Außerordentlicher Gewerkschaftskongress
Als einheitliche, starke Kraft im Interesse der Kollegen
Den Bericht des Vorbereitungskomitees des Kongresses erstattete dessen Vorsitzender Werner Peplowski
Unserem außerordentlichen Kongress ist im wahrsten Sinne des Wortes eine außerordentliche Verantwortung auferlegt. Millionen von Gewerkschaftern richten ihren Blick, richten ihre Erwartungen in diesen Stunden auf uns, auf die Delegierten des außerordentlichen Kongresses, erklärte Werner Peplowski zu Beginn seiner Ausführungen.
Es geht ihnen in Tausenden von Wortmeldungen, an den Kongress gerichtet, wie uns allen um starke, freie und unabhängige Gewerkschaften, um eine Einheitsgewerkschaft, die in der Lage ist, die Interessen der Werktätigen in jeder politischen Situation gegenüber jeder Regierung und jedem Unternehmerverband zu vertreten und zu schützen. Es geht um eine starke Einheitsgewerkschaft, die sich von allem löst; was diesem Ziel widerspricht. Es geht uns einen Neubeginn der Gewerkschaften in der DDR, um starke Industriegewerkschaften und Gewerkschaften in einem Dachverband. Dieser Dachverband wird aus seinen 16 Mitgliedern, den IG/Gew. bestehen und nur ihnen gegenüber verpflichtet sein.
Einen FDGB im alten Stil wird es nach diesem Kongress nicht mehr geben. Neubeginn - das heißt auch Bruch mit allem Überlebtem, mit undemokratischen Machtstrukturen.
Neubeginn - heißt auch ein anderes Verhältnis zur Regierung, eine unabhängige Gewerkschaft als Gegenmacht, die nur den Interessen der Mitglieder verpflichtet ist, weil das die Forderungen der Basis sind, der Basis, die dafür gesorgt hat, dass die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung von unten nach oben erfolgt.
So sind wir als Komitee der 33 Kollegen am 9. Dezember, also vor 7 Wochen, angetreten. Der alte Bundesvorstand existierte nicht mehr. Wir - das sind die Vertreter der Betriebsgewerkschaftsleitungen, Vertreter aus Vorständen und Leitungen der IG/Gew., die das Mandat von ihren Kollektiven erhalten haben.
Zentralistisches Modell war zu zerschlagen
Wir alle hatten nur ein Ziel: durch den Wirrwarr der vorliegenden Materialien schnell zu dem zu kommen, was die Mitglieder interessiert, was sie in diesen Tagen brauchen. Dabei war Sprachlosigkeit zu überwinden. Ein neues Verhältnis von IG/Gew. zum Dachverband war zu erarbeiten, und das zentralistische Grundmodell der Interessenvertretung war zu zerschlagen.
1. Eine neue Satzung des Dachverbandes begründet ein neues basisdemokratisches Grundmodell der gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Die Mitglieder sollen in einer Solidargemeinschaft ihre Rechte erhalten. Diesem soll ein Bund der IG/Gew. dienen, in Unabhängigkeit, Freiheit und Eigenständigkeit.
2. Zu einem neuen Selbstverständnis der Gewerkschaften gehört ein Gewerkschaftsgesetz. Damit sollen die gewerkschaftliche Mitbestimmung im Betrieb, die gewerkschaftlichen Kampfmittel zur Durchsetzung der Interessen und die personelle und finanzielle Sicherung der Interessenvertretung im Betrieb sichergestellt werden, und zwar in Betrieben und Einrichtungen aller Eigentumsformen. Festgeschrieben werden sollen Streikrecht, Aussperrungsverbot und der Rechtsschutz der Gewerkschaftsmitglieder.
Zum neuen Selbstverständnis gehört 3. ein Aktionsprogramm, welches basisdemokratisch erarbeitet wurde. Du ist ein weiteres Zeichen dafür, dass sich der Gewerkschaftsbund wirklich frei und unabhängig zu entwickeln beginnt, dass sich Menschen unabhängig von Parteizugehörigkeit, von Weltanschauung und Religion in ihm zum Schutz ihrer Interessen organisieren können und an der Erneuerung mitwirken. Wenn das Aktionsprogramm von euch beschlossen wird, dann werden die Gewerkschaften derart zu messen sein, wie sie diesem Basisprogramm Rechnung tragen, wie sie es verwirklichen.
