Viele wichtige Fragen blieben bislang ohne Antwort
Gewerkschaft Wissenschaft ringt für Interessen ihrer Mitglieder
Eine wirksame gewerkschaftliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer in der DDR - nie war sie so wichtig und entscheidend wie in dieser Phase des Um- und Aufbruchs in Richtung Marktwirtschaft. Wie gestaltet sie sich für den Bereich der Wissenschaft? Dieser Frage ging die NEUE ZEIT kürzlich bei einem Gespräch mit Dr. Larissa Klinzing, 1. stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Wissenschaft, und Hinricht Hartke, Vorsitzender der Bereichskommission Akademie der Wissenschaften beim Hauptvorstand der Gewerkschaft Wissenschaft, nach.
Seit wann gibt es die Gewerkschaft Wissenschaft als eigenständige Einzelgewerkschaft, mit welchen Aufgaben und Problemen sieht sie sich derzeit konfrontiert?
Dr. Klinzing: Wir haben uns am 27. 1. 90 als eigenständige Einzelgewerkschaft mit Tarifautonomie und Finanzhoheit konstituiert. Damit ist die Gewerkschaft Wissenschaft eine der ersten gewesen, die sich unabhängig gemacht hat.
Vereinigung mit DGB wird vorbereitet
Derzeit sind wir intensiv damit befasst, die Vereinigung unserer Gewerkschaft mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) vorzubereiten, zu der es im Herbst dieses Jahres kommen soll. Dabei sind etliche Hürden zu überwinden, denn die gewerkschaftlichen Strukturen des DGB unterscheiden sich von den unseren. Diese Nichtpassfähigkeit ist für viele DDR-Einzelgewerkschaften ein großes Problem. Unser Weg in den DGB wird also über schwierige Zwischenschritte führen müssen.
Die Form ist das eine, der Inhalt das andere. Wir sind entschlossen und haben das gerade in einem Kooperationsvertrag festgehalten, bei der Interessenvertretung unserer Mitglieder wie soziale Absicherung, Tarife, Mitbestimmung und Rechtsschutz gemeinsam mit dem DGB zu agieren. Diese Unterstützung und Rückendeckung braucht die Gewerkschaft Wissenschaft dringend, und sie stärkt natürlich ihre Position.
An der Akademie, an den Hoch- und Fachschulen geht die Angst um den Arbeitsplatz um. Wie sehen Sie dieses Problem, und wie stellen Sie sich dazu?
Harkte: Es wird an der Akademie zu erheblichen Veränderungen in der Struktur kommen, und eine größere Zahl unserer Mitarbeiter wird aus dem Akademiebereich ausscheiden. So ist vorgesehen, dass so gut wie alle Dienstleistungsbetriebe der AdW, von der Druckerei bis zum Gerätebau, ausgegliedert und privatisiert bzw. in GmbH umgewandelt werden. Die AdW wird künftig benötigte Dienstleistungen einkaufen. Für die betroffenen Kollegen werden wir soziale Übergangslösungen finden müssen, es wäre nicht rechtens, sie ohne Starthilfe in die Marktwirtschaft zu entlassen.
Was die Wissenschaftler angeht, so ist vorerst nicht daran gedacht, ihren Bestand zu reduzieren. Es gibt jedenfalls kein entsprechendes Konzept, das der Gewerkschaft bekannt gemacht worden wäre. Und dies wäre laut Gesetz notwendig, wenn die Regierung sich mit Abbau-Gedanken trägt.
Dr. Klinzing: Die Sorge der Kollegen ist natürlich insofern verständlich und auch berechtigt, als wir bis heute nicht über sehr umfassende Informationen über die tatsächlichen Vorhaben der zuständigen Ministerien verfügen. Klar ist, dass Strukturveränderungen anstehen, die viele treffen werden. So ist zum Beispiel im Hochschulbereich an den Übergang von unbefristeten zu befristeten Arbeitsrechtsverhältnissen gedacht, wie sie in der bundesdeutschen Gesetzgebung vorgesehen sind. Wir haben als Gewerkschaft Wissenschaft bereits deutlich gemacht, dass wir nur dann befristete Arbeitsrechtsverhältnisse akzeptieren werden, wenn sie erstens nachweislich Qualifizierungsverträge und zweitens an Drittmittelfinanzierung gebunden sind. Damit ist unsere Auffassung gegen alle die abgehoben, die die bundesdeutsche Variante 1:1 übernehmen wollen.
