Wir wollen keine Richtungsgewerkschaften

Gespräch mit Karl-Otto Launike, Hermann Ratz und Michael Seidel über die Gewerkschaftssituation in der DDR

Karl-Otto Launike ist Vorsitzender des Arbeitnehmerverbandes im "Demokratischen Aufbruch" (DA), Hermann Ratz ist sein Steilvertreter, beide sind Gründer der Initiative "DGB jetzt"; Dr. Michael Seidel, der von Beruf Arzt ist, ist Vorsitzender des Christlich-Sozialen Ausschusses der CDU-DDR.

Frage: Der "Demokratische Aufbruch" fordert die rasche Bildung von handlungsfähigen Betriebsräten und starken Gewerkschaften. Wie seht Ihr die aktuelle gewerkschaftliche Situation in der DDR?

Karl-Otto Launike: Das ist schwer einzuschätzen. Es gibt bei uns Betriebe, in denen die Gewerkschaft funktioniert, aber ich schätze, dass sie in der Minderheit sind. Es gibt immer mehr Fälle, in denen sich die Betriebsleiter eigenmächtig verhalten und zum Beispiel ihren Betrieb in eine GmbH umwandeln, ohne die Belegschaft zu fragen: Die verkaufen unsere Betriebe, obwohl sie uns gehören. Die Gewerkschaften können sich dagegen nicht durchsetzen und teilweise wollen sie es auch nicht. Konkret heißt das, dass zum Beispiel Leuten einfach gekündigt wird, obwohl das nach dem Arbeitsgesetzbuch bei uns überhaupt nicht geht. Und die Gewerkschaft rührt sich dagegen kaum. Ich kenne aber auch ein Werk, wo das zunächst ähnlich war. Aber jetzt haben sich die Betroffenen besonnen und wollen einen Betriebsrat bilden. Die Gewerkschaft muss das unterstützen, weil die Arbeiter sonst überhaupt keine Motivation mehr haben, richtig zu arbeiten, weil sie nicht wissen wofür. Wir brauchen eine Arbeitnehmervertretung, um uns wieder Mut zu machen.

Hat diese Situation auch damit zu tun, dass die alten Gewerkschaften - Stichwort FDGB - diskreditiert sind?

Launike: Das ist eine schwierige Situation. Der FDGB war ja Transmissionsriemen der SED und das wusste auch jeder. Im Prinzip waren wir alle FDGB-Mitglieder, aber letztendlich nur passive, weil alle wesentlichen Entscheidungen doch nur von der Partei und von ausgesuchten Funktionären getroffen wurden. Es gab kein richtiges Interesse an der Gewerkschaft. Man ist nur drin gewesen, damit man seinen Ferienplatz kriegt oder seine kostenlose Fahrt.

Letztendlich war die Gewerkschaftsmitgliedschaft schon damals nicht attraktiv. Durch die Revolution, bei der klar wurde, was die SED für ein Haufen war, ist der FDGB mit diskreditiert, weil ja die meisten FDGB-Funktionäre auch in der SED waren. Deshalb ist es unwahrscheinlich schwer, gewerkschaftliches Vertrauen zu finden. Wir werden immer wieder gefragt, was wir als Leute vom ehemaligen Untergrund tun wollen, um diese Strukturen zu erneuern. Das geht nur von unten. Wir haben außerdem die Initiative "DGB jetzt" ins Leben gerufen. Sie soll eine Verbindung der Industriegewerkschaften im Osten mit denen im Westen mit dem Ziel eines Dachverbands herstellen. Wenn sich das Kapital vereinigt, dann müssen sich auch die Gewerkschaften vereinigen, damit es einen Gegenpol gibt.

Ist der bundesdeutsche DGB in die von Euch beschriebene Misere einbezogen?

Hermann Ratz: Teilweise schon, weil dessen Kontakte die alte Struktur mit gestützt haben. Wir haben speziell bei uns schon gemerkt, dass der DGB lieber mit FDGB-Vertretern zusammengearbeitet hat, als dass die Gewerkschaften auseinanderfallen.