4. Neues Selbstverständnis entwickeln heißt auch mit der Vergangenheit abrechnen und brechen. Dazu wird ein Bericht des Untersuchungsausschusses über Korruption und Amtsmissbrauch vorgetragen Darin sind Schlussfolgerungen und Vorschläge unterbreitet, wie weiter zu verfahren ist, damit die Schuldigen rechtlich, materiell und moralisch zur Verantwortung gezogen werden. Dank dem Untersuchungsausschuss unter Leitung von Rainer Schramm ist es gelungen, Licht in das Dunkel des Amtsmissbrauchs und der Korruption der Führung des FDGB zu bringen. Nachdem Kollege Schramm diesen Bericht vorgetragen hat. wird er in der "Tribüne" veröffentlicht.
5. Ein finanzpolitischer Bericht, der von den Mitgliedern gefordert wird, liegt euch vor. Und dennoch bleibt eine Reihe von Fragen offen. Der neue Vorstand wird auf der Grundlage der Finanzhoheit der IG/Gew. die Finanzarbeit neu regeln und kontinuierlich öffentlich Rechenschaft abzulegen haben. Eine Finanzarbeit also nach dem Motto der "gläsernen Taschen".
Wir sind uns auch darüber im klaren, dass die Abrechnung mit der Vergangenheit schwer ist und in dieser kurzen Zeit offensichtlich begrenzt. Dennoch haben wir uns entschieden, euch 6. den Geschäftsbericht, der vor allem von ehemaligen Sekretären des Bundesvorstandes erarbeitet wurde, ungekürzt vorzulegen. Ich möchte dazu keinen Kommentar geben.
7. Auch der Bericht der Zentralen Revisionskommission liegt euch vor. Und es ist bezeichnend, dass diese Kommission im Erkennen ihrer Hilflosigkeit vergangene Woche zurückgetreten ist.
Mit der neuen Satzung werden zugleich Grundlagen gelegt für die Selbständigkeit der IG/Gew. dazugehört die finanzielle Selbständigkeit. Dafür sind Voraussetzungen geschaffen, bis zum 30. 6. diese finanzielle Selbständigkeit abzuschließen, das heißt eigene Konten einzurichten, eigene Beitragsordnungen zu beschließen, eigene Finanzrichtlinien, also wahre Selbständigkeit herzustellen. Das heißt auch, dass sich ein künftiges Mitglied nicht mehr FDGB-Mitglied nennt, sondern Mitglied der Industriegewerkschaft oder Gewerkschaft. Zur Selbständigkeit gehört auch, dass Bedingungen zu entwickeln sind, die Tarifautonomie den IG/ Gew. nicht nur zuzubilligen, sondern sie auch möglich zu machen. Es gehört jedoch auch zur Selbständigkeit, dass die Mitglieder in den IG/Gew, sachkundig beraten werden; und dazu sind Umschulungen und Qualifizierungen, vor allem auf dem Gebiet des Tarif- und Arbeitsrechts, notwendig.
Weiterhin liegen Grundsatzanträge vor, die wir für eine Erneuerung der Gewerkschaft als unbedingt erforderlich betrachten und die zugleich euren über 8 000 Wortmeldungen entsprechen. Damit ist von den Materialien her der Auftrag, den das Vorbereitungskomitee hatte, Punkt für Punkt abgearbeitet. Gestattet bitte, dass ich mich bedanke bei allen Mitgliedern des Vorbereitungskomitees. Dank sage ich auch den Spezialisten im Haus des Bundes, in den Konsultationsstellen, die in allen Territorien existierten. Dank auch den Kollegen am Runden Tisch.
Besorgniserregend: DDR-Wirtschaft
Die DDR-Wirtschaft befindet sich in einer besorgniserregenden Lage, die sich weiter verschlechtert. Die gegenwärtige Regierungskoalition erweist sich als zerbrechlich. Sie macht als Regierung der nationalen Verantwortung den Vorschlag, dass die Gewerkschaft einen Ministerposten ohne Geschäftsbereich übernimmt. Wir haben uns hier zu diesem Vorschlag zu verständigen und darüber noch heute zu entscheiden.
Ein latenter Prozess gesellschaftlicher Spaltung wird immer offensichtlicher und der Ruf nach der Einheit Deutschlands lauter. Mancher befürchtet eine offene Ellenbogen- und Umverteilungspolitik, und es greifen neue soziale Ängste um sich und verunsichern breite Bevölkerungsteile. Die Furcht wächst, Billiglohnland der BRD zu werden. Die Frage wird laut: Wer wird in Zukunft über Wohlstand oder soziales Elend für die anderen entscheiden?