Es hat sich nämlich in der BRD als negativ erwiesen, dass dort zahlreiche Hochschullehrer nur einen befristeten Arbeitsvertrag haben. Man kann keine wissenschaftlichen Schulen, keine Denkrichtung aufbauen, wenn die Leute nur zwei bis drei, maximal fünf Jahre an einer Einrichtung tätig sind. Das braucht einen längeren Atem. Außerdem sind diese Lehrer statt mit perspektivischer Arbeit natürlich mehr mit der Frage beschäftigt, wie und wo sie die nächste Anstellung bekommen.
Uns geht es zudem um die Bewahrung des Stamms von Wissenschaftlern, die originelle Forschungsrichtungen und Ausbildungskonzepte hierzulande anbieten. Es muss verhindert werden, dass sie aus solcher Unsicherheit heraus abwandern oder schlicht weggefegt werden. Denn wir wissen, dass personelle Verluste in der Wissenschaft nur schwer wieder auszugleichen sind.
Für uns ist es im Moment kompliziert, Ruhe in unsere erregte und geängstigte Mitgliedschaft zu bekommen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass unsere Tarifpartner sich bis heute dazu verstanden haben, eine Sozialschutzvereinbarung zu unterzeichnen. Sie würde eine Gewähr für die soziale Abfederung der bevorstehenden Strukturveränderungen darstellen. Wir haben hier und dort mündliche Zusagen, aber das genügt nicht.
Kein klares Konzept vorhanden
Hinzu kommt, dass bislang kein klares Umstrukturierungskonzept vorliegt. Wenn aber die Regierung weiterhin notwendige Entscheidungen vor sich herschiebt, wird es zu Einbrüchen in unserer Forschungslandschaft kommen. Ein Beispiel: Es ist im Gespräch, einen großen Teil der Akademie nach bundesdeutschem Vorbild dem Hochschulbereich zuzuordnen. Wenn die Umstrukturierung an den Hochschulen jetzt beginnt, an der Akademie aber erst später, dann sind innerhalb kürzester Zeit alle Hoch- und Fachschulstellen besetzt, was heißt, dass die Kollegen der AdW, die mit Sicherheit nicht wenig einzubringen haben, von vornherein aus dem Spiel heraus sind. Wir hoffen aus diesem und vielen anderen Gründen, dass es im Ergebnis unserer Verhandlungen mit den Ministern für Bildung und Wissenschaft sowie für Forschung und Technologie noch vor der Währungsunion zu eindeutigen und klaren Entscheidungen kommt.
Die Wissenschaftler unseres Landes sind bekanntermaßen nie sehr gut bezahlt worden. Haben Sie in Anbetracht dessen und auch in Anbetracht der Tatsache, dass durch Post, Banken und Versicherung bereits höhere Tarife ausgehandelt werden konnten, ebenfalls entsprechende Forderungen gestellt?
Tarifpartner reagierten nicht
Hartke: Ja. Aber die Tarifpartner haben auf alle unseren diesbezüglichen Vorschläge nicht reagiert. Das ist sehr beunruhigend, denn es erhöht die Gefahr, dass gute Leute aus unserer Forschung in den Westen abwandern, was letztlich zu einer Verarmung unserer Forschungslandschaft führt mit unabsehbaren Negativkonsequenzen für Wirtschaft und Kultur. Was die angesprochene Tariferhöhung im Verkehrswesen, bei Post, Banken und Versicherung angeht, so lassen sie sich daraus erklären, dass dies genau die Bereiche sind, die man braucht, um Kapitalverwertung, u. a. die anstehende Währungsunion, organisieren zu können. Hier war der Tarifdruck besonders groß, hier hat man ihm schnell nachgegeben. Das ist verständlich. Aber ich halte es für kurzsichtig, dass man meint, in der Wissenschaft pressiere es nicht so. Im übrigen ist es ein unhaltbarer Zustand, dass die Regierung uns in der Frage der Tarifverhandlungen ausweicht. Es dürfte eine einmalige, für keine westdeutsche Gewerkschaft nachvollziehbare Situation sein, dass man mit Streik drohen muss, damit die Regierung überhaupt eine Position aufbaut, die man dann vielleicht bestreiken muss oder will.
Es war vom Rechtsschutz die Rede, den die Gewerkschaft Wissenschaft gewährt. Wie gestaltet sich das konkret?
