UZ Interview mit dem Vorsitzenden der IG Metall der DDR
"Erste Aufgabe: Verlorenes Vertrauen zurückgewinnen"
Ende Januar führt der FDGB seinen außerordentlichen Bundeskongress durch. Im Vorfeld sprach die UZ mit dem Vorsitzenden der IG Metall, Hartwig Bugiel.
Hartwig Bugiel arbeitete in den letzten fünf Jahren als Vorsitzender der Betriebsgewerkschaftsleitung bei Zeiss in Jena. Am 27. November 1989 wurde der gelernte Maschinenschlosser - nach dem Ausschluss des Vorsitzenden Gerhard Nennstiel wegen Amtsmissbrauch - zum IG Metall-Vorsitzenden gewählt. Hartwig Bugiel ist einer der 33 Mitglieder des Komitees, das den außerordentlichen FDGB-Kongress vorbereitet.
UZ: Was steht in einem riesigen Aufgabenkatalog für den gewerkschaftlichen Neubeginn vorne an?
Hartwig Bugiel: Dir erste und wichtigste Aufgabe ist die Zurückgewinnung des verlorenen Vertrauens. Das Vertrauen in den FDGB ist stark angeknackt. Es ist in einigen Fällen überhaupt nicht mehr vorhanden. Die Ursachen dafür – Amtsmissbrauch, Korruption, die Machenschaften von Harry Tisch - sind hinlänglich bekannt. Die Rückgewinnung des Vertrauens ist ein schwieriger Prozess. Viele Vorhaben und Pläne werden von vornherein sehr misstrauisch beäugt.
UZ: Stimmt die derzeitige Gewerkschaftsführung mit den Vorstellungen der Mitgliedschaft überein?
Hartwig Bugiel: Unbedingt. Noch als ich bei Zeiss BGL-Vorsitzender war, haben wir gegen die Machenschaften protestiert und sofort Konsequenzen gefordert und schließlich auch durchgesetzt. Das war in vielen Betrieben so und auch im Zentralvorstand der IG Metall, der ja in den eigenen Reihen aufgeräumt hat.
UZ: Wie geht ihr die schwierige Aufgabe, einmal verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, an?
Hartwig Bugiel: Eine wichtige Voraussetzung dafür ist unserer Meinung nach der Abbau des überspitzten Zentralismus und die Zerschlagung der alten Machtstrukturen. Dazu bauen wird starke Industrie- und Einzelgewerkschaften auf, die selbstständig und in eigener Verantwortung die Interessen der Werktätigen in ihren Bereichen vertreten.
UZ: Gegen diese Entwicklung gab es meines Wissens bis in den November hinein starke Widerstände.
Hartwig Bugiel: Ja, die gab`s. Wir hatten scharfe Auseinandersetzungen zwischen den IGen und Einzelgewerkschaften auf der einen Seite und den Vertretern alten Denkens im Bundesvorstand.
UZ: Habt ihr euch mit euren Vorstellungen durchgesetzt?
Hartwig Bugiel: Davon zeugt der heute veröffentlichte Entwurf für eine neue Satzung. Der tragende Gedanke darin ist die freiwillige Vereinigung von derzeit 16 Gewerkschaften - eine 17 Gewerkschaft, die Polizeigewerkschaft ist im Entstehen - zu einem Bund. Eindeutig fixiert sind darin die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der IGen und Einzelgewerkschaften. Ihre Finanzhoheit ist eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, auch die Tarifautonomie, die organisatorische und programmatische Eigenständigkeit. Außerdem wollen wir starke Betriebsgewerkschaftsleitungen herausbilden, die als unmittelbare Partner gegenüber den Betriebsleitungen die Interessen der Belegschaften vertreten müssen.
UZ: Das ist neu und ungewohnt - wie steht's denn mit Blick auf die bisherige Dreieinigkeit von Betriebsleitung, Parteileitung und Gewerkschaftsleitung um die Betriebsgewerkschaftsleitungen?
Hartwig Bugiel: Diese Dreieinigkeit hat sich als total falsch herausgestellt Wir haben im Satzungsentwurf Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis gezogen: Wir sind künftig nur noch der Verfassung, der Satzung und den Interessen der Werktätigen verpflichtet; keiner Partei keinem Staat.