Der internationale, besonders der europäische Markt wird für die entstehende soziale Marktwirtschaft in unserem Land zum unbestechlichen Maßstab der eigenen Leistungskraft. Daraus erwachsen jetzt und künftig neue internationale Verpflichtungen der Gewerkschaften. Wenn wir das Billiglohnland Europo werden, werden damit die gewerkschaftlichen Errungenschaften der europäischen Kollegen gefährdet! Werden unsere gewerkschaftlichen Rechte in den Betrieben erhalten und ausgebaut, dann werden die europäischen Kollegen daran erstarken! Solidarität wird also jetzt im wahrsten Sinne zu einer Lebensfrage für europäische Gewerkschaften.
Wir stehen also als Gewerkschaft mittendrin. Wir dürfen uns der Verantwortung nicht entziehen. Wir brauchen die Solidarität in einer starken Einheitsgewerkschaft. Dazu ist notwendig: Solidarität, Autorität, Kompetenz, die wir uns erarbeiten müssen.
Wir haben als Komitee von der Regierung gefordert, jede Maßnahme, die die Werktätigen betreffen, den Gewerkschaften offenzulegen. Wir haben erwirkt, dass die Ministerinnen, Frau Prof. Luft, Frau Mensch und die ehemalige Finanzministerin Nickel, das Komitee informierten und selbst spürten, dass in diesem Komitee ein anderer Wind weht als in früherer Gewerkschaftsvertretung.
Wir fordern Maßnahmen zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit durch Arbeitsbeschaffungs- und Umschulungsprogramme. Verkürzung der Tages-, Wochen-und Lebensarbeitszeit sowie durch eine Vorruhestandsregelung. Der Staat hat die Garantie zu übernehmen, dass zeitweilig von Arbeitslosigkeit Betroffene sozial sichergestellt werden. Dazu sind finanzielle Mittel bereitzustellen. Erforderlich sind klare Konzepte zur Reallohnentwicklung sowie zur Beteiligung der Werktätigen am Betriebsergebnis. Der persönlich erarbeitete Lohn muss garantiert werden.
Es sind rechtliche Regelungen zur Erarbeitung von Sozialprojekten bei Rationalisierungsmaßnahmen und Strukturveränderungen dm Rahmen eines Schutzabkommens zwischen dem Dachverband der Gewerkschaften und der Regierung zu vereinbaren.
Das Vorbereitungskomitee hat in den letzten Wochen in mehreren Fällen Einspruch erhoben und teilweise energisch protestiert, dass in den Betrieben Verfassungs- und AGB-Rechte der Gewerkschaften eingeschränkt und zum Teil außer Kraft gesetzt wurden. Diese Tendenz hat sich leider in den letzten Wochen auch in der Gesetzgebung bemerkbar gemacht. Zum Teil blieben berechtigte Forderungen der Gewerkschaften unbeachtet oder wurden eingeschränkt oder gar nicht in Rechtsvorschriften berücksichtigt.
So z. B. wurde in der Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Unternehmen mit ausländischer Beteiligung die der Regierung schriftlich übergebene Forderung, die gesetzlichen Zustimmungsrechte in die Verordnung aufzunehmen, ohne Rücksprache mit der Gewerkschaft auf eine gewerkschaftliche Stellungnahme reduziert. Dagegen wenden wir uns. Im äußersten Fall, wenn es um die Auflösung von Betrieben, um die Einstellung der Produktion oder um Produktionsumstellungen, die Entlassung von Belegschaftsangehörigen oder die Schließung betrieblicher sozialer Einrichtungen geht, verlangen wir entsprechend unserem Aktionsprogramm ein Einspruchsrecht.
Des weiteren finden gegenwärtig Auseinandersetzungen bei der Ausarbeitung des sogenannten Wirtschaftspaketes statt. In den uni vorliegenden Entwürfen wird überwiegend die demokratische Mitbestimmung auf Betriebsräte, Sozial- und Verwaltungsräte reduziert. Hier wird BRD-Recht auf die DDR übertragen. Einsprüche der Gewerkschaften in den Arbeitsgruppen blieben unberücksichtigt. Wir verlangen, dass die gesetzlichen Rechte der Gewerkschaften in der geltenden Verfassung und im AGB volle Anwendung finden.
Kollegen, und schon heute und täglich mehr spüren Menschen in unserem Lande, was es heißt arbeitslos zu sein und in diesem Falle völlig unzureichend rechtlich gesichert. Und es ist doch bezeichnend, wie sich die Regierung vornehm um diese knallharte Tatsache herumzudrücken versucht.