Dr. Klinzing: Rechtsschutz ist eine satzungsgemäße Leistung, die wir allen unseren 140 000 Mitgliedern anbieten. Wir haben wöchentliche Rechtssprechstunden in unserer Hauptgeschäftsstelle Unter den Linden 15. Leider wird davon nicht allzu viel Gebrauch gemacht, da viele Kollegen sehr deprimiert sind und ihnen der insgesamt unsichere Rechtszustand den Mut nimmt, mit Rechtsmitteln zu kämpfen. Und doch sollte das jeder tun, um zu verhindern, dass unakzeptable Zustände einreißen.
Wir haben als Gewerkschaft die Rechtshilfe z. B. den Hochschullehrern aus den ehemaligen Sektionen Marxismus-Leninismus angeboten, die als erste abberufen wurden. Dabei ging es uns nicht um die inhaltliche Begründung des Warum, sondern um einen ersten Fall, bei dem klar am bestehenden Recht vorbei gehandelt wurde. Die Kündigungsfrist ist nicht eingehalten worden.
Hartke: Wobei festzustellen ist, dass die Arbeitsrechtstätigkeit sich zunehmend erschwert. Die rasanten Veränderungen geltenden Rechts durch Abwandlung, Nivellierung, Neufassung und Übernahme sind sowohl für uns als auch für Juristen kaum noch überschaubar und haben zu chaotisch anmutenden Zuständen geführt.
Sie haben die rasante Entwicklung im Rechtsbereich mit ihren bedenklichen Folgen angesprochen, ist ähnliches auch im Wissenschaftsbereich spürbar?
Dr. Klinzing: Ja. Wenn sich die hochschulpolitische Diskussion weiter beschleunigt, und das sieht ganz so aus, dann könnte das z. B. bedeuten, dass wir Hochschulstandorte bekommen, die so schlecht konzipiert sind, dass wir in kurzer Zeit zum Bildungshinterland Deutschlands werden. Zeitdruck hat dazu geführt, dass eine Rahmenkonzeption für die Lehrerausbildung erarbeitet wurde, die die zukünftigen Pädagogen in eine unmögliche Situation bringt. Bisher hatten wir die einphasige Ausbildung, die von Anfang bis Ende in den Händen der Hochschule lag. Eine Regelung, die europäischen Gepflogenheiten entspricht. Nun soll die Ausbildung zweiphasig werden, d. h., ein Teil obliegt der Hochschule, der andere der Schulbehörde. Ausgerechnet die Schulbürokratie, die bei uns bis heute eine alles andere als positive Rolle gespielt hat, soll an Einfluss gewinnen. Zudem: Wenn ich der Hochschule einen Teil der Ausbildung wegnehme, wird es schwierig, eine wirklich wissenschaftliche Konzeption dieser Ausbildung durchzusetzen und einen hohen Freiheitsgrad für die Herausbildung der Lehrerpersönlichkeit zu sichern. Die Studenten bekommen in der entscheidenden Abschlussphase die starke disziplinierende Wirkung der Schulbehörde zu spüren. Das ist ein Beispiel für einen, wie wir meinen, unüberlegten "Schnellschuss" in Sachen.
Ganzheitlichkeit gern bewahren
Um noch einmal auf die Vereinigung der Gewerkschaft Wissenschaft mit dem DGB zurückzukommen, was würden Sie gern bei diesem Prozess an Eigenem einbringen?
Dr. Klinzing: Es gibt im DGB keine der Gewerkschaft Wissenschaft vergleichbare komprimierte Interessenvertretung. Unserer Ganzheitlichkeit, die Hoch- und Fachschulen, Forschungseinrichtungen, Bibliotheken, Museen stehen im DGB mehrere Einzelgewerkschaften gegenüber, d. h., es ist hier eine Aufsplittung der Akademiker da, die wir für nicht günstig halten. Warum, weil die Wissenschaft zu einem strategischen Sektor in der zivilisatorischen Gesellschaft geworden ist, der eine starke Vertretung braucht, die die Belange der hier Beschäftigten energischer durchsetzt, als das in der BRD derzeit der Fall ist. Wir hoffen, dass wir nach den Turbulenzen der Vereinigung eine entsprechende Entwicklung befördern können.
Auch hinsichtlich unserer wissenschaftspolitischen Arbeit würden wir gern einiges von unseren Vorstellungen einbringen. Wir würden uns z. B. eine viel intensivere Einflussnahme auf die Gesetzgebung im Wissenschaftsbereich durch die Gewerkschaft wünschen, und wir waren für deutlich mehr Mitbestimmung in akademischen Selbstverwaltungsgremien, als jetzt durch bundesdeutsches Recht gewährt wird.
Das Gespräch führte
Elke Kreischer
Neue Zeit, Mi. 20.06.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 141