Launike: Als "Demokratischer Aufbruch" haben wir schon früh Verbindungen zu den Gewerkschaften etwa in Hof und zur SPD gehabt. Aber wir haben dann Schwierigkeiten bekommen, weil die SPD bei uns im Wahlkampf argumentiert hat, Gewerkschaften seien vollkommen nebensächlich, schließlich sei die SPD eine starke Arbeiterpartei. Ich halte das für falsch: Gewerkschaften sind etwas ganz anderes, darin müssen alle Parteien vertreten sein. Wir wollen doch keine Richtungsgewerkschaften.

Welche Chancen seht Ihr zum Aufbau gemeinsamer Gewerkschaften über die Parteigrenzen hinweg? Gibt es überhaupt eine Chance dazu oder ist der Gedanke der "Einheit" derart belastet, dass er zum Aufbau von Richtungsgewerkschaften und Standesverbänden missbraucht werden kann?

Launike: Es gibt diesen Missbrauch bereits. Der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) etwa nutzt die Unwissenheit und vor allem den Oppositionsdrang unserer Leute, weil sie "die Schnauze voll haben" vom FDGB, indem er sagt: "Gründet jetzt christliche Gewerkschaften, dann können wir die kommunistischen Gewerkschaften sausen lassen." Unsere Leute fallen darauf rein und unterschreiben die Mitgliedsformulare.

Ich denke, das liegt zu einem wesentlichen Teil an der zögerlichen Haltung des DGB. Er müsste schneller auf den FDGB zugehen und ihn zwingen, gemeinsam einen neuen Dachverband zu bilden. Das muss schnellstens geschehen, ehe sich CGB oder DAG bei uns etablieren können. Der DGB war zu zaghaft und hat gewartet, ob sich der FDGB von innen her reformiert. Aber das ist unwahrscheinlich schwer. Hinzu kommt, dass selbst aktive Gewerkschafter kaum geschult sind, um mit den Managern oder neuen Unternehmern ins Gefecht zu gehen. Wir sind fast machtlos, wenn unsere ehemaligen Direktoren in die Bundesrepublik gehen, dort Manager "lernen", und dann ein bisschen Kapitalist spielen, wenn sie zurückkommen.

Ihr habt eben bereits über "Altlasten" gesprochen. Die meisten Arbeitnehmer in der DDR waren Mitglied des FDGB aus den Gründen, die genannt wurden. Ist das belastend oder war das in vielen Fällen nur eine formelle Mitgliedschaft?

Launike: Es gibt eigentlich zwei Altlasten. Die erste ist der Transmissionsriemen, also die SED-Führung in der Gewerkschaft, und die zweite Altlast sind die zur Passivität erzogenen Werktätigen. Die alten Gewerkschaftsbonzen sind auch deswegen wieder in Amt und Würden, weil die Leute zu passiv sind und sich nicht selber engagieren wollen. Wir müssen das selbstkritisch sehen.

Ich kenne einen Kreisvorsitzenden der IG Bau-Holz, der uns noch bei den Demonstrationen im Herbst erschießen wollte. Den haben Gewerkschafter hinterher rausgeschmissen, und jetzt ist er auf einmal der Chef von drei Kreisen. Er ist also aufgestiegen, obwohl die Arbeiter ihn rausgeschmissen haben.

Was macht man dagegen?

Ratz: Man muss den Leuten sagen, dass sie das Recht haben, den abzuwählen. Die warten alle, dass von oben etwas Besseres kommt. Aber es kommt nichts von alleine.

Launike: Die warten alle - wie das Kaninchen auf die Schlange - auf die D-Mark.

Michael Seidel: Es kommt dazu, dass die Kollegen wenig Erfahrung haben, wie man Gewerkschaftsarbeit organisieren kann. Das ist ein wichtiger Punkt. Und die, die Gewerkschaftsarbeit bisher mehr oder minder hauptamtlich betrieben, die kennen das Know-how natürlich besser. Sie bieten an, in dieser kritischen Zeit "für Sicherheit zu sorgen" und versprechen den Leuten, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Damit nutzen sie eine ganz schwierige Situation aus. Sie verlassen ihren alten Platz, beziehen einen neuen und erscheinen dann sozusagen wie "Phoenix aus der Asche" ohne Vorgeschichte und können damit in ihrem neuen Wirkungskreis glauben machen, dass sie nicht irgendwie versagt hätten oder belastet sind.

