Berliner Autoren richten Appell an den Runden Tisch

Berlin (ND). Die Bezirksorganisation Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR wählte am Dienstag ihren neuen Vorstand. Auf dieser Tagung wurde folgende Willenserklärung angenommen:

Appell und Willenserklärung der Berliner Schriftsteller an die Vertreter des "Runden Tisches", an die Parteien der BRD und die Medien der beiden deutschen Staaten!

Obwohl jetzt in erster Linie das Volk der DDR und die Politiker aller Parteien und neuen Gruppierungen hierzulande gefragt sind, der demokratischen Revolution bei uns konkrete Ziele und Lösungswege zu weisen, möchten wir Schriftsteller keinesfalls versäumen, uns in dieser für das Schicksal von Millionen von Menschen in diesem Lande so ernsten Lage erneut zu Wort zu melden. Wir tun dies wohl mit einem gewissen moralischen Recht, weil viele von uns bei der geistigen Vorbereitung und Einleitung dieser Revolution nicht unerheblich mitgewirkt haben.

In Erwägung

des nicht abreißen wollenden Flüchtlingsstromes, der die DDR in ihrer wirtschaftlichen Existenz und damit auch Reformfähigkeit immer mehr schwächt und die BRD zunehmend sozial belastet.

in Erwägung

der sich immer starker destabilisierenden politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen wie moralischen Lage dieses Landes und auch der anderen sozialistischen Länder.

in Erwägung,

dass inzwischen bereits auch das auf dem Spiel steht, was trotz zentralistischer Willkürherrschaft von Generationen unendlich mühsam dem Alltag sozial abgerungen wurde, und nicht zuletzt in Erwägung der tiefen Existenzängste von Millionen von Menschen, vor allem der sozial Schwachen, der kleinen Sparer und Rentner, die sich große Sorgen um die künftige Existenzsicherung ihres Lebens machen und sich zum Teil von Chaos und Werteverfall bedroht fühlen, appellieren wir Schriftsteller in dieser außerordentlich labilen Situation an das Gewissen aller Beteiligten am "Runden Tisch" und darüber hinaus, an den Gemeinschaftssinn und die demokratische Vernunft aller:

Stärken Sie bitte, bei aller notwendigen Schärfe und Konsequenz der politischen Auseinandersetzungen, bei jedem Schritt, den Sie jetzt in der Öffentlichkeit tun, das Grundvertrauen der DDR-Bevölkerung in die politische Regierbarkeit dieses Landes! Notwendiger Meinungsstreit darf jetzt nicht aus kleinlichen, egoistischen und parteitaktischen Profilierungsgründen zum bloßen Selbstzweck verkommen. Dies schadet dem Ansehen unserer jungen Demokratie.

Aus der Krise kann deshalb nicht ein bloßes Gegeneinander, sondern ein kritisches Miteinander herausführen, aus dem keine politisch relevante Gruppierung ausgegrenzt werden darf. Einigen Sie sich deshalb so schnell wie möglich, im Vorfeld der Wahlen, auf eine Art überparteiliches, faires Wahlkampfabkommen mit gleichberechtigten Ausgangschancen für alle.

Der demokratische Minimalkonsens könnte auf folgenden Grundwerten basieren, die wir hiermit öffentlich zur Diskussion stellen:

1. Mitverantwortung für den weiterhin friedlichen Verlauf dieser Revolution. Vom Boden der DDR darf nie wieder innenpolitische Gewalt ausgehen, gegen wen auch immer!

2. Mitverantwortung für eine vertiefte antifaschistische Orientierung der DDR, politische Auseinandersetzung mit unserer schwierigen nationalen deutsch-deutschen Identität, mit Ausländerfeindlichkeit und mit der Unterdrückung von Andersdenkenden.

3. Mitverantwortung für ein Optimum an sozialer Sicherheit, in der sich Leistung wirklich endlich lohnt, aber die Risiken von neuer Armut und Arbeitslosigkeit so gering wie möglich gehalten werden.

4. Mitverantwortung für ein neues Wirtschaftssystem, das so viel wie möglich internationalen Markt und Privatinitiative zulässt, weil nur so auf Dauer eine bedarfsgerechte moderne Grundversorgung der Bevölkerung möglich ist. Dabei muss trotz allem das Primat einer möglichst sozial gerechten und ökologisch verträglichen Politik durch eine demokratisch legitimierte Rahmenplanung durchgesetzt werden, weil Wirtschaftswachstum in unserer gefährdeten Welt niemals mehr Selbstzweck sein kann!

5. Mitverantwortung für eine umfassende politische und soziale Demokratie, die auf strikter Gewaltenteilung und freien Wahlen basiert. Der erfolgten politischen Entmonopolisierumg muss jetzt die staatliche Entmonopolisierung folgen, weil wirkliche Demokratie nur so viel wert ist, wie sie an der Basis, im Alltag der Betriebe und Kommunen vom einzelnen in frei gewählten Räten erlebbar wird.

6. Mitverantwortung für eine föderative Einigung beider deutscher Staaten - im Rahmen einer europäischen Konföderation. Dabei kann zugleich die auf dem föderalen Grundprinzip beruhende relative politische, wirtschaftliche und kulturelle Eigenständigkeit beider deutscher Teilrepubliken, aufgrund ihrer jeweils verschiedenartigen Nachkriegsbiographien und regionalen Unterschiede, teilweise gewahrt bleiben, um als echte Bereicherung in den demokratischen Einigungsprozess beider deutscher Staaten einzugehen. Wirtschafts-, Finanz- und Abrüstungspolitik bilden dabei die Kernfragen des deutsch-deutschen Einigungsprozesses.

aus: Neues Deutschland, 45. Jahrgang, Ausgabe 20, 24.01.1990. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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