In einer Mitteilung der Pressestelle des Ministeriums für Arbeit und Löhne vom 23. Januar 1990 kann man lesen, dass die Angaben der Gewerkschaftshochschule jeglicher Grundlage entbehren. Es geht darum, so wörtlich, dass mit Stand vom 22. Januar 1990 an 51 413 Werktätige neue Arbeitsplätze zu vermitteln" seien. Warum wohl werden Gewerkschaften gleich dementiert, die Dinge beim Namen nennen?
Kollegen, es ist mehr als blauäugig, es ist eine Milchmädchenrechnung, wenn davon ausgegangen wird, so und soviel freigesetzte Arbeitskräfte und so und soviel freie Stellen gibt es, und deshalb seien „nur" neue Arbeitsplätze zu vermitteln. Man hört ja förmlich Herrn Blüm heraus! Noch wirkt die Stimmung in der Bevölkerung, dass die zur Zeit freigesetzten Arbeitskräfte aus einer Reduzierung des Apparates von Ministerien, Parteien, Organisationen und auch des FDGB selbst resultieren.
Hierüber wird sogar Genugtuung empfunden. Aber ist es wirklich schon jedem klar, dass ihn schon bald das gleiche Schicksal ereilen kann? Wirtschaftsreform und Rationalisierung unter Bedingungen von Kapitalbeteiligung wird eine Freisetzung von Arbeitskräften bringen, deren Dimensionen noch gar nicht vorstellbar sind.
Wir brauchen eine Gesundung der zerrütteten Wirtschaft, demzufolge auch Rationalisierung, Umstrukturierung. Aber wo bleiben die Maßnahmen zur sozialen Sicherung der Werktätigen? Wo sind Umschulungsprogramme? Wer soll die Umschulung bezahlen? Wie werden die Menschen sozial gesichert, solange sie keine andere Arbeit haben?
Wir verlangen Antwort von der Regierung. Wir brauchen dringend eine Reform der Preis- und Subventionspolitik. Wir brauchen sie schnell, um uns vor Ausverkauf zu schützen. Mehr noch, Kollegen! Gerade in dieser komplizierten Zeit, wo sich die Parteienlandschaft in unserem Land sehr zerklüftet zeigt, wo neue Parteien, Bürgerbewegungen und Organisationen unermüdlich um die Sicherung von Mitbestimmungsrechten kämpfen, da beginnt man nicht nur in den Betrieben und Einrichtungen, die Gewerkschaften zu behindern, nein, da kündigt die Regierung kurzerhand ein Betriebsrätegesetz an. Und nach allem, was wir bisher wissen, laufen die Bestrebungen darauf hinaus, den Betriebsräten die Rechte der Gewerkschaften zu übertragen.
Heftige Debatte um Mitbestimmungsformen
Wenn wir vor der Installation von Betriebsräten warnen, dann, weil wir die Konsequenz sehen, dass die Gewerkschaften auf diesem Weg nicht nur weiter geschwächt, sondern zunehmend entrechtet werden. Unsere klare Haltung richtet sich nicht gegen die vielen Kollegen, die um die Bildung von Betriebsräten kämpfen. Sie sind vielfach enttäuscht, verbittert über ungenügende gewerkschaftliche Interessenvertretung bisher.
Viele wollen keine einfache Übernahme oder Kopie der Betriebsräte in der BRD, das zeigen schon die unterschiedlichen Begriffe für verschiedene Mitbestimmungsformen. Aber es wird diskutiert und diskutiert um mögliche Formen demokratischer Mitbestimmung. Das ist völlig verständlich, nachdem Mitbestimmung in diesem Lande nur auf dem Papier stand. Aber in der Zeit laufen die Verhandlungen mit Unternehmerverbänden und Unternehmern auf vollen Touren. Betriebsdirektoren und Unternehmer geben sich schon gegenseitig die Klinke in die Hand. Unternehmerverband in der DDR ist schon reale Tatsame. Unsere vielen und langen Diskussionen, ob nun solch ein Rat oder ein anderer, der ohnehin noch keine Rechte hat, arbeiten nur den Unternehmern in die Hände. Die ladenden Dritten werden sie sein.
Auf diesem Kongress muss es darum gehen, dafür zu sorgen, dass es in diesem Land noch eine einheitliche und starke Kraft gibt, die die Interessen der Werktätigen schützen kann. Hier geht es um zukünftige Lebensbedingungen und -interessen von Millionen Menschen, die in diesem Land geblieben sind und weiter hier leben wollen.
