Viele sehen das Damokles-Schwert über ihren Kopf nicht

Präsident des Arbeitslosenverbandes e. V. Dr. Klaus Grehn, zur Lage der Kurzarbeiter:

Das Heer der Kurzarbeiter zählt mehr als 1,7 Millionen. Wie beurteilen Sie deren Perspektive auf dem Arbeitsmarkt und die psychosoziale Situation der Kurzarbeiter.

Perspektivisch gesehen ist ihre Lage - was den Arbeitsplatz betrifft - bescheiden. Das ist übrigens das Dramatische an der Kurzarbeit überhaupt. Nicht, dass es so viel Kurzarbeiter gibt, ist das Bedenkliche, sondern dass die Chancen der Kurzarbeiter, wieder voll in Lohn und Brot zu kommen, gering sind. Es gibt ausreichend Anzeichen, dass ein sehr, sehr großer Teil nach der Kurzarbeit in die Arbeitslosigkeit entlassen wird. Vergessen Sie nicht, dass viele nur deshalb noch Kurzarbeiter sind, weil Tarifschutzabkommen bestehen. Das ist der Hintergrund für die Zahlen, die wir immer wieder benennen.

Bei der psychosozialen Situation sind Kurzarbeiter günstiger dran als Arbeitslose: Erstens ist die subjektive Befindlichkeit der Kurzarbeiter dadurch geprägt, dass viele davon ausgehen, sie werden wieder Lohn und Brot bekommen. Oftmals wissen sie nicht einmal, dass sie ihr Geld von der Arbeitslosenverwaltung erhalten. Zweitens haben sie noch einen Arbeitsvertrag in der Tasche.

Er ist eine moralische Stütze . . .

Mehr noch, man hat zuweilen den Eindruck, dass Kurzarbeiter das Damokles-Schwert über ihren Kopfe nicht bemerken oder nicht bemerken wollen. Viele freuen sich gar über die Kurzarbeit.

Wir kennen Beispiele, die uns erschüttern. Da kommen Bürger zu uns, die sagen: Gott sei Dank, nun werde ich endlich auch mal Kurzarbeiter. Nun kann ich an meiner Datsche bauen. Machen wir uns nichts vor, nicht wenige Kurzarbeitern jobben nebenbei - Zeitungen austragen oder bei Aldi Kästen ausladen. Wenn sie dann noch unter das Tarifschutzabkommen fallen und 90 Prozent von ihrem Nettolohn erhalten, leben sie gar nicht so schlecht.

Eine solche materielle Lage beeinflusst schon ihr Bewusstsein und ihre Befindlichkeit. Es ist aber ein zu kurzes Denken, glaube ich. Und ich finde es schlimm. Es gibt auch eine Reihe von Arbeitslosen, die eigentlich ganz zufrieden sind mit ihrem Los, weil sie nun Freizeit haben.

Mancher wird sich wundern, wenn er in einem oder anderthalb Jahren nach Arbeit fragt. Und der Unternehmer - selbst wenn Arbeit da ist - ihnen antwortet: Was denn, anderthalb Jahre aus dem Beruf, nein danke. Weil nämlich auch der andere nachfragen wird, der erst vorgestern arbeitslos geworden ist.

Da sind die Chancen desjenigen, der in der Zwischenzeit nicht aktiv war, sich nicht fortgebildet hat, wesentlich geringer. Auf diese Weise wird man schnell zum Langzeitarbeitslosen. Das ist das Problem, und das erkennen viele im Moment noch nicht. Ich glaube, dass wir auf dem Gebiet als Verband an Aufklärung sehr viel zu leisten haben.

Haben Sie einen Überblick, wie viel Umschulungs- bzw. Weiterbildungsangebote Kurzarbeitern zur Verfügung stehen?

Sie sind dürftig, weil viele Betriebe die Auffassung vertreten, sie seien nicht verpflichtet, während der Kurzarbeit Umschulung anzubieten; beispielsweise ihre betrieblichen Akademien oder Bildungseinrichtungen dafür zu nutzen, die Kurzarbeiter fortzubilden oder umzuschulen. Das wird ihnen ja bezahlt von der Arbeitsverwaltung.

Zweitens ist Umschulung derzeit noch ein sehr differenziertes Problem. Man muss ungefähr wissen, wohin man umschult. Ein Beispiel: Es gibt 60 000 arbeitslose Bauarbeiter. Wir alle wissen, im Bauwesen werden viele gebraucht. Aber ich kann heute niemanden bewegen, sich zum Bauarbeiter umschulen zu lassen, wenn er weiß, es gibt schon 60 000 arbeitslose Bauarbeiter. Das ist gegen das rationale Denken. Und insofern halte ich es in einem bestimmten Maße schon für notwendig, dass eine gewisse Perspektive angedacht wird.

Dann ist da noch das Ausmaß von Beschäftigungslosigkeit. Wenn man alle 2,4 Millionen in irgendeiner Weise von Arbeitslosigkeit Betroffenen umschulen wollte, das ist finanziell und materiell nicht machbar und ökonomisch unsinnig.

Ich halte es zum Beispiel für fragwürdig, wenn man jetzt Pädagogen zum Sozialfürsorger umschult. Weil ich davon ausgehe, dass hier in zwei oder drei Jahren diese Pädagogen wieder gebraucht werden. Dann können wir nicht anfangen, in fünf- oder siebenjähriger Ausbildung wieder qualifizierte Pädagogen heranzuziehen.

Zum Thema Beschäftigungsgesellschaften gibt es extreme Auffassungen. Einige möchten die halbe DDR in eine Beschäftigungsgesellschaft verwandeln, andere lehnen sie generell ab. Ihre Meinung dazu?

Ich bin der Auffassung, dass Beschäftigungsgesellschaften bei uns nur begrenzt geeignet sind, die Situation zu verändern. Sie sind mit Vorsicht zu betrachten, da von ihnen Wirkungen ausgehen könne die die soziale Situation für die übrigen Beschäftigten nicht besser gestalten. Das, was an Beschäftigungsgesellschaften im Saarland gelaufen ist, ist so nicht übertragbar, weil eine Beschäftigungsgesellschaft voraussetzt, dass ein gewisser Teil der Belegschaft anderweitig untergebracht wird. Und das fasst bei uns nicht. Wenn beispielsweise Beschäftigungsgesellschaften dem dienen, dass reguläre Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, dann haben sicherlich die Gewerkschaften etwas dagegen. Weil wir natürlich sagen, das A und 0 ist die Schaffung von ständigen Arbeitsplätzen. Nur das kann der Weg sein.

Alles andere sind Notlösungen, mehr nicht. Obwohl dieser Vorschlag aus der Not geboren, das muss man natürlich auch deutlich sagen, dem einzelnen vielleicht etwas bringt, was günstiger ist als Arbeitslosigkeit. Aber als Lösung des gesamtgesellschaftlichen Problems betrachte ich sie mit Skepsis, weil der Ruf danach zu sehr den Ruf nach der Schaffung fester Arbeitsplätze ersetzt.

Das Gespräch notierte
HANNELORE HÜBNER

Neues Deutschland, Fr. 16.11.1990

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