Leichenfledderei

Gefährliche Mischung aus nationaler Euphorie und sozialer Angst

GASTKOMMENTAR

Ob wir denn immer noch was von der DDR retten wollten. Mit dieser Rückfrage von Westbesuchern muss dieser Tage rechnen, wer das Tempo und vor allem die Art und Weise zynisch nennt, mit der die Bundesregierung sich an die Aufteilung der Beute heranmacht. Als wäre es nicht genug gewesen, die seit 1933 ersten freien Wahlen auf dem Territorium der DDR zur Vorwahl für Bundestagswahlen zu entwerten. Die großen Parteien der Bundesrepublik haben ihre Visitenkarten abgegeben und erwiesen sich letztlich als Kartelle zur Entmachtung des Bürgerwillens in der DDR. Bei den Gesprächen zwischen Kohl und Modrow wurde nun die bedingungslose Kapitulation verlangt. Der Sieger diktiert dem Besiegten die Bedingungen. Mit der Existenzangst der kleinen Leute - ob diese Angst begründet ist oder nicht sei dahingestellt - wird Politik gemacht. Genau diese Politik aber zeugt nur noch davon, dass die hehren Bekundungen des Respekts vor dem Selbstbestimmungsrecht der Menschen im schwachen deutschen Staat bloße Lippenbekenntnisse sind.

Die SED hat eine Tabula rasa hinterlassen - kein Sozialsystem, keine Rechtsstrukturen, keine funktionierende Öffentlichkeit. Wer jetzt schon unter diesen Voraussetzungen Fakten schafft, die auch eine frei gewählte Regierung nach dem 18. März nur noch absegnen kann, entmündigt die Menschen in der DDR ein weiteres Mal.

Durch die Forcierung des Tempos zur Einheit, das nun nicht mehr von Demonstranten und Übersiedlern bestimmt wird, ist eine neue Situation entstanden, in der nationale Euphorie mit sozialer Angst einhergeht. Diese Gefühlsmischung war in Deutschland der Demokratie im Innern und guter Nachbarschaft nach außen noch nie förderlich. Auch die SPD hat auf das deutsche Gaspedal gedrückt, in der wohlmeinenden Absicht, das nationale Thema nicht den rechtskonservativen Kräften zu überlassen. Nun muss sie sich der Erkenntnis stellen, dass mit solch hausgemachtem Treibstoff der Motor für die europäische Integration doch nicht läuft wie erwartet.

Vom SED-Staat wollte die Opposition nie etwas retten. Die Bewahrung der staatlichen Eigenständigkeit schien allerdings geraume Zeit geboten, um die innere Demokratisierung voranzubringen und den Weg zur politischen Einigung in Ruhe beraten und mit den europäischen Nachbarn abstimmen zu können. Nun geht es nur noch darum, die Würde des Schwachen gegenüber dem Starken zu wahren, und dafür ist es noch immer nicht zu spät. Es könnte nämlich geschehen, dass die Politik der vollendeten Tatsachen als das erkannt wird, was sie ist: Leichenfledderei.

Ludwig Mehlhorn

Der Autor ist Gründungsmitglied der Bürgerbewegung 'Demokratie jetzt' und lebt in Ost-Berlin

die Tageszeitung, Ausgabe 3035, 16.02.1990

[Der Kommentar wurde nach dem Besuch einer DDR-Delegation mit Hans Modrow an der Spitze in Bonn am 13./14.02.1990 geschrieben.]

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