Noch rund 8,6 Millionen Mitglieder
Wir haben uns einen aktuellen Überblick über die Mitgliederstärke verschafft. Die Gewerkschaften haben nach Stand der letzten Woche 8 629 967 Mitglieder. Damit hat sich die Zahl der Mitglieder gegenüber dem Vorjahr um 983 092 = 10,2 Prozent verringert. Das ist bedauerlich! Wir müssen ihr Vertrauen wiedergewinnen durch Arbeit.
Gewerkschaftsarbeit heißt künftig deshalb für uns:
- die konsequente Demokratisierung von unten nach oben, beginnend mit den Wahlen;
- jederzeitige Rechenschaftslegung über die Finanzen;
- jederzeitige Möglichkeit zur Abwahl gewählter Interessenvertreter. das Recht und die Notwendigkeit zur öffentlichen Kritik an allen Leitungen und deren Pflicht, sich dem zu stellen;
- konsequente Realisierung des Prinzips "Der gewählte Vertrauensmann bis hin zum Vorsitzenden ist für die Mitglieder da und nicht umgekehrt". Das heißt auch: für niemanden mehr gibt es Privilegien und Sonderrechte.
Wenn sich Millionen von Gewerkschaftern einheitlich und solidarisch zum Schutz ihrer Interessen zusammenschließen und um ihre Rechte kämpfen, dann kann in diesem Land niemand daran vorbei. Und, Kollegen, wir wollen nicht nur darum kämpfen, bisherige Rechte zu erhalten, sondern wir wollen Erweiterung der Rechte entsprechend den neu entstandenen Bedingungen und gegen den Abbau vorhandener Redete eintreten.
Jetzt gehen viele Kollegen auf die Straße - Milchfahrer, Ärzte und Schwestern, Transportarbeiter, quer durch alle Berufe, die zunehmend mehr um soziale Gerechtigkeit, Lohn und soziale Sicherheit kämpfen. Wir können und wollen als Gewerkschaften nicht danebenstehen, natürlich wissend, hier geht es um Existenzbedingungen auch unseres Landes. Um so mehr müssen wir uns zu Interessenvertretern entwickeln und an die Spitze stellen. Und darum sind unsere Grundsatzanträge, bezogen auf das soziale Paket, die auch vorliegen, so umfangreich.
Kollegen, noch ein gewichtiges Problem, das mit massiver Kritik an der bisherigen gewerkschaftlichen Interessenvertretung verbunden ist, das ist die bisherige mangelhafte Vertretung der Interessen der Angestellten und der Intelligenz, besonders der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in den Betrieben.
Und da geht es nicht nur um das Steuerproblem, welches als Grundsatzantrag an den Kongress zur Steuerreform auf dem Tisch liegt, sondern es geht auch darum, dass Berufsgruppenarbeit in den IG/Gew. zu entwickeln ist. Diskutiert in den Betrieben und Einrichtungen, wie sich die Leitungen am günstigsten zusammensetzen müssen, damit die Interessen aller Kollegen zum Ausdruck gebracht und vertreten werden können.
Bildet Kommissionen oder nennt sie auch Räte, in denen Spezialisten sind, die sich z. B. in Fragen Rationalisierung und Investitionen genau auskennen. Fachkompetenz wird jetzt das Entscheidende sein.
Über Interessen zu reden ist das eine. Aber das Entscheidende ist, sie durchsetzen zu können. Deshalb überlegt genau, wie ihr Fachkenntnisse und Erfahrungen von Gewerkschaftern nutzen könnt, die bisher Gewerkschaftsarbeit gemacht haben.
Viele von ihnen hatten resigniert, haben es aufgegeben, wie Don Quichotte gegen Windmühlenflügel zu kämpfen. Seht sie euch genau an. Manche leben jetzt richtig auf, weil sie nicht mehr für eigene Ideen und Vorstellungen Disziplinierung fürchten müssen. Kollegen, bezeichnet sie nicht leichtfertig als Wendehälse. Redet mit ihnen, hört, was dahintersteckt, und findet wenn möglich, wieder Vertrauen zueinander. Grenzt niemanden aus!
Ein nur Name oder nicht?
Kollegen! Bisher habe ich weitestgehend vermieden, den Namen FDGB auszusprechen. In den letzten Tagen vor dem Kongress mehrten sich die Stimmen, die sich als sichtbares Zeichen der Erneuerung der Gewerkschaften für einen neuen Namen aussprachen.
