Freier Deutscher Gewerkschaftsbund
Bezirksvorstand Potsdam

Bundesvorstand des FDGB
Vorsitzenden
Kollegen Tisch

Potsdam, 20.10.89

Werter Kollege Vorsitzender!

Nach einer ersten Information an die Abteilung Organisation halte ich es für erforderlich, Dich persönlich über die Lage im VEB Geräte- und Reglerwerke "Wilhelm Pieck" Teltow, einem Zentrum der Arbeiterklasse unseres Bezirkes, zu informieren.

Am 17.10.1989 tauchte in diesem Betrieb ein Flugblatt "Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften" (Anlage) auf.

Als verantwortlicher für die Herstellung und die Verbreitung dieses Aufrufes wurde ein Ralf Börger, Mitarbeiter in der Abteilung Außenwirtschaft und Reisekader, ermittelt.

Er bekennt sich voll zum Inhalt dieses Schreibens und vertritt die Ansichten und Ideen des Neuen Forums.

Börger, der keine Gewerkschaftsfunktion bekleidet, hat eine Gewerkschaftsgruppenversammlung seines Arbeitskollektivs am 17.10.1989 genutzt, um die Mitglieder mit dem Inhalt des Aufrufs vertraut zu machen und einige Exemplare zu verteilen.

Sofort nach Bekanntwerden führten der BGL-Vorsitzende und der Direktor für Außenwirtschaft in der Gewerkschaftsgruppe eine Aussprache zur Klärung des Sachverhaltes. Dabei wurde eindeutig erklärt, dass der Besitz und die Verteilung dieses Aufrufes gegen unsere gesetzlichen Bestimmungen verstößt. Durch den Direktor für Außenwirtschaft wurde daraufhin verwiesen, dass die Klärung anstehender Probleme nur im Rahmen der bestehenden Gesetze möglich ist.

In der Diskussion zeigte sich, dass ausnahmslos alle vorgetragenen Probleme die betriebliche Sphäre betreffen.

Die mehrfachen Versuche des Börger, die Diskussion auf die politischen Ziele des Aufrufs zu lenken, fanden im Verlauf der Beratung immer weniger Widerhall und zum Schluss gar keinen Anklang mehr.

Im Ergebnis der Versammlung wurde Übereinstimmung dahingehend erzielt, dass durch die zuständigen Leitungen alle von den Teilnehmern angesprochenen Fragen und Probleme aufgegriffen und kurzfristig beantwortet bzw. geklärt werden, was jedoch die Einhaltung und Beachtung unserer Gesetze voraussetzt.

Die im Kollektiv vorhandenen Exemplare des Aufrufs wurden von den Kolleginnen und Kollegen freiwillig dem Sicherheitsbeauftragten des Betriebsdirektors übergeben.

Nach Aussage des Börger hat er auf einem betrieblichen Datenträger 15 Exemplare des Aufrufes angefertigt. Die Diskette wurde sofort eingezogen und durch die zuständigen Sicherheitsorgane gelöscht.

Der Vorsitzende des Kreisverbandes Potsdam der IG Metall hat am 18.12.1989 zur Information und zur Auswertung dieses Vorkommnisses mit den BGL-Mitgliedern und AGL-Vorsitzenden des Betriebes eine Beratung durchgeführt und dabei unseren gewerkschaftlichen Standpunkt dargelegt.

Die BGL-Mitglieder und alle AGL-Vorsitzenden distanzierten sich vom Inhalt dieses Aufrufes. Sie betonten übereinstimmend, dass die Probleme, die sich bei vielen Mitgliedern in der letzten zeit angestaut haben, wie z.B. Versorgungs- und Ersatzteilfragen, Probleme der Arbeits- und Lebensbedingungen und der Arbeitsorganisation sowie Reisemöglichkeiten, nur mit einer einheitlichen Gewerkschaft unter Führung der Partei gelöst werden können.

