Veränderte Verfassungslage durch den Staatsvertrag

BZ-Gespräch mit dem Volkskammervizepräsidenten Dr. Wolfgang Ullmann

Erfahrungen parlamentarischer Arbeit unter den Rahmenbedingungen, die Staatsvertrag und Vorbereitungen zur Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik abstecken, waren Themen eines BZ-Gesprächs mit Dr. Wolfgang Ullmann (Demokratie Jetzt), stellvertretender Volkskammerpräsident und Vorsitzender der Fraktion Bündnis 90/Grüne.

BZ: Man könnte Sie als das demokratische Gewissen der Volkskammer bezeichnen. Sie sind angesichts des hier teilweise sehr gering ausgeprägten Demokratieverständnisses so etwas wie der Rufer in der Wüste?

Dr. Ullmann: Ich hoffe nicht, ein Rufer in der Wüste zu sein. Das ist ein prophetischer Rang, der Johannes dem Täufer gebührt. Ich denke und hoffe, dass ich im Namen dieses Gewissens spreche, auch des Gewissens der Abgeordneten in anderen Fraktionen, nicht nur meiner eigenen.

BZ: Wie stellen Sie sich vor, wird unser Land aussehen, wenn der Staatsvertrag in Kraft getreten ist?

Dr. Ullmann: Ich habe mich zu diesem Thema schon immer sehr deutlich in der Öffentlichkeit geäußert. Ich hoffe, dass die dunklen Vorhersagen, die es gibt, nicht in voller Härte eintreffen. Freilich stimmen alle Sachkundigen dann überein, dass das Ganze ein sehr riskantes Unternehmen ist. Und zwar der riskanteste aller Wege, die man beschreiten kann. Dennoch habe ich die Hoffnung, am Ende möge etwas herauskommen, das den Leuten in diesem Lande wirklich hilft, ihrer Freiheit, ihrer Menschenwürde, aber auch ihrem Wohlergehen dienlich ist. Darum muss freilich immer noch gekämpft werden. Sie wissen ja, dass die SPD sich um Ergänzungen bemüht. Dabei zeigt sich die ganze Problematik eines Staatsvertrages, der in der Form kaum veränderbar ist. Das ist der Grund, warum ich dieses Verfahren so stark als undemokratisch kritisiert habe. Was mich im Augenblick beschäftigt, ebenso sehr wie die Besorgnis um die wirtschaftlichen Folgen, das ist die Veränderung des Verfassungsrechtes. Ich habe in der Volkskammer und im Ausschuss für Deutsche Einheit in Bonn darauf hingewiesen - der Staatsvertrag verändert die Verfassungslage. Er ist de facto eine neue Verfassung. Und schon das ist etwas, was es eigentlich in dieser Form nicht geben darf. Man kann nicht ohne einen Volksentscheid einem Land eine neue Verfassung geben.

BZ: Maßgebliche Politiker der BRD schließen einen Volksentscheid dort mit dem Hinweis auf das Grundgesetz aus. Artikel 146 des GrundgesetzesArtikel 146 sieht jedoch vor, die Einheit gerade durch eine neue Verfassung zu vollenden.

Dr. Ullmann: Ja, außerdem ist der Weg des Volksentscheids im Artikel 20 vorgesehen, der die Wahrnehmung der Grundrechte durch Wahl und Abstimmung sichert. Nun wird herumgerätselt an dem Wort Abstimmung. Aber aus der Geschichte des Grundgesetzes kann man sehr genau erklären, dass es sich hier tatsächlich um den Volksentscheid handelt. Es ist eine bedenkliche Auffassung von Demokratie, wenn man auf einmal behauptet, Volksentscheid sei etwas Gefährliches oder nicht Nötiges. Die Begründungen sind äußerst fadenscheiniger Natur.

BZ: Der Weg in die deutsche Einheit ist mit dem Staatsvertrag vorgezeichnet. Wie kann man ihn für die Bevölkerung einsehbarer machen?