Kollegen, im ersten Moment waren wir alle dafür, denn es wird für niemanden günstig sein, unter dem von der alten Führung diskreditierten Namen aufzutreten. Wir haben uns mit Experten, vor allem mit Rechtsexperten, verständigt. Sie haben uns dringend davor gewarnt, hier übereilte Schritte vorzunehmen, die weitgehende rechtliche Folgen haben können. Wir haben Gutachten angefordert, die uns die Konsequenzen eines solchen Schrittes aufzeigen, bevor wir entscheiden sollten.
Es geht um die Sicherung grundlegender Verfassungsrechte, denn der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund ist namentlich in der Verfassung und dem AGB verankert. Es geht wahrscheinlich um Millionenbeträge, die für eine Umbenennung zu zahlen sind, denn die Höhe des Betrages richtet sich nach dem Vermögenswert. Es geht also um Millionen, die letztlich von Mitgliedsbeiträgen abgedeckt werden müssten. Es geht auch um die Sicherung des Vermögens insgesamt, das vor allem auch Ergebnis von Beiträgen der Mitglieder ist.
Deshalb wäre es günstig, eine solch weitreichende Entscheidung nicht ohne Kenntnis der Konsequenzen zu treffen. Wir schlagen euch vor, dass der neue Vorstand beauftragt wird, öffentlich darüber zu informieren. Dann sollen die Mitglieder in einer Urabstimmung darüber entscheiden. Es geht um Gelder und um eine politische Entscheidung, die jedes einzelne Mitglied eingebracht hat: deshalb sollte auch jeder für sich entscheiden können. Fangen wir mit der Veränderung der belasteten Symbolik an.
Unseren Auftrag als Komitee haben wir so verstanden, dass die Werte, die von Beitragsmitteln geschaffen worden sind, von uns erhalten und für die Interessen der Mitglieder genutzt werden. Wir haben nichts verschenkt und damit keinen Popularismus aufgemacht. Das betrifft die Gästehäuser ebenso wie anderes Eigentum des FDGB.
Bei den Überlegungen zur effektiven Nutzung sind wir auch nicht davon ausgegangen, wie die Geier auf die Westmark zu sehen, sondern mit dem Vorhandenen soziale Lösungen vorzuschlagen. Auf dieser Grundlage liegen ja einige Anträge zur effektiven Nutzung gewerkschaftlichen Eigentums vor. Das betrifft auch die Verwendung der 50 Millionen Mark Solidaritätsbeitrag, den die FDJ an uns zurückgeführt hat und über deren Verwendung der außerordentliche Kongress entscheiden soll. Dazu liegen Anträge vom Rehabilitationszentrum, vom Blinden- und Sehschwachenverband, von Feierabend- und Pflegeheimen und der Volkssolidarität vor.
In den Verhandlungen mit der Regierung hat das Vorbereitungskomitee erreicht, dass die Regierung Garantien zu folgenden für unsere gewerkschaftliche Arbeit wichtigen Positionen geleistet hat:
1. Der Anteil für die Sozialversicherung aus dem Staatshaushalt wird für 1990 gewährt.
2. Für den FDGB-Feriendienst sind die beantragten Mittel für das Jahr 1990 bestätigt.
3. Die Valutamittel des Staates für die internationalen Verpflichtungen werden an den FDGB überwiesen.
Lasst uns diesen Kongress zu einem Kongress des Neubeginns machen. Lassen wir ihn zu einem ersten Schritt werden, bei dem die Demokratie vom Kopf auf die Füße gestellt wird.
Lasst ins solidarisch zusammenstehen beim gewerkschaftlichen Kampf um den Schutz unserer Interessen!
Lasst uns mit dem außerordentlichen Kongress Voraussetzungen und Bedingungen schaffen, damit der geschäftsführende Vorstand die Verhandlungen mit der Regierung fortsetzen kann.
Lasst uns mit dem außerordentlichen Kongress einen wichtigen Schritt der Erneuerung der Gewerkschaften vollziehen, der über die Wahlen von unten nach oben in den IG/Gew. fortgesetzt wird und mit dem außerordentlichen Kongress des FDGB im Herbst dies Jahres seinen Abschluss findet.
Kollegen, in unseren Händen liegt das Schicksal unserer Organisation, von unseren Entscheidungen wird der Schutz der Interessen von Millionen von Menschen abhängen, deshalb lasst uns mit großem Verantwortungsbewusstsein arbeiten.
Tribüne, Nr. 23, Do. 01.02.1990