Wie ist dieser Teufelskreis zu durchbrechen? Einerseits brauchen die Gewerkschaften Zeit, wenn sie sich selber reinigen wollen. Andererseits werden die Gewerkschaften schnell einheitliche, handlungsfähige Strukturen entwickeln müssen, wenn sie auf den ökonomischen Umbau der DDR Einfluss nehmen wollen.

Seidel: Es ist ganz klar - das ist auch die Auffassung des Christlich-Sozialen Ausschusses (CSA) -, dass es nicht um Richtungsgewerkschaften gehen kann, sondern dass wir uns im Prinzip am Modell der Bundesrepublik orientieren müssen. Etwas anderes ist im Blick auf die Einheit gar nicht denkbar. Dass es innerhalb dieser Einheitsgewerkschaft Pluralität geben muss, ist ebenso klar.

Aus unserer Sicht ist es sehr wichtig, dass die Gewerkschaften vor Ort durch Leute aufgebaut werden, die das notwendige Know-how haben und die wissen, was ihre Aufgaben, Pflichten und Rechte sind, und die in die Betriebe hineingehen können. Vorrangige Aufgabe für unsere Partei - für die CDU und auch für die CSA - ist es, die richtigen Leute zu finden und zu stellen. Es hängt mit unserer Geschichte zusammen, dass wir als Christlich Demokratische Union bisher kaum Arbeitnehmer aufnehmen durften und uns von daher Grenzen in der Mitgliedergewinnung gesetzt waren. Für uns ist es deshalb wichtig, jetzt in Zusammenarbeit von CSA und CDA in der Bundesrepublik die Schulungsarbeit auf diesem Gebiet zu entwickeln, damit wir schnell bei der Vermittlung der notwendigen Kenntnisse helfen können, damit die Kollegen von unten her die Gewerkschaften aufbauen können.

Im Zusammenhang mit der Diskussion um den Umtauschkurs hat der FDGB die Arbeitnehmer für einen Kurs von 1 : 1 mobilisieren können. Was ist zu diesem Vorgang zu sagen?

Seidel: Der Sache nach haben wir auch die Position vertreten, dass es bei der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion um ein straff verschnürtes Paket gehen muss, dass man nicht kleckern kann, sondern klotzen muss. Es entbehrt allerdings nicht der Bizarrerie, wenn Leute, die mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen können, dass sie nicht für Vor- und Nachteile der Situation haftbar gemacht werden, sich mit großen Ratschlägen bis hin zu Kampfandrohungen aus dem Fenster lehnen. Und wenn man dann noch die Frage stellt, wo jene Leute in den vergangenen 40 Jahren gewesen sind, dann wird das Ganze skurril. Der Sache nach können wir zustimmen, wir sprechen aber bestimmten Personen das Recht ab, sich in dieser prononcierten Form zu äußern.

Launike: Wir haben außerdem den Nachteil, dass wir nach wie vor kaum Medien haben. Die Allianz hat nur die "Neue Zeit", die anderen unabhängigen Zeitungen, die ehemaligen Parteizeitungen, machen das Gleiche wie vorher.

Wenn wir Vorschläge machen, die eigentlich auch ihre Vorschläge sind, dann werden wir verschrieen und werden als die hingestellt, die gegen die Arbeitnehmer sind. Das ist für uns ein großer Nachteil, wir werden in eine Ecke gestellt, in der wir gar nicht sind.

Die Gewerkschaften in der DDR haben doch auch Publikationen. Hat da der Demokratische Aufbruch, hat die CDU darin keine Artikulationsmöglichkeiten?

Launike: Wir schreiben Artikel über Artikel für die "Tribüne" und keiner erscheint.

