen werden und alternative Friedens- und Sicherheitskonzepte von Frauen kein Gehör finden.

Die Teilnehmerinnen der ersten KSZE der Frauen fordern:

1. ein effektives und kontrolliertes Verbot aller Waffenexporte;

2. keine Finanzierung von Rüstungsforschung und -entwicklung einschließlich aller ABC-Waffen;

3. eine sofortige, drastische Reduzierung der Militärbudgets und der Streitkräfte der Länder der KSZE mit dem Ziel der Auflösung;

4. einen sofortigen weltweiten Atomteststopp;

5. die Bereitstellung von Mitteln in Höhe der Rüstungsetats für die Entwicklung und Durchsetzung von Rüstungskonversionskonzepten, die sowohl die sozialen als auch die ökologischen Folgen zu berücksichtigen haben;

6. die Verifikation dieser Konversion durch regierungsunabhängige demokratische Kontrollorgane;

7. eine Friedenspolitik, die die sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, kulturellen und humanitären Interessen aller Menschen jenseits nationalstaatlicher und Grenzen der KSZE-Staaten zu garantieren vermag;

8. die Erarbeitung von Strategien zur Friedensgestaltung und Konfliktlösung, die die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Vergangenheit sowohl in Europa als auch im Hinblick auf nicht-europäische Staaten zur Grundlage haben;

9. die Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien, die keine militärische sondern eine friedliche Austragung von Streitfällen fördern und eine Stärkung der Vereinten Nationen;

10. die Transparenz von Strukturen, Vernetzungen und Arbeitsweisen der Sicherheitsdienste durch öffentliche Kontrolle orientiert auf die endgültige Auflösung der Sicherheitsdienste;

11. in Ablösung militärischer Sicherheitssysteme, die Errichtung internationaler institutionalisierter Konfliktlösungszentren, die auf die Grundsätze demokratischer Kontrolle und Transparenz gegründet sind und von Frauen und Männern paritätisch geleitet werden.

Korb III: Ökonomie - Ökologie

Die Teilnehmerinnen der KSZE der Frauen stellen fest, dass

A. Frauen einen enormen Beitrag zur internationalen und nationalen Ökonomie leisten: Frauen verrichten weltweit zwei Drittel aller Arbeit, erhalten aber nur ein Zehntel aller Einkommen und besitzen ein Prozent aller Produktionsmittel; [...]

C. die Auswirkungen der Umstrukturierungsprozesse in Mittel- und Osteuropa mit Erwerbslosigkeit und Versorgungsproblemen vor allem zu Lasten der Frauen gehen und Parallelen zu den Entwicklungen in den Ländern des Südens erkennen lassen;

D. grenzenloses ökonomisches Wachstum zunehmend die natürlichen Lebensgrundlagen angreift, die Verelendung des Südens damit einhergeht und folglich das westliche Konzept von Entwicklung, Fortschritt und Wohlstand in Frage gestellt werden muss; [...]

Daher fordern die Teilnehmerinnen der KSZE der Frauen,

1. unbezahlte Frauenarbeit und Subsistenzproduktion anhand der durchschnittlichen Arbeitskosten zu quantifizieren und dem Bruttosozialprodukt zuzurechnen; [...]

3. zahlenmäßig ausreichende, gut ausgestattete, kostengünstige und bedarfsorientierte öffentliche Dienstleistungen im Bereich der Kinderbetreuung, der Altenpflege, des Gesundheitswesens, der Verkehrs- und Kommunikationsmittel bereitzustellen;

4. ein garantiertes eigenständiges Grundeinkommen für alle Nichterwerbstätigen, Kinder, Jugendliche und älteren Menschen einzuführen, das den durchschnittlichen Lebenshaltungskosten entspricht;

5. alle Beschäftigungsverhältnisse, insbesondere prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Heimarbeit, arbeits- und sozialrechtlich entsprechend gesetzlicher Mindestnormen abzusichern und einen Mindestlohn festzulegen, der über dem Grundeinkommen liegen muss;

6. Erwerbsarbeitszeit-Verkürzung voranzutreiben und die Arbeitsbedingungen und -zeitgestaltung den Bedürfnissen und den unterschiedlichen Lebenssituationen anzupassen, indem beispielsweise Weiterbildungszeiten, Erziehungs- oder Pflegezeiten und Freistellungsjahre (Sabbaticals) eingeräumt werden;

7. die Mindestparität von Bildungs-, Ausbildungs-, Weiterbildungs-, Umschulungs- und Erwerbsarbeitsplätzen gesetzlich zu verankern, Bildungs- und Berufsabschlüsse anzuerkennen und spezifische Frauenförderungsprogramme durchzuführen; [...]