Dr. Ullmann: Eben indem man so wie die Berliner Zeitung arbeitet - und ich bin froh, dass es sie gibt. Indem man die Politiker fragt, was sagt ihr denn dazu. Das halte ich für eine ganz wichtige Aufgabe. Und ich bin sehr dankbar, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu der Sache zu sprechen. Beim Fernsehen hat man den Eindruck, es gibt sich schon wieder Mühe, der Regierung möglichst wenig Schwierigkeiten zu machen und nur das an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, was da an guten Ratschlägen kommt - zuversichtlich zu sein und hoffnungsvoll, sich nicht zu verweigern und aktiv zu sein.

Das ist ja alles gar nicht schlecht. Bloß wenn man die DDR-Bürgerinnen und -Bürger in eine Lage bringt, in der sie garantiert keine Investoren sein können und keine Firmengründer . . . Und wenn ich frage, was z. B. aus dem Industriegebiet um Leuna wird, dann bekomme ich keine Antwort. Nur gerüchteweise erfahre ich, dass die beiden deutschen Regierungen darüber verhandeln, Gelder auszugeben, damit hier einige Betriebe ein oder zwei Jahre länger produzieren können, damit es nicht zu sehr kracht. Aber andererseits fehlt ein Plan zur Umgestaltung der völlig veralteten Industrie. Das müsste man doch als erstes machen. Von Seiten des Wirtschaftsministers ist da nichts gekommen, nur von Seiten einiger Industrieller der Bundesrepublik.

BZ: Die Tatsache, dass einzelne Regierungsvertreter nicht bereit oder in der Lage sind, Antwort auf konkrete Fragen der Bürger nach künftigen Entwicklungen zu geben, lässt zwei Schlüsse zu einmal, man wartet, gebunden durch den Staatsvertrag, auf Signale aus Bonn, zum anderen scheint sich hier und da nicht ausreichende Sachkunde zu dokumentieren.

Dr. Ullmann: Ich kann diese Beurteilungen leider nur bestätigen. Ein bekanntes Beispiel ist ja dieses : Im Staatsvertrag wird die vage Hoffnung aufrechterhalten, dass die Bürger für ihre nicht 1:1 umgewerteten Sparguthaben Anteilsrechte am volkseigenen Vermögen bekommen. Der Wirtschaftsminister hat wieder und wieder von Vorkaufsrechten gesprochen und das, was sogar der Staatsvertrag als Anteilsrecht festschreibt, so unter der Hand in ein Vorkaufsrecht verwandelt.

BZ: Es sind im Staatsvertrag zunächst 30 Gesetze genannt, die wir von der BRD übernehmen. weitere werden angepasst. Diese Prozesse müssen weitergehen. Doch kann die Rechtslage unter diesen Bedingungen noch genau fixiert werden?

Dr. Ullmann: Es ist immer weniger klar, welche exekutiven Vollmachten diese Regierung überhaupt noch hat. Das ist für die DDR-Bürger eine unerträgliche Situation. Viele Fragen sind noch immer offen, auch was aus Mietrechten, Häusern und Grundstücken wird.

BZ: Wie werden Sie als stellvertretender Volkskammerpräsident und Abgeordneter hier Einfluss nehmen?

Dr. Ullmann: Die Lage ist natürlich äußerst ungünstig für unsere Bürger, wenn sie in diesem Maße von denjenigen verlassen werden, die ihre rechtmäßigen Vertreter, Sachwalter und Anwälte sein sollten. Aber trotzdem muss unsereiner versuchen, gewisse Grundlagen immer wieder festzuklopfen. Ich habe Schritte im Verfassungsausschuss vor, und ich habe auch eine Initiative ergriffen, an namhafte Persönlichkeiten auf internationaler Ebene heranzutreten, um diese unzureichende Rechtslage der DDR-Bevölkerung deutlich zu machen und ein internationales Forum zu schaffen, vor dem Vertreter des Mieterbundes oder des Bundes der Volksaktieninhaber ihre Anliegen vortragen können.

Ich kann das schließlich nicht auf sich beruhen lassen, wenn ich einen ganzen Waschkorb voll mit Anträgen auf Volksaktien habe. Ich muss alles, was möglich ist, unternehmen, um die Rechte unserer Bevölkerung zu sichern.

Das Gespräch führte
Bettina Urbanski

Berliner Zeitung, Do. 31.05.1990, Jahrgang 46, Ausgabe 125. Die Redaktion wurde mit dem Karl-Marx-Orden, dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Orden "Banner der Arbeit" ausgezeichnet.

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