Runder Tisch
15. Sitzung
05.03.1990
Vorlage 15/7

Positionspapier der Arbeitsgruppe "Bildung, Erziehung, Jugend" des Runden Tisches

Politik muss von der Achtung vor der Würde jedes Menschen ausgehen.

D.h., es sind Werte und Haltungen zu bewahren und zu fördern, die die Gesellschaft diesem Ziel näher bringen. Als unveräußerliche Ausgangspunkte künftiger Politik betrachtet die Arbeitsgruppe „Bildung, Erziehung und Jugend" folgende Prinzipien:

1. Chancengleichheit für die Entwicklung jedes Menschen entsprechend seinen individuellen Voraussetzungen.

D.h., es sind entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen im Bereich Familien-, Sozial-, Kinder-, Jugend- und Bildungspolitik zu erhalten und zu schaffen.

Chancengleichheit verwirklicht sich über Chancengerechtigkeit, die in der Entwicklung und Förderung von Individualität, sozialer Integration und Gleichstellung jedes Menschen besteht.

2. Sicherung des Rechts jedes Menschen auf lebenslange Bildung.

D.h., es sind entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen zu erhalten bzw. zu schaffen, um jedem Menschen in jeder Phase seines Lebens den Zugang zu Bildungseinrichtungen zu ermöglichen.

3. Sicherung des Rechts auf soziale Geborgenheit und emotionale Zuwendung von Geburt an.

D.h., es sind Bedingungen in den Familien, Kindereinrichtungen und Heimen zu schaffen, die die gesunde Entwicklung der Kleinkinder zu bindungssicheren und emotional lebendigen Menschen ermöglichen. Dazu ist die individuelle Betreuung in kleinsten Gruppen durch die Begleitung sensibler und fester Bildungspersonen [während des mündlichen Vortrags ersetzt durch: Bindungspersonen] notwendig.

4. Achtung der Integrität/Unantastbarkeit der Persönlichkeit aller Kinder und Jugendlichen.

D.h., die zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechte der Kinder und Jugendlichen sind in der zukünftigen Verfassung des Landes festzuschreiben und zur ideellen Grundlage der Sozial-, Bildungs- und Jugendpolitik zu machen.

5. Bildungseinrichtungen dürfen nicht nur Institutionen der Wissensvermittlung oder Mittel zum Zweck der beruflichen Qualifikation sein. Sie sollen vielmehr auch dazu dienen, den Heranwachsenden zu helfen, sich in einer komplizierten, dem schnellen Wandel unterworfenen Gesellschaft zu orientierten und ein aktives und selbstbestimmtes Leben zu führen.

D.h. es sind gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die in Verwirklichung des Prinzips der Chancengleichheit einem solchen Anspruch gerecht werden. Dazu gehören der Erhalt einer kostenlosen Regelschule, eine kostenlose Berufsausbildung und die kostenlose Hochschulvorbereitung bei Zulassung unterschiedlicher Schultypen; der freie Zugang zu Hoch- und Fachschulen und Universitäten und die republikweite Gleichstellung von Bildungsabschlüssen der Länder.

6. Die Achtung vor der Würde eines jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Nationalität, sozialer und familiärer Herkunft, kultureller, politischer und religiöser Identität schließt grundsätzlich auch die individuellen gesundheitlichen, psychischen und intellektuellen Voraussetzungen ein.

D.h., es sind gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Ausgrenzung aufgrund von Anderssein und Andersdenken ausschließen und die uneingeschränkte Gewissens- und Glaubensfreiheit garantieren (z.B. Integration von Behinderten, interkulturelle Erziehung in allen Bildungsformen u.ä.).

7. Demokratische Mitbestimmung in allen Bereichen der Bildung und Erziehung für Lernende und deren gesetzliche Vertreterinnen sowie Lehrende bzw. deren Interessenvertretungen.

D.h., es sind gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Wahl und Mitbestimmung von Interessenvertretern (SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen, ErzieherInnen, Wissenschaftlerinnen) zur Bildungskultur des Landes werden.

8. Entwicklung vielfältiger Möglichkeiten der Freizeitgestaltung in den Territorien einschließlich der Öffnung der Bildungseinrichtungen für ihr unmittelbares soziales Umfeld, als Stätten der Begegnung der Generationen und von sozialen Gruppen.

D.h., es sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Einrichtungen auch zu Stätten der Freizeitgestaltung, Erholung, Entspannung und persönlichen Weiterbildung werden lassen. Dazu ist der Erhalt einer subventionierten sozialen Betreuung für alle Kinder, deren Eltern dies wünschen sowie die Ausbildung und der Einsatz von Freizeit- und Sozialpädagogen dringend geboten.

9. Sicherung des Rechts auf berufliche Bildung (Berufsausbildung, Fach-und Hochschulausbildung).

D.h., es sind gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die verstärkt auf Weiterbildungs- und Umschulungsangebote orientieren, um in Korrespondenz und Konkurrenz zu den klassischen Formen der beruflichen Bildung zu bestehen. Die eigene Motivation, sich zu bilden, könnte so im Recht auf lebenslange Bildung seine wirkliche Entsprechung finden. Dabei ist besonders das Recht auf Berufsbildung für Behinderte und vorzeitigte Schulabgänger zu gewährleisten.

Die Verwirklichung dieser Prinzipien erfordert die gründliche Analyse der bestehenden Bildungssituation und der Folgen der bisherigen Sozial-, Familien- und Bildungspolitik. Vor allem darauf aufbauend (und dann erst mit dem Blick auf internationale Entwicklungen) muss endlich eine tief-greifende Bildungsreform beginnen. Das neue Bildungsgesetz kann in diesem Sinne nur durch eine breite demokratische Aussprache aller Beteiligten entstehen. Dies ist denkbar über die Neugestaltung der Verfassungsgrundlage der Gesellschaft und über die Institutionalisierung eines demokratischen, überparteilichen Korrektivs zur offiziellen ministeriellen Bildungspolitik. Die Schaffung eines gesellschaftlichen Rates "Bildung" unter Einbeziehung der bisherigen Arbeitsgruppe "Bildung, Erziehung und Jugend" des Zentralen Runden Tisches, der offen ist für weitere Gruppen, könnte zum demokratischen Regulativ von Politik werden. Ein solches Gremium, das auf bisher gewonnene demokratische Erfahrungen baut, bereichert die gesamtdeutsche Demokratielandschaft.

AG Bildung, Erziehung und Jugend

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