Seidel: Wir haben am Anfang versucht, dort einzusteigen. Als wir gemerkt haben, dass wir da nicht landen, haben wir es gelassen. Es bringt ja nichts. Wir haben jetzt ein breiteres Projekt in Angriff genommen - nicht nur im Hinblick auf die Gewerkschaften, sondern auch zur Renten- und Krankenversicherungsproblematik, für den ganzen Sozialbereich. Deswegen haben wir den Gewerkschaftsbereich nicht so speziell bedient.

Launike: Der DA hat einen Gesetzentwurf für ein Betriebsverfassungsgesetz in der DDR vorgelegt, den die Allianz in die Volkskammer einbringen soll.

Wurde dieser Entwurf in Anlehnung an das Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik entwickelt oder gibt es wesentliche Unterschiede?

Launike: Wir haben uns vor allem an den Änderungsvorschlägen des DGB am Betriebsverfassungsgesetz orientiert, in einigen Punkten gehen wir sogar noch ein bisschen weiter. Wir wollen eine echte paritätische Mitbestimmung.

Ist in diesem Punkt eine Zusammenarbeit mit den anderen Parteien, etwa der SPD, möglich?

Launike: Ich will jetzt nicht die SPD angreifen, ich sehe aber keine Aktivitäten der SPD in Richtung Arbeitnehmerfragen.

Könnte ein Entwurf für das Betriebsverfassungsgesetz nicht so etwas sein wie ein gemeinsames Gut, das die DDR sozusagen in die Einheit einbringt?

Launike: Eben, das wollen wir, dass wir einen Beitrag leisten, dass wir uns nicht anschließen, sondern uns einbringen.

Welche Erwartungen habt Ihr jetzt konkret an den DGB?

Launike: Der DGB sollte sich mehr einmischen. Vor allem durch Schulung, durch Hilfe und durch Einflussnahme auf unseren Gewerkschaftsapparat. Wenn jetzt zum Beispiel die IG Metall-Ost mit der IG Metall-West verhandelt, dann müsste man wissen, mit wem da konkret verhandelt wird. Es ist ganz entscheidend, dass die richtigen Leute in der DDR das Sagen bekommen.

Ratz: Dazu gehören so praktische Dinge wie Wahlabläufe. Auf der Delegiertenversammlung der IG Bau-Holz zum Beispiel ist eine ganz undemokratische Sache gelaufen: Da wurde nicht an der Basis gewählt, sondern die Delegierten wurden einfach bestimmt. Es war das alte Strickmuster wie bisher, da hat sich noch nicht viel geändert. Die alten Strukturen sind teilweise noch da und auch die alten Leute.

Launike: Ich war als Delegierter zum Außerordentlichen FDGB-Bundeskongress gewählt. Aber der Kreis hat dann beschlossen, dass jemand anderer dahin fährt. Einer von uns ist allerdings trotzdem hineingerutscht - sie haben es nicht gemerkt, weil sie ihn nicht kannten. An solchen Vorgängen erkennt man, wie der Hase läuft.

Was soll denn mit den vielen tausend bisherigen Gewerkschaftsfunktionären geschehen?

Launike: Das ist von Betrieb zu Betrieb verschieden. Es gibt ja Gewerkschaftsfunktionäre, die eigentlich gerne gewollt haben, aber Angst hatten und letztlich mitgeschwommen sind. Aber es gibt eben auch solche, die sich wirklich korrumpiert haben. Diese Leute muss man aussortieren, sonst schadet man der Gewerkschaft. In diesem Zusammenhang ist auch das Gewerkschaftsgesetz wichtig. Wir haben den Antrag gestellt, dass es sofort durch ein Betriebsverfassungsgesetz zu ersetzen ist, weil das Gewerkschaftsgesetz unserer Meinung nach den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern schadet, weil es jederzeit immer wieder durch jedes neue Parlament geändert werden kann. Deshalb muss ein Betriebsverfassungsgesetz her, so dass die Gewerkschaften nicht von Parteipolitik abhängig sind.

Das Gespräch führten Hans O. Hemmer und Stephan Hegger am 11. April 1990 in Königswinter. Michael Seidel konnte nur zeitweise an dem Gespräch teilnehmen.

Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 5-6, 1990, Herausgeber: Bundesvorstand des DGB

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