An alle Mitglieder des FDGB
Erklärung für eine grundlegende Erneuerung des FDGB als Gewerkschaftsbund freier unabhängiger Industriegewerkschaften und Gewerkschaften in der DDR
Die werktätigen Menschen, darunter viele Mitglieder der Gewerkschaftsbasis, haben die revolutionären Veränderungen in unserem Land für einen menschlichen, einen demokratischen Sozialismus und Rechtsstaat ausgelöst und sind deren treibende Kraft. Infolge einer politisch falschen Einschätzung der Lage und der Bindung seiner Vorstände an die Leitungen der SED stand der FDGB abwartend und handlungsunfähig am Rand des Geschehens. Die Ursachen dafür liegen vor allem in der widersprüchlichen Einordnung der Gewerkschaften in das zentralistische System des bisherigen Sozialismus, aus dem sich die gesamte Organisation nur zögernd herauslöst.
Die von den Industriegewerkschaften und Gewerkschaften ausgehende Erarbeitung von Positionen für die zukünftige Interessenvertretung entspricht dem mehrheitlichen Willen der Mitglieder nach der Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung in der DDR. Die Mitglieder fordern zu Recht, künftig selbst zu bestimmen, wer die Kolleginnen und Kollegen ihres Vertrauens sind und in welchen Strukturen sich die praktische Gewerkschaftsarbeit vollziehen soll. Erforderlich ist dazu die Neuformierung von der Basis aus. In freien und geheimen Wahlen wählen die Mitglieder der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften ihre Leitungen und Vorstände, die den Schutz und die Verwirklichung ihrer Interessen gewährleisten. Aus unserer Verantwortung den Mitgliedern gegenüber können wir nicht länger warten. Wir fordern ein Wirtschaftskonzept von der Regierung.
Was erwarten unsere Mitglieder?
• Starke, selbständige Industriegewerkschaften und Gewerkschaften, mit denen sich die Mitglieder auf neue Art und Weise identifizieren.
• Die Koordinierung des Wirkens der Industriegewerkschaften und Gewerkschaften im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund als Dachverband, der nur über einen kleinen Apparat auf zentraler, bezirklicher und kreislicher Ebene verfügt und die territoriale Vertretung wahrnimmt.
• Ein Gewerkschaftsgesetz, das die rechtswirksame Wahrnehmung gewerkschaftlicher Interessenvertretung sichert, einschließlich Regelungen für die Lösung kollektiver Arbeitskonflikte und für die Anwendung von gewerkschaftlichen Kampfmitteln. Der Schutz gewählter Gewerkschaftsvertreter muss gesichert sein. Der Entwurf des Gesetzes soll bis zum 15. Dezember vorliegen.
Das erfordert:
- Auf der Grundlage einer neuen Satzung des FDGB erarbeiten die Industriegewerkschaften und Gewerkschaften eigene Statuten.
- Einen außerordentlichen Kongress zur Formierung des FDGB als Dachverband.
Was ist sofort zu tun?
• Mit Entschiedenheit für die Aufdeckung aller Fälle von Amtsmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung in der Organisation zu wirken sowie die Bestrafung der dafür Verantwortlichen zu sichern.
• Klarheit über die Finanzlage des Bundesvorstandes, einschließlich der Devisen und der Mittel des Solidaritätsfonds zu schaffen.
• Die aktive, sachkundige Mitwirkung der Gewerkschaftsvertreter am Runden Tisch auf allen Ebenen, um gewerkschaftliche Standpunkte in den gesellschaftlichen Prozess der Erneuerung einzubringen.
• In geheimer und demokratischer Wahl die Delegierten zum außerordentlichen FDGB-Kongress zu wählen.
• Gestützt auf die Vorschläge und Hinweise der Mitglieder und Grundorganisationen sind die Entwürfe der Dokumente zum außerordentlichen FDGB-Kongress zu qualifizieren. Zwischenresultate sind zu veröffentlichen.
Tun wir gemeinsam alles, um mit starken, freien und unabhängigen Gewerkschaften unser Land auf dem Weg der gesellschaftlichen Erneuerung voranzubringen.
Tribüne, Mo. 11.12.1989, Organ des Bundesvorstandes des FDGB