Der Zustand vor Ort ist differenziert. Es gibt Betriebsgewerkschaftsleitungen, die arbeiten nach wie vor stabil, mit einem hohen Organisationsgrad. Ich war kürzlich in Potsdam auf einer Beratung mit 50 Betriebsgewerkschaftsleitungen. Einige von ihnen arbeiten mit einem Organisationsgrad von über 90 Prozent und in einigen ist er bis auf 80 Prozent abgesunken. Ähnliche Tatsachen kenne ich aus anderen Bezirken.
UZ: Wie ist das angesichts solcher Tatsachen mit den gemeldeten Massenaustritten aus der Gewerkschaft?
Hartwig Bugiel: Auch das ist vor Ort sicher unterschiedlich. Bei Zeiss gibt es diese Massenaustritte nicht. Das weiß ich definitiv auch aus anderen Großbetrieben. Der BGL-Vorsitzende vom Stahl- und Walzwerk Henningsdorf sagt mir dass dort in der ganzen letzten Zeit von 8 000 Belegschaftsmitgliedern 300 ausgetreten sind. Und die sind in drei Wellen ausgetreten. Erstens nach Enthüllungen über Harry Tisch zweitens nach Bekanntwerden der Machenschaften von Gerhard Nennstiel und drittens nach Darlegung von gewerkschaftlichen Zielen durch die Kollegin Annelis Kimmel wie 40 Stunden Woche und Urlaubsverlängerung.
UZ: Sind die Kollegen denn gegen Arbeitszeitverkürzung und Urlaubsverlängerung?
Hartwig Bugiel: Nein. Überhaupt nicht. Aber die haben sich verklappst gefühlt. Die Kollegen an der Basis kennen die Lage in ihrem Betrieb und auch in der Wirtschaft und die wissen: Das ist Illusion, das sind unter unseren gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen unerfüllbare leere Versprechungen.
UZ: Die neue Satzung ist im Vergleich zur alten eine neue Welt?
Hartwig Bugiel: Wir haben damit die Gewerkschaftsarbeit weder vom Kopf auf die Füße gestellt. Aber mit einer neuen Satzung haben wir noch keine neue Gewerkschaft. Wir müssen sicher noch einen umfassenden Lernprozess durchmachen. Ein großes Umdenken wird erforderlich sein, vor allem bei Funktionären.
UZ: Dazu das Stichwort Tarifautonomie - bisher in der DDR-Gewerkschaft unbekannt.
Hartwig Bugiel: Das ist richtig. Wir müssen uns unsere Experten dafür schaffen, die wir noch nicht haben. Die IG Metall der Bundesrepublik wird uns dabei helfen, mit ihren Erfahrungen. Wir haben ja eine Übereinkunft - ihr habt ja darüber berichtet. Wir müssen viel lernen, bringen aber auch in den Erfahrungsaustausch unsere Erfahrungen ein, die für eure Kollegen wichtig sein können.
UZ: In der neuen Satzung fehlt der Begriff Betriebsräte. Darüber wird in der DDR aber eifrig diskutiert.
Hartwig Bugiel: Viele, die hier darüber diskutieren, meinen etwas anderes, als die Gewerkschaft unter Betriebsräten versteht. Für einige sollen Betriebsrate ein den Direktoren beigeordnetes gesellschaftliches Gremium bilden. Andere denken an vergleichbare Institutionen wie die Arbeiterräte in Polen und der UdSSR, die als Fachgremium ausschließlich Produktionsfragen beraten.
Nach unseren Erfahrungen erfüllen Betriebsgewerkschaftsleitungen dort, wo ein hoher Organisationsgrad ist, die Funktion der Interessenvertretung am besten. In solchen Betrieben steht die Frage Betriebsrate in der Belegschaft überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Ob in Betrieben mit extrem niedrigem Organisationsgrad Betriebsräte sinnvoll sein können, muss sich noch erweisen. Hier und heute hat eine Betriebsgewerkschaftsleitung mit dem Arbeitsgesetzbuch wesentlich mehr Recht, als ein Betriebsrat.
UZ: Die Gewerkschaft ist eine gesellschaftliche Kraft. An den Runden Tisch musstet ihr euch durchkämpfen. Wie ist das mit eigener Kandidatur zur Volkskammer?
Hartwig Bugiel: Wir haben da noch keine abgeschlossene Meinungsbildung. Deshalb sage ich dazu nur meine persönliche Meinung. Ich bin dafür, dass nur Parteien Kandidaten aufstellen.
Das Gespräch führte Werner Finkemaier
unsere zeit, Freitag, 19.01.1990