In einer weiteren Aussprache mit 36 Gruppenfunktionären und den beiden BGL-Vorsitzenden der Bereiche Außenwirtschaft und Vertrieb am 19.10.1989 gab es zwar keine Forderung nach Gründung einer neuen Gewerkschaft, aber auch keine einheitliche und eindeutige Distanzierung.

Einige Kollegen äußerten Verständnis für den Aufruf. Das resultiert jedoch aus Verärgerung über ungelöste Fragen im Betrieb und dadurch ausgelöste spontane Reaktionen, ohne dass die damit verfolgten Absichten erkannt werden.

Nach Aussage der Gruppenfunktionäre ist bei vielen Mitgliedern das Vertrauen zur Partei der Arbeiterklasse und teilweise auch zum FDGB stark gestört. Ausdruck dafür ist auch, dass aus dem Bereich Außenwirtschaft inzwischen 13 Mitglieder ihren Austritt aus den FDGB erklärt haben.

Verstärkt wird die Frage gestellt, was der FDGB in der gegenwärtigen Situation als eigenständigen Beitrag zur Überwindung der Schwierigkeiten schnell und spürbar leisten will.

Der so genannte Gründungsaufruf wurde am Abend des 18.10.1989 von einem Pfarrer in einem noch verschärften Wortlaut, der sich nach unseren Informationen auch gegen die Kampfgruppen, Zivilverteidigung und deutsch-sowjetische Freundschaft wendet, vor einer größeren Menschenansammlung vor der Friedenskirche in Potsdam-Babelsberg verlesen.

Die Wirkung wurde zwar durch das klassenmäßige Auftreten des ebenfalls anwesenden Parteisekretärs des VEB Geräte- und Reglerwerke "Wilhelm Pieck" gemindert, dennoch wird breiter als vorher im Betrieb über den Aufruf diskutiert.

Die Lage im VEB Geräte- und Reglerwerke "Wilhelm Pieck" Teltow ist insgesamt von einer sehr kritischen, aber sachlichen Atmosphäre in den Produktionsbereichen charakterisiert.

Dagegen herrscht in den Bereichen, in denen die Intelligenz konzentriert ist, ein zunehmend aggressiver Ton, der von einigen Personen geschürt und für das Anheizen der Stimmung gegen die SED genutzt wird.

Das Sekretariat des Bezirksvorstandes des FDGB hat in einer Sondersitzung am 19.10.1989 zur Auswertung der 9. Tagung des ZK der SED aus das Vorkommnis in der Grundorganisation des VEB Geräte- und Reglerwerke kritisch ausgewertet und Maßnahmen festgelegt, wie der BGL und allen ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionären bei der Klärung von politischen Grundsatzfragen Hilfe und Unterstützung gegeben wird.

Gegenwärtig werden persönliche Gespräche mit dem Ziel geführt, veränderbare Probleme schnell zu lösen und diejenigen zu isolieren, die den Dialog mit unseren Mitgliedern in eine falsche Richtung zu lenken versuchen.

Die Stimmung im VEB Geräte- und Reglerwerke Teltow wird durch einige ungeklärte Fragen in der Plandurchführung, auf die die BGL in ihrer Stellungnahme aufmerksam gemacht hat, negativ beeinflusst.

Da auf die Stellungnahme der BGL bisher nicht reagiert wurde, habe ich in Absprache mit dem Zentralvorstand der IG Metall veranlasst, dass der Generaldirektor des VEB Kombinat Automatisierungsanlagen Berlin kurzfristig in einer BGL-Sitzung in Anwesenheit unseres Sekretärs für Arbeit und Löhne, der für die Unterstützung der BGL persönlich verantwortlich ist, zu den offenen Problemen Stellung nimmt.

Ich darf Dir, verehrter Genosse Vorsitzender, versichern, dass die hauptamtlichen Gewerkschaftskader unseres Bezirkes mit großer Energie in den Kreis- und Grundorganisationen wirken und der größte Teil der ehrenamtlichen Funktionäre bereit ist, aktiv an der Verwirklichung der von der 9. Tagung des ZK der SED vorgezeichneten Linie mitzuwirken.

Mit gewerkschaftlichen Gruß
Arthur C(...)

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