9. die konsequente Anspruchsgleichheit hinsichtlich arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen für MigrantInnen zu gewährleisten;

10. auf die Demokratisierung und geschlechtsparitätische Besetzung internationaler Institutionen, insbesondere des Europarates und der Europäischen Gemeinschaft hinzuwirken;

11. wirtschaftliche Kooperationsvorhaben an sozialen und ökologischen Bedarfsanalysen auszurichten, die die Belange von Frauen und anderen Gesellschaftsgruppen, denen Marginalisierung droht, berücksichtigen;

12. bei allen Projekten multilateraler Banken, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und insbesondere der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), den Prinzipien der Umwelt- und Sozialverträglichkeit und den Belangen von Frauen Rechnung zu tragen, Investitionen zur Verbesserung der Situation von Frauen und der Sozialstruktur Vorrang einzuräumen und systematische Konsultationen mit gesellschaftlichen Interessensgruppen und der betroffenen Bevölkerung zu verankern;

13. Sorge zu tragen, dass alle (Förderungs-)Programme und Strukturentwicklungsmaßnahmen auf ihre Auswirkungen für Frauen geprüft werden und mindestens zur Hälfte an Frauen gehen;

14. einen Fonds zur sozialen und ökologischen Umstrukturierung in Osteuropa einzurichten; dieser Fonds muss regierungs- und industrieunabhängigen, demokratischen BürgerInneninitiativen direkt zugänglich sein, und die Mittel für geförderte Projekte müssen mindestens zur Hälfte an Frauen gehen;

15. eine Schuldenstreichung, insbesondere der ärmsten Länder (LLDC), vorzunehmen, die mit einer ökologischen und sozialen Umorientierung verknüpft sein muss, die Frauen als Subsistenzproduzentinnen entlastet; [...]

17. Forschung, Technik, Wirtschaft und Konsum am Prinzip der gesellschaftlichen Wünschbarkeit, dem Vorsorgeprinzip und einer erhaltenden, dauerhaften Wirtschaftsentwicklung zu orientieren;

18. dass die durch ökologische Zerstörung entstehenden gesellschaftlichen Kosten von den Verursachern getragen werden müssen;

19. die Festlegung von ökologischen Notstandsgebieten, denen unter Beteiligung von unabhängigen BürgerInnenkomitees schnelle und unbürokratische Hilfe zukommen muss, um die entstandenen Schäden zu minimieren (vordringlich für die von der Tschernobyl-Katastrophe betroffenen Gebiete Belorussland, Ukraine, Russland und Kasachstan); [...]

21. die Konversion von sozial oder ökologisch bedenklichen Industrien voranzutreiben, den Ausstieg aus der Atomtechnologie zu forcieren und den Ausbau dezentraler Energieversorgung, Energiesparmethoden und erneuerbarer Energiequellen zu fördern;

22. soziale und ökologische Mindeststandarde auf international verbindlicher Ebene zu erarbeiten, nach denen sich transnationale Unternehmen, Mischunternehmen etc. und Import- und Exportpraktiken zu richten haben - der Ex- und Import von Giftmüll muss verboten werden;

23. dezentrale und alternative Wirtschaftsformen, wie Kooperativen, selbstverwaltete Betriebe, ProduzentInnen/KonsumentInnen-Genossenschaften und gemeinnützige Vereine finanziell und gesetzlich zu fördern;

24. eine Umweltgesetzgebung auszuarbeiten, die einen freien und uneingeschränkten Zugang zu Informationen, ein Grundrecht auf eine gesunde Umwelt, die genetische Unantastbarkeit aller Lebewesen und die Erhaltung der Artenvielfalt verbindlich und als einklagbares Recht für aller BürgerInnen formuliert;

25. für BürgerInnengremien und gesellschaftliche Interessensgruppen Initiativ-, Entscheidungs- und Kontrollrechte institutionell und gesetzlich zu verankern - beispielsweise das Verbandsklagerecht [...]

die tageszeitung, Ausgabe 3265, Mo. 19.11.1990

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