Es geht ums Ganze

Der gesamtdeutsche Zug droht uns zu überrollen. Deswegen ist es an der Zeit, dass Frauen gemeinsam Strategien für eine zukünftige Ost-West Frauenpolitik entwerfen. Die Frauen in der DDR haben viel zu verlieren. Die Frauen in der BRD können viel gewinnen . . .

Mit dieser Mahnung warben in den vergangenen Wochen der Unabhängige Frauenverband der DDR (UFV) und Frauen aus der autonomen Frauenbewegung in München - organisatorisch unterstützt vom Frauennetzwerk Berlin - für den ersten großen Ost-West-Frauenkongress vom 27. 4. bis zum 29. 4. 1990. Doch die Werbung kam nicht zum Tragen. Für große, auffällige Plakate und Annoncen fehlten sowohl hüben als drüben die Sponsoren. Die Presse aber beschränkte ihre Bereitwilligkeit auf Minimeldungen irgendwo am Rande, zwischendurch.

An der Eingangstür zur Berliner Dynamo-Sporthalle ein handgeschriebenes Miniplakat: Heute Männer unerwünscht. Drinnen, im Saal, wirken die fünfhundert Kongressteilnehmerinnen verloren, allein gelassen - auf sich selbst gestellt. Zwischen ihnen Kleinkinder, ein paar Schäferhunde. Trotz des Hinweises draußen vor der Tür taucht hin und wieder ein Mann auf, kenntlich gemacht als "Technischer Mitarbeiter" oder "Pressevertreter". Mit täglich zweitausend Frauen hatte man gerechnet. Mehr als sechshundert - davon die meisten aus Westberlin und der BRD - werden es auch am dritten Tag im Audimax der TU/Westberlin nicht.

"Frauen im Aufbruch - so haben wir angefangen. Dann kam der Umbruch. Und nun der Zusammenbruch?" Die Frage, einem Verzweiflungsruf gleich und gestellt von Uta Röth, einer der ersten gewählten Sprecherinnen des UFV und lange Zeit dessen Vertreterin am zentralen Runden Tisch, spricht Bände. Ost-Frauen scheinen im Moment andere Sorgen zu haben. "Nur welche?" - fragt eine Rednerin aus Bonn. Was auf die Frauen zukommt, ist härtester Kapitalismus. Das bedeutet Umstellung, Kampf!

Auch deshalb sind wir doch zusammengekommen! Was kann es da noch für andere Sorgen geben?!" Trotz der spürbaren Enttäuschung über die geringe Beteiligung gehen die Reden, die Diskussionsrunden zu solchen Problemkreisen wie Frauen und Arbeit, Missbrauch und Gewalt, Paragraph 218 und anderem bis weit in die Abende hinein. Am Ende des dritten Kongresstages dann "steht" die Resolution, gerichtet von in- und ausländischen Frauen aus der DDR und der BRD an die Regierungen und Parlamente in beiden Staaten: "Wir sind Frauen, die die demokratische Revolution in der DDR aktiv mitgestaltet und dabei Fraueninteressen vertreten haben; wir sind Frauen und Lesben, die sich innerhalb der bundesrepublikanischen Frauen- und Lesbenbewegung seit Jahren fair ein selbstbestimmtes Frauenleben einsetzen. Unsere Vorstellungen von einem besseren Leben sind unteilbar wie die politischen und sozialen Menschenrechte, und sie sind Vorstellungen von einer besseren Welt . . . Die große Chance, die es hätte geben können, besteht nicht mehr. Der hoffnungsvolle gesellschaftliche Aufbruch in der DDR ist im Keim erstickt. Es besteht die reale Gefahr, dass der Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung zu einem historischen Rückschritt im Emanzipationsprozess von Frauen in Ost und West führt. Wir laufen Gefahr, dass verlorengeht, was sich Frauen in beiden deutschen Staaten geschaffen und darüber hinaus an feministischen Alternativen entwickelt haben . . . Wir meinen: Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches geht über die im Grundgesetz formulierten Grundwerte hinaus. Wir bestehen darauf, dass das qualitativ Neue dieses Entwurfes im Prozess der Vereinigung öffentlich und mit der nötigen Zeit diskutiert und in einer neuen gemeinsamen Verfassung verankert wird. Diese Verfassung soll von einem paritätisch (DDR/BRD) und quotiert (Frauen/Männer) besetzten Gremium erarbeitet und dann per Volksentscheid abgestimmt werden. Die damit eingeforderten Grundrechte gelten für Frauen und Männer unabhängig von ihrer Nationalität, Herkunft, Sprache, der sexuellen Lebensformen, ihrer sozialen Stellung, ihrer religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung, ihrem Alter und unabhängig davon, ob sie behindert sind oder nicht . . ."

Bleibt zu hoffen, Millionen in Ost und West begreifen, dass einige hundert couragierter Frauen diese Resolution in ihrem Namen verfasst haben, dass sie zur Kenntnis - und ernst genommen wird von denen, die im Moment am Drücker sind. Sie werden sich nicht herum.mogeln können - um die Frauen dieses Kongresses. Unüberhörbar werden diese sich immer wieder zu Wort melden. Sie haben Erfahrungen gesammelt. Sie sind - trotz aller Rückschläge - wieder im Aufbruch.

Gabriele Kleiner

Die Andere Zeitung Berlin, Nr. 16, Do. 